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Henriette Quade zu TOP 16: Rechte Gewalt sichtbar machen, Gerechtigkeit für Opfer und Angehörige ermöglichen

Rechte Gewalttaten gehören in Deutschland und in Sachsen-Anhalt, und das zeigt allein der Blick auf die Ereignisse der letzten Woche in Merseburg, leider zum Alltag. Nahezu jeden Tag ereignen sich Angriffe, Beleidigungen, Übergriffe und oftmals brutale, ja sogar tödliche Attacken. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Hass auf Ausländer sind besonders häufig leitende Tatmotive. Für die Betroffenen rechter Gewalt sind diese Taten lebensprägende Ereignisse mit oftmals lebenslangen physischen und psychischen Folgen, die sich durch nichts ungeschehen machen lassen.

Umso wichtiger ist die Frage, wie Staat, Behörden und Politik und die Zivilgesellschaft  mit dieser Situation und mit diesen Menschen umgehen, welche Erfahrungen die Betroffenen im Umgang mit staatlichen Stellen machen und ob und wie diese Gewalttaten und auch sonstige Rechte Straftaten geahndet werden.

Öffentlich bekannt gewordene Übergriffe sind dabei jedoch nur die Spitze des Eisbergs, denn zum Einen bleibt eine hohe Zahl rechter Angriffe im Verborgenen, die Beratungsstellen müssen deutlich mehr Betroffene und Angriffe feststellen, als es die amtlichen Statistiken anzeigen.

Vor allem aber ist Gewalt untrennbar mit neonazistischer und rechter Ideologie und ihren Versatzstücken verknüpft und immanenter Bestandteil eines rechtsextremen Welt- und Menschenbildes. Sich dies zu vergegenwärtigen ist notwendig, um den Hintergrund des hier zur Beratung stehenden Antrages zu verstehen und um den mit ihm verbunden Aufwand abwägen zu können.

Ja, er ist enorm. Er ist aber notwendig und er ist mehr als gerechtfertigt. Eine Konsequenz aus den schrecklichen Verbrechen des NSU und der Arbeit der Untersuchungsausschüsse ist die erneute Überprüfung von Tötungsdelikten auf ihren möglichen neonazistischen oder rechten Hintergrund. Dies ist ein richtiger und ein notwendiger Schritt, vor allem ist er aber ebenso überfällig wie nicht ausreichend.
Vertreter_innen von Opferberatungsstellen und Fachträger der Bildungsarbeit gegen Neonazismus fordern genau das seit vielen Jahren ein. Opfer rechter und neonazistischer Gewalt brauchen professionelle Hilfe und Beratung, sie brauchen aber auch und vor allem gesellschaftliche Solidarität und  die offizielle Anerkennung als Opfer rechter Gewalt.
Gegenwärtig werden in Sachsen-Anhalt mehrere Prozesse nach rechten Überfällen geführt.

Einer der Beschuldigten im Prozess um den lebensbedrohlichen Angriff auf einen türkischstämmigen Imbissbetreiber in Bernburg ist der Haupttäter des widerwärtigen Angriffs auf den 12 Jährigen afrodeutschen Kevin in Pömmelte im Jahr 2006, der über Stunden gefoltert wurde. Auch andere Angeklagte sind bereits mit ähnlichen Taten Polizei- und Gerichtsbekannt.  Trotz dieser einschlägiger Vorbelastung und Vorbestrafung der Täter und trotz der Zeugenaussagen über rassistische Parolen und Beleidigungen sieht die Staatsanwaltschaft allerdings keine rassistisches oder rechtes Tatmotiv, weil es sich um einen "unpolitischen Junggesellenabschied" gehandelt haben soll und zudem das erste Opfer des lebensbedrohlichen Angriffs eine Deutsche war.

In einem anderen Fall der bundesweit Aufsehen erregte, wurde ein ebenfalls türkischstämmiger Imbissbetreiber und seine Freundin in Mücheln attackiert, verletzt, beleidigt und mit Bezügen auf den NSU bedroht. Die Polizei nahm den Notruf zuerst nicht ernst, machte bei dem Opfer zunächst einen Alkoholtest statt ihn medizinisch zu versorgen, ignorierte Schnittwunden am Kopf des Opfers und schloss dann vor Ort einen rechten Tathintergrund aus. Aus Mangel an Beweisen wurden die Beschuldigten freigesprochen. Für die Opfer und ihre Angehörigen muss das ein Hohn sein.

Nach dem Überfall auf eine syrische Familie auf der Eisleber Wiese im Jahr 2012 wurden die Opfer nicht rechtsmedizinisch untersucht und ebenfalls lange keine rassistische Tatmotivation gesehen. Mit dem nun ergangenen Urteil äußerte auch das Gericht Kritik an der Ermittlungsarbeit der Polizei.

Wir finden, bei dem jetzt angekündigten 'Zusammensetzen' von Innenminister und Justizministerin kann es nicht bleiben. Gerade vor dem Hintergrund der geschilderten Fälle wird deutlich, wie notwendig und überfällig eine ernsthafte und kritische Überprüfung und gegebenenfalls Neubewertung der Fälle und die Hinterfragung und Überarbeitung der zu Grunde gelegten Kriterien der behördliche Einstufung ist. Denn wenn die Opfer rechter Gewalt und ihre Angehörigen auch noch um ihre Anerkennung kämpfen müssen, widerfährt ihnen erneutes Unrecht, wird ihnen Solidarität verweigert, wird die wirkliche Dimension rechter Gewalt nicht erkannt. Mit Blick auf die Todesopfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt belegt ein weiteres Beispiel aus dem Untersuchungsbericht der Innenministeriums und des Justizministeriums, die Notwendigkeit der Überprüfung des konkreten Falls und vor allem die Defizite des behördlichen Erfassungssystems:

