Diese Website verwendet Cookies. Warum wir Cookies einsetzen und wie Sie diese deaktivieren können, erfahren Sie unter Datenschutz.
Zum Hauptinhalt springen

Wulf Gallert zu TOP 17 b): 60 Jahre Grundgesetz - 20 Jahre friedliche Revolution

Die Themenstellung unserer heutigen Aktuellen Debatte „60 Jahre Grundgesetz – 20 Jahre friedliche Revolution“ sowie die Begründung der CDU-Fraktion für diese Aktuelle Debatte machen ein Spektrum politischer Themenstellungen auf, das in dieser Form kaum zu packen wäre.

Und an dieser Stelle muss man schon auf das erste Problem aus unserer Sicht hinweisen, das den Titel der eingereichten Debatte betrifft. 60 Jahre Grundgesetz und 20 Jahre friedliche Revolution sind laut Begründung des vorliegenden Antrages untrennbare Ereignisse. Diese Formulierung könnte den Eindruck entstehen lassen, dass die friedliche Revolution 1989 bewusst mit dem Ziel durchgeführt wurde, den Wirkungsbereich des Grundgesetzes auf das Territorium der DDR zu übertragen.

Aber, und auch daran will ich hier ganz deutlich erinnern, das entspricht gleich in zweifacher Hinsicht nicht den Realitäten. Zum einen haben die Akteure der friedlichen Revolution im Sommer und Herbst 1989 das politische System der DDR nicht etwa mit der Forderung eines Anschlusses an die Bundesrepublik zu Fall gebracht, sondern mit der Forderung nach einer vollständigen politischen und moralischen Erneuerung dieses Staates. Dieser historische Prozess endete dann 1990 mit dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik, dies war aber nicht die Initialzündung für diesen Prozess.

Darüber hinaus sah das vor 60 Jahren entstandene Grundgesetz in seinem Artikel 146 selbst ein anderes Verfahren für den Fall der Vereinigung der beiden deutschen Staaten vor. Auch deshalb ist die Gültigkeit des Grundgesetzes seit 60 Jahren im Westteil dieser Bundesrepublik und die friedliche Revolution vor 20 Jahren im Osten.

Zwei unterschiedliche politische und historische Sachverhalte, die zwar in Beziehung zueinander stehen, aber sich nicht durch eine einfache Kausalität erklären lassen. Und so verwundert es auch nicht, dass vor kurzem der SPD-Vorsitzende, Franz Müntefering die Debatte um eine neue bundesdeutsche Verfassung eröffnen wollte, nicht etwa, weil er das Grundgesetz ablehnt, sondern weil er es in all seinen Bestandteilen, auch Artikel 146, ernst nimmt. Aber, und das sage ich auch, neue Verfassungen werden in einer bestimmten Zeit eines gesellschaftlichen Umbruches geboren, immer dann, wenn Politiker versucht haben, sie ohne eine solche gesellschaftliche Stimmung neue Verfassungen zu kreieren, sind sie daran gescheitert.

Ob die aktuelle ökonomische und soziale Krise auch Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen oder wie es die Bundespräsidentschaftskandidatin, Frau Schwan sagt, eine tief greifende kulturelle Krise ist, ist sicherlich strittig. Ich neige dieser Einschätzung zwar eher zu, ob daraus aber eine gesellschaftliche Stimmung entsteht, die den Artikel 146 des Grundgesetzes wieder aufleben lässt und uns eine neue Verfassung beschert, das wage ich eher zu bezweifeln.

Insofern ist es richtig und vernünftig, über 60 Jahre Grundgesetz an dieser Stelle zu diskutieren und auch über die 20 Jahre der Wirkung des Grundgesetzes im Osten Deutschlands, weil es uns mit ziemlicher Sicherheit auch den politischen Handlungsrahmen absteckt, in dem wir uns in den nächsten Jahrzehnten bewegen werden.

Gerade deshalb ist es wichtig, sich diesen Rahmen doch genauer anzuschauen und Grundgesetz eben nicht mit dem gesellschaftlichen Status quo zu verwechseln. Damit meine ich nicht die Argumentation, die wir hier vor kurzem auch schon hatten, die da sagt, dass das politische System optimal ist, nur die schlechten Charaktereigenschaften einzelne Probleme bereiten würden. Ich meine vielmehr den Versuch, die politische Realität in diesem Lande als die einzig Mögliche innerhalb des Rahmens des Grundgesetzes zu definieren. Dazu hatten wir in der letzten Landtagssitzung ein typisches Beispiel, als die Kollegen der FDP meinten, dass jeder, der den Neoliberalismus kritisiert, nicht auf dem Boden des Grundgesetzes stände. Die Kollegen der FDP haben es bis heute leider immer noch versäumt, mir die Stelle im Grundgesetz zu zeigen, die mir eine blinde Marktgläubigkeit abverlangt.

