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Eva von Angern zu TOP 23: Entwurf eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes des Landes Sachsen-Anhalt

Anrede,

Ich durfte am letzten Mittwoch anlässlich des 25. Jubiläums unseres hiesigen Landesverfassungsgerichtes in Dessau dankenswerter einer Festansprache von Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof, Vizepräsident und Vorsitzender des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, beiwohnen. Er hat viele kluge, eindringliche Sätze gesagt, doch einige haben mich persönlich im Besonderen auf die heutige Debatte vorbereitet:

Er sagte unter anderem: „Die Professionalität von Abgeordneten führe zu einer gewissen Vernunft des Parlaments. So neige man daher nicht zu schnellen, hysterischen Gesetzen in Reaktion auf einen Einzelfall. Man mache sich politische Entscheidungen nicht leicht und denkt über den Tag hinaus.“ Mit diesen Gedanken möchte ich ausdrücklich in die heutige Debatte einsteigen.

Anrede,

Kernfrage unseres und in den letzten Jahren immer wieder gestellten Anliegens ist doch die: Hilft oder schadet Jugendarrest Schulschwänzern, nützt Jugendarrest Schulverweigern oder bewirkt er eher das Gegenteil?Sollen unbelehrbare Schulschwänzer in letzter Konsequenz mehrere Tage hinter Gittern sitzen? Was bringt das?

Bildungsminister Marco Tullner sagte im März 2018 gegenüber der Deutschen Presse-Agentur: „Wir brauchen diese Ultima Ratio, wenn wir das Thema der Schulverweigerung nicht auf die leichte Schulter nehmen wollen. Am Vorrang pädagogischer Mittel im Kampf gegen Schulverweigerer bestehen keine Zweifel. Wir werden weiter daran arbeiten, die Schulverweigerung zu bekämpfen. Der Jugendarrest ist und bleibt dabei ein Instrument.“

„Wir halten das für wenig produktiv“, entgegnete hingegen an selber Stelle die bildungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Angela Kolb-Janssen. Sie stützt sich in ihrer Argumentation auf einen Passus im Koalitionsvertrag, in dem es heißt „Schulschwänzer gehören in die Schule, nicht in den Jugendarrest“. Aber derzeitig scheint das Papier des Koalitionsvertrages noch sehr geduldig zu sein.

Anrede,

Gestatten Sie mir an dieser Stelle einen parlamentarischen Rückblick: Es war der 14.03.2012 als die Drucksache 6/918 unter dem Titel „Jugendarrest in Sachsen-Anhalt – modern und zukunftsfähig gestalten“ das Licht der Welt - genauer gesagt: des Parlaments - erblickte. Ich zitiere aus Ziffer 10 der Drucksache: „Der Landtag von Sachsen-Anhalt fordert die Landesregierung auf, künftig Schulpflichtverstöße (Schulverweigerungen) nicht mehr als Ordnungswidrigkeit mit der letztendlich möglichen Sanktion der Verhängung von Beugearrest zu ahnden. Demzufolge ist das Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt in § 84 Abs.1 durch die ersatzlose Streichung der Ziffer 1 zu ändern.“

In der Begründung stellte meine Fraktion ausdrücklich klar, dass „aus verschiedenen Gründen kaum eine förderliche Wirkung auf das Bildungsverhalten im Rahmen der Schulpflicht“ durch diese Sanktion entfaltet wird. Einige von Ihnen werden sich daran erinnern, dass dieser Antrag damals in die zuständigen Ausschüsse - federführend in den Ausschuss für Recht, Verