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Henriette Quade zu TOP 3: Aktuelle Debatte: Masseneinwanderung verhindern - konsequente Anwendung des Aufenthaltsgesetzes in Sachsen-Anhalt

Anrede,

Wieder haben wir es mit einem Antrag und einer aktuellen Debatte zu tun, die an der Realität im Land schlichtweg vorbei gehen.

Die AfD erweckt den Eindruck, wir hätten im Moment eine Masseneinwanderung nach Sachsen-Anhalt und nach Deutschland, die sich jetzt noch verschärfen würde und deswegen müsse man jetzt irgendwas machen. Wir alle haben diese Erzählung schon oft bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit gehört: weil alle deutschen Politiker außer der AfD und Erika Steinbach völlig verblendet sind und die Leute nach Deutschland einladen, machen sich Massen auf den Weg in unser schönes Sachsen-Anhalt, wo dann der Kulturkampf ausbricht, die deutschen in die Minderheit geraten und dann irgendwann kein Schweinefleisch mehr essen dürfen und bald aussterben werden. Das erzählt die Identitäre Bewegung, das erzählt die AfD, es wird dadurch nicht wahrer.

Seit geraumer Zeit geht die Zahl Asylsuchender, Geduldeter und Geflüchteter, die in Sachsen-Anhalt leben und die nach Sachsen-Anhalt kommen, kontinuierlich zurück. Aktuell leben 12 023 Asylsuchende, Geduldete und Menschen, die unter die Dublinverordnung fallen, in Sachsen-Anhalt. Im Jahr 2017 sind 2298 Menschen nach Sachsen-Anhalt gekommen. Tendenz nach wie vor sinkend. Bei 2,2 Millionen Einwohnern von einer Masseneinwanderung zu reden, entbehrt nun wirklich jeglicher Grundlage.

Mehr ist unter der Überschrift „Masseneinwanderung verhindern“ eigentlich nicht zu sagen. Eigentlich. Denn weltweit sind mehr Menschen denn je gezwungen zu fliehen. Sie sterben im Mittelmeer, sie werden verschleppt und vergewaltigt, sie verhungern, erfrieren verdursten, sie leben unter unmenschlichen Bedingungen, in willkürlich errichteten Haftlagern, sie werden all ihrer Rechte beraubt.

Das ist der Preis für die sinkenden Zuzugszahlen von Geflüchteten in Deutschland und in Mitteleuropa. Die Menschen sterben nicht, weil die deutsche Regierung sie lockt, sie machen sich nicht auf gefährliche Wege weil die naive unfähige Anteilnahme der bundesdeutschen Regierung, wie es im Text der AfD heißt, sie hierher holt. Sie nehmen nicht in Kauf, ihre Familie nicht nur zu verlassen, sondern vielleicht auch zu verlieren, weil sie darauf spekulieren von Seenotrettungsaktionen gerettet zu werden. Sie fliehen aus unterschiedlichen Gründen. Was sie eint ist, dass sie für sich keine Alternative dazu sehen, dass sie verzweifelt sind und dass sie auch dann fliehen werden, wenn das deutsche Asylrecht noch weiter ausgehöhlt wird.

Sie sterben weil es keine sicheren und legalen Fluchtwege gibt. Sie sterben, weil die Europäische Union nach wie vor keine gemeinsame Aufnahmepolitik für Geflüchtete will. Weil es keine europäische Asylpolitk gibt. Weil es keine ernsthafte Bekämpfung der Fluchtursachen gibt. Weil nach wie vor Italien und Griechenland mit der Aufgabe der Flüchtlingsaufnahme allein gelassen werden. Die Menschen leben in Elend, weil autoritäre nationalistische Regime wie Ungarn sie internieren und Ihnen Grundrechte absprechen. Weil alle alles tun, um sie fern zu halten, um Schikanen einzubauen und um Himmels Willen die Zahlen in Deutschland nicht wieder steigen zu lassen.

Alle? Nein. Nicht alle. Aber alle wesentlichen politischen Verantwortungsträger. Wer nicht wegschaut , das sind die Menschen, zumeist sehr junge Menschen übrigens, die Seenotrettungsmissionen ermöglichen. Sea Watch, Jugend rettet, Ärzte ohne Grenzen, Sea Eye und viele andere. Ihnen allen gebührt unser Dank für Ihre Arbeit. Und zugleich müssen wir alle beschämt sein, wenn wir an sie und die, die sie retten, denken.