Wichtiger als die Analyse des Grundgesetztextes, ja sogar wichtiger als die historische Bewertung der Jahre 1989 und 1990, ist jedoch die Reflektion der Verfassungswirklichkeit in der Bevölkerung dieses Landes. Denn entscheidend für die gesellschaftliche Gestaltung und für die Umsetzung solcher Grundwerte wie Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit ist nicht der Verfassungstext und die Festlegung politischer Verfahrensabläufe, sondern das erlebbare Ergebnis von Politik, die entsprechende Bewertung durch die Betroffenen und die daraus resultierende Akzeptanz oder Nichtakzeptanz des politischen Systems.

Wie es um diese Situation bestellt ist, beweist uns nach wie vor ziemlich detailliert der Sachsen-Anhalt-Monitor des Jahres 2007. Und ich kann z. Z. keineswegs erkennen, dass die Akzeptanz der politischen Institutionen und ihrer Repräsentanten in Sachsen-Anhalt gewachsen wäre. Wenn wir heute 60 Jahre Grundgesetz und 20 Jahre friedliche Revolution würdigen wollen, müssen wir uns also die Frage stellen, warum der gewollte Verfassungspatriotismus nicht so recht aufkommen will, warum 20 Jahre nach den erkämpften freien Wahlen nur noch eine Minderheit davon in Sachsen-Anhalt Gebrauch macht.

Ich sage aber auch ausdrücklich, die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach und es gibt sehr wahrscheinlich unterschiedliche Antworten auf diese Frage.

Wir sind am Dienstagabend in diesem Haus bei einer Diskussion um die Wahlfälschung im Juni 1989 auch auf diese Frage gekommen, die der dortige Vertreter der deutschen Gesellschaft, ein Herr von Bismarck, mal so einfach mit der Antwort erledigte: „Dies läge an den schlechten Politikern.“ Nun bin ich weit davon entfernt, uns hier in Schutz zu nehmen, aber ein solches Diskussionsschema wird den wirklichen Problemen nicht gerecht, ja, ist in etwa so zutreffend wie die These, dass die aktuelle Krise durch die Gier von Bankmanagern verursacht worden ist.

Die wesentliche Legitimation des Grundgesetzes erwächst für die Menschen aus den Möglichkeiten der Teilhabe an dieser Gesellschaft immer dann, wenn sie den Eindruck haben, ohnmächtiges Objekt gesellschaftlicher Prozesse zu sein. Wenn Unsicherheit ihren weiteren Lebensweg bestimmt, wenden sie sich von demokratischen Grundsätzen ab und entwickeln Affinität zu autoritären Strukturen.

Das aber ist nun genau das Gegenteil des Credos der friedlichen Revolution von 1989. Hier ging es ja gerade darum, Bevormundung durch Selbstbestimmung zu ersetzen. Diese Phase war geprägt durch höchste politische Aktivität breiter Bevölkerungsgruppen. Wenn heute nach dem Sachsen-Anhalt-Monitor von 2007 aber große Gruppen von Menschen wieder das Gefühl haben, von den wirklichen gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen zu sein, so liegt die Vermutung nahe, dass die institutionellen Voraussetzungen des Grundgesetzes in vielerlei Hinsicht zwar notwendige Bedingungen für die Erfüllung der Ziele der friedlichen Revolution von 1989 sind, diese aber nicht ausreichen.

Deshalb bleibt für uns der Kampf um die Teilhabemöglichkeiten aller Menschen in dieser Gesellschaft sowohl beim materiellen Einkommen, beim Zugang zur Bildung, bei der Gesundheitsversorgung und bei der Alterssicherung und der Erhalt von Bürgerrechten die zentrale Zielstellung unserer Politik. Wir sind der Überzeugung, dass dies sehr wohl im institutionellen Rahmen des Grundgesetzes möglich ist, ja, diesen letztlich eine höhere gesellschaftliche Legitimation verschafft als bisher.