Ein seit 1989 in Halberstadt aktiver Neonazi, der zum Tatzeitpunkt eine größere Anzahl neonazistischer Tonträger besaß, gerät wegen Abspielens neonazistischer Musik und »Sieg Heil«-Rufe in Streit mit seinem Nachbarn Helmut Sackers und tötet ihn daraufhin mit mehreren Messerstichen. Obwohl sich der Streit »eindeutig wegen des Abspielens des Horst-Wessel-Liedes entwickelt hat«, kann die Tat dennoch nicht als neonazistisch eingestuft werden, da nicht eindeutig belegbar scheint, »dass ein Kausalzusammenhang zwischen der rechtswidrigen Tat und der politischen Orientierung des Täters besteht.« Weil »das einschlägige PMK-Bewertungssystem für die Beurteilung der Frage, ob eine Tat kausal auf einen politischen Beweggrund zurückzuführen ist, aber auch zwingend das Vorliegen eines strafrechtlich vorwerfbaren Verhaltens voraussetzt, ist dieser Fall statistisch nicht zu bewerten.«

An diesem Beispiel wird deutlich, dass das zugrundeliegende Meldesys¬tem zur Erfassung der Politisch Motivierten Kriminalität es nicht vermag, Aussagen über das tatsächliche Ausmaß rechter Ideologie und Gewalt zu treffen bzw. diese darzustellen. Die amtliche Statistik bleibt hier in ihren eigenen Kriterien gefangen und beraubt sich damit selbst ihrer Aussagekraft.

Genauso wichtig wie die Erfassung, ist die Frage des polizeilichen und behördlichen Umgangs mit den Betroffenen. Und um es deutlich zu sagen: Wo Menschen arbeiten passieren Fehler. Das gilt nicht nur für die Polizei und nicht nur für den Phänomenbereich Rechtsextremismus. Dass es beispielsweise Probleme im Bereich der Rechtsmedizinischen Untersuchung und Begutachtung gibt, zeigt nicht nur der Fall über den wir gestern in der Fragestunde sprachen, sondern im Übrigen auch eine Kleine Anfrage meiner Kollegin Eva von Angern.  

Fehler, Pannen und Defizite weisen also über den Bereich des Umgangs mit rechter Gewalt hinaus und nicht nur die beschriebenen Fälle zeigen: Hier von Einzelfällen zu sprechen ignoriert die wiederkehrenden Muster, die auf ein systemisches Problem hindeuten.
Genau hier setzt der vorliegende Antrag an, für den ich den Kollegen der Grünen danken will. Meine Fraktion teilt die Intention ausdrücklich und mit unserem Änderungsantrag wollen wir den Antrag um einen aus unserer Sicht wichtigen Punkt erweitern.

Der jüngste Bericht der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz über die Bundesrepublik wurde in dieser Woche veröffentlicht und kommt trotz der expliziten Würdigung einiger Fortschritte und Initiativen zu einem verheerenden Ergebnis. Ich will etwas umfangreicher aus ihm zitieren, weil ich finde, dass die Problembeschreibung an Klarheit kaum zu überbieten ist: „Trotz der Empfehlung von ECRI hat Deutschland bisher noch nicht das Protokoll Nr. 12 zur Europäischen Menschenrechtskonvention ratifiziert. 2012 hat es der Bundesrat in einem weiteren Versuch versäumt, das rassistische Motiv als strafverschärfenden Umstand in das Strafgesetz aufzunehmen. Im Bereich Aufstachelung zum Hass gibt es einen erheblichen Grad von Straffreiheit. Es fehlt den Opfern von rassistischen Taten oder von Rassendiskriminierung an Unterstützung seitens der staatlichen Stellen, z. B. aufgrund von Racial Profiling.(...) Die hohe „Untererfassung" von Straftaten, die mit Rassismus und Homo-/Transphobie verbunden sind, spiegelt ein mangelndes Vertrauen seitens der schutzbedürftigen Gruppen im Hinblick auf die Wirksamkeit von Strafverfahren wider, die von der Polizei und der Staatsanwaltschaft eingeleitet werden. Diese Ineffektivität wurde durch die Versäumnisse bei den Ermittlungen über die Morde unterstrichen, die vom Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) begangen wurden. Ein rassistisches Motiv wird nur in einer verschwindend geringen Zahl von Urteilen angeführt. Der Begriff Rassismus wird in Deutschland häufig zu eng ausgelegt und mit organisierten Gruppen verbunden. Der rassistische und besonders der fremdenfeindliche Charakter in Teilen der öffentlichen Debatte wird immer noch nicht ausreichend verdeutlicht."

Der Bericht spricht in Folge seiner umfangreichen Untersuchung eine Reihe von Empfehlungen in verschiedenen Politikbereichen aus und fordert alle politischen Ebenen zum Handeln auf. Es werden zudem konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Integrationsarbeit und zum Schutz, beispielsweise von LSBTI-Personen vor Diskriminierung gemacht. Gerade auch mit Blick auf die Umsetzung des LSBTI-Aktionsplanes liegt der Handlungsbedarf hier in Sachsen-Anhalt auf der Hand. Insofern hat der Bericht der Kommission weit mehr als nur einen Appellcharakter- die Aufnahme in die parlamentarische Debatte und die Umsetzung seiner Empfehlungen wäre eine echte Bereicherung für die Politik Sachsen-Anhalts und ein wichtiger Schritt, um Rassismus und Neonazismus nicht nur adäquat zu erfassen, sondern auch effektiv entgegenzuwirken.