Denn erstens wäre es die Aufgabe der EU, Menschen, die in Seenot sind, zu retten. Und zweitens müssen viele von Ihnen Ihre Arbeit aktuell einstellen, weil sie von Patrouillen der libyschen Küstenwache (finanziert und ausgebildet von der EU) beschossen werden, weil Ihnen Anlegeerlaubnisse verweigert werden, weil Ihre Arbeit erschwert wird und weil sie um ihre Sicherheit fürchten müssen. Weil die EU-Länder Druck machen und immer neue Kodexe unterschrieben sehen wollen, die Rettungsaktionen erschweren oder konterkarieren.

Es ist verheerend, dass Parteien, die die christlichen Werte für sich in Anspruch nehmen, all das nicht nur hinnehmen, sondern forcieren. In Italien sind 2017 schon mehr als 85.000 Flüchtlinge angekommen. Die Regierung bittet um Europas Solidarität: Die Antwort: Brüssel schickt Geld nach Libyen vorgeblich für Aktionen gegen Schlepper, de facto aber werden eben die Seenotretter als Schlepper behandelt und beschossen, Österreich schließt die Grenze, Frankreich und Spanien schotten sich ab. Deutschland freut sich über zurückgehende Zuzugszahlen. Maltas Premierminister erklärte kürzlich vor dem Europäischen Parlament: „Wir müssten uns alle schämen für das, was wir gemacht haben. Wir haben versagt.“

Recht hat er und es wird Zeit, dass die EU endlich eine neue gemeinsame Flüchtlingspolitik organisiert, dass humanitäre Verantwortung wahrgenom-men wird und einheitliche rechtskonforme Asylverfahren garantiert werden können. Es wird Zeit, dass europäische Werte endlich wieder handlungsleitend für Politik werden und Solidarität im Mittelpunkt steht.

Dazu würde gehören, dass die europäischen Länder Flüchtlinge aus Ländern an der EU-Außengrenze aufnehmen, dass Zwangsüberstellungen im Rahmen des Dublin-Verfahrens beendet werden und die Dublinverordnungen abgeschafft werden, dass legale und sichere Fluchtwege geschaffen werden, dass endlich damit aufgehört wird, Länder wie Afghanistan pauschal als sicher zu definieren und dass der Kampf gegen Fluchtursachen endlich von der Frage ‚Wovor fliehen diese Menschen‘ statt ‚Wie halten wir sie möglichst weit von uns weg‘ geleitet wird.

Und da wird es dann natürlich knifflig. Denn das steht wirtschaftlichen Inte-ressen eben im Weg: Auf dem G20-Gipfel wurde eine »G20-Afrika-Partnerschaft« verkündet, ohne Vertreterinnen der afrikanischen Staaten am Tisch gehabt zu haben. So ist auch das Ergebnis. Statt die Ausplünderung des afrikanischen Kontinents zu beenden, werden Investitionen für Konzerne erleichtert. Was der Bundesminister für Entwicklungszusammenarbeit »Marshall-Plan« nennt, ist tatsächlich ein Markt-Öffnungsprogramm. Statt eine Wirtschaft aufzubauen, in der sich die Menschen vor Ort eine sichere Zukunftsperspektive aufbauen können, geht es darum, Konzernen den Zugang zu Ressourcen und Kunden zu ermöglichen. Die Infrastruktur der afrikanischen Staaten soll als Anlagesphäre für Finanzinvestoren aus Europa herhalten. Die zahlreichen Schutzzölle der EU gegen Produkte aus Afrika dagegen werden nicht angetastet.

Genauso wenig gibt es Maßnahmen gegen Ressourcenausbeutung, gegen Spekulation mit Nahrungsmitteln oder etwa gegen die Folgen des Klimawandels. Das ist keine Entwicklungshilfe und das beseitigt auch keine Fluchtursachen, das ist ein Missbrauch von Entwicklungspolitik zur Durchsetzung geostrategischer, wirtschaftlicher, sicherheits- und migrationspolitischer Interessen.