Interessanterweise wird aber z. Z. mehr über 40 Jahre DDR und deren Bewertung, statt über 60 Jahre Grundgesetz und 20 Jahre friedliche Revolution berichtet. Diese kommen zwar in dem Text der Aktuellen Debatte, welche die CDU eingereicht hat, nicht vor, trotzdem bestimmen sie auch heute wieder ganz maßgeblich die Diskussion. Wirklich verwunderlich ist das nicht, weil die individuellen Biografien im Osten Deutschlands, zumindest der Generation über 40, von der DDR oftmals stärker geprägt worden sind, als von dem hier seit 1990 geltendem Grundgesetz. Natürlich gibt es zwischen den 60 Jahren Grundgesetz und den 40 Jahren DDR eine Reihe von Wechselbeziehungen. Man kann heute mit Fug und Recht behaupten, dass beide deutsche Staaten vor 1989 stärker durch die Systemkonfrontation bestimmt waren, als sie sich beide zugestanden haben. Wir spüren das noch heute nicht selten, wenn die Argumentationen des Kalten Krieges als Erklärungsmuster für heutige gesellschaftliche Prozesse herhalten sollen.

Wir sind aber ausdrücklich der Meinung, dass diese Erklärungsmuster weder dafür ausreichen, eine historische Einordnung der beiden deutschen Staaten bis 1989 vorzunehmen, noch um heutige gesellschaftliche und politische Prozesse zu erklären.

Wir sind vor allem der Meinung, dass die Legitimation des Grundgesetzes nicht primär daraus abgeleitet werden darf, dass die DDR als das negative Kontrastprogramm benutzt, also auf ein erzieherisches Abschreckungsmittel reduziert wird. Dies geht aus folgenden Gründen nicht: Es teilt die beiden deutschen Staaten vor 1989 in Gut und Böse ein, und negiert, dass die gesellschaftliche Realität in der DDR sehr viele innere Differenzierungen und widersprüchliche Entwicklungen aufwies. Wenn beispielsweise vor kurzem der Bischof der Thüringischen Landeskirche einschätzte, dass die Kirche in der DDR im inneren demokratisch funktionierte, so kann man sicherlich darüber streiten, ob das so war. Nicht darüber streiten kann man, dass dies in einem wirklich totalitären Regime, wie Hanna Ahrend es beschrieben hat, schlechtweg unmöglich gewesen wäre. Und es vergisst auf der anderen Seite, dass auch in einem demokratisch strukturierten Staat Entscheidungen gefällt werden können, die ihrem Charakter her zutiefst undemokratisch sind und die Menschenwürde verletzen können.

Darüber hinaus gibt es aber noch ein mindestens genauso schwerwiegendes Problem mit dieser bipolaren Einteilung in Gut und Böse, in Rechts- und Unrechtsstaat, in Diktatur und Demokratie, die, wie Friedrich Schorlemmer es sagt, bezogen auf die DDR, selbst totalitäre Züge angenommen hat.

Auch da legt der Sachsen-Anhalt-Monitor von 2007 die Dinge erstaunlich offen. Dort kann man einen ziemlich beeindruckenden Zusammenhang erkennen, dass diejenigen, die heute objektiv in ihren Teilhabemöglichkeiten der Gesellschaft am stärksten beschränkt sind, die DDR nicht etwa als negative, sondern als positive Kontrastschablone benutzen. Ich habe damals zur Aussprache zu dieser Erhebung gesagt, dass das DDR-Bild im Jahre 2007 in Sachsen-Anhalt mit Sicherheit positiver war als Ende der 80er Jahre in der DDR.

Deswegen warne ich davor, eine Identifikation mit grundsätzlichen demokratischen Strukturen, die uns das Grundgesetz vorgibt, über eine monolithische Verurteilung der DDR herzustellen. Dies widerspricht der Lebenserfahrung vieler Menschen, die in der DDR gelebt haben. Dies wird immer den Eindruck erwecken, dass eine kritische Analyse der Verfassungsrealität von 60 Jahren Grundgesetz nicht gewollt ist.

Das, was wir wirklich brauchen, ist eine ehrliche Diskussion um die Verfassungsrealität von 60 Jahren Grundgesetz und um die Umsetzung der Ziele der friedlichen Revolution von 1989 und in diesem Zusammenhang brauchen wir auch eine Diskussion um individuelle Verantwortung für diese Verfassungsrealität vor und nach der Wende sowie den Versuch der gegenseitigen Akzeptanz unterschiedlicher Bewertungen. Nur dann wird es uns gelingen, den demokratischen Gehalt des Grundgesetzes und die Ziele der friedlichen Revolution von 1989 dauerhaft und verstärkt im gesellschaftlichen Bewusstsein zu verankern.