Eine funktionierende Basisinfrastruktur im Gesundheits-, Bildungs- und Er-nährungsbereich, Arbeit und ein Einkommen, die ein Leben in Würde ermöglichen, Sicherheit vor Krieg und Vertreibung - das wäre notwendig, damit weniger Menschen zur Flucht gezwungen sind - auch dafür ist ein grundlegender Politikwechsel mehr als nötig.

Die AfD verknüpft folgerichtig - denn es geht ja nicht um Menschen, sondern nur darum, dass sie nicht hierherkommen - die Aktuelle Debatte zur Masseneinwanderung mit der Forderung nach mehr Abschiebung. Politisch wenig überraschend sollen alle, die einen ablehnenden Bescheid bekommen haben, in Haft genommen werden können und auch tatsächlich inhaftiert werden. Das heißt alle, die noch im Rechtsstreit sind, die Aufgrund der hohen Fehlentscheidungsquote durch das BAMF berechtigte Hoffnung auf Schutz durch eine Gerichtsentscheidung haben, alle, die ja nicht wegen des Unwillens der Deutschen Regierung, sondern wegen tatsächlich bestehender Abschiebungshindernisse nicht abgeschoben werden können, sollen präventiv in Haft.

Unter dem Druck der Bundesregierung, möglichst viele Verfahren zügig zu erledigen und so rechtzeitig zur Bundestagswahl vermeintliche Erfolge zu vermelden, werden Anhörungen im Asylverfahren häufig nur noch oberflächlich durchgeführt und in großer Zahl fehlerhafte Entscheidungen produziert. Jahrelang wurde beim BAMF Personal abgebaut, sodass bereits vor dem Jahr 2015 hunderttausende Asylanträge nicht bearbeitet waren. Seitdem die Bundesregierung den Abschiebdruck erhöhte, werden vermehrt unzureichend ausgebildete Anhörer*innen und Dolmetscher*innen beschäftigt, individuelle Fluchtgründe werden in den beschleunigten Verfahren häufig nicht aufgeklärt oder schlicht ignoriert.

Das sind die Gründe für unbearbeitete Verfahren, das sind die Gründe dafür, dass Gerichte die Entscheidungen des BAMF regelmäßig und zunehmend kippen, das sind die Gründe für Verzögerungen und Überlastungen der Gerichte, die Asylverfahren entscheiden. Hier fordert die AfD Präventivhaft um „rechtsstaatliche Verhältnisse wiederherzustellen“. In diesem Zusammenhang den Begriff rechtsstaatlich zu gebrauchen, ist blanker Hohn. Rechtsstaatlich heißt nicht ein rechter Staat, sondern ein Staat, in dem der Einzelne seine Rechte auch gegenüber einem Staat einfordern kann.

Rechtsstaatlich wäre, Kettenduldungen endlich aufzulösen und den Men-schen die zum Teil seit Jahrzehnten hier leben ein dauerhaftes Bleiberecht zu geben, rechtsstaatlich wäre, nicht länger auf Partnerländer wie Libyen zur »Migrationskontrolle« zu setzen, in dem es laut Auswärtigem Amt zu »allerschwersten, systematischen Menschenrechtsverletzungen« kommt. Rechtsstaatlich wäre, Menschen, die hier um Asyl bitten, eine faire und offene Prüfung ihres Falles zu garantieren und zwar hier und überall sonst in der EU. Rechtsstaatlich wäre es, den schmutzigen Deal mit Diktator Erdogan endlich zu beenden.

Mir fiele sehr vieles ein, was rechtsstaatlich wäre, eine Erweiterung der Möglichkeiten für eine Inhaftierung ohne, dass jemand eine Straftat begangen hat, ist es ganz sicher nicht. Pro Asyl fasst, wie ich finde treffend, zusammen:

„Die EU – ein Bund aus 28 Staaten, mit insgesamt 510 Millionen Einwohnern und einem Bruttoinlandsprodukt von rund 15 Billionen Euro – ist 2015 nicht wegen einer Million Schutzsuchender in die so genannte »Flüchtlingskrise« geraten – sondern aufgrund der Fliehkräfte immer weiter um sich greifender nationalistischer und rassistischer Tendenzen. Rassismus und Populismus sind verantwortlich für die aktuelle »Flüchtlingskrise« der EU. Nicht die Flüchtlinge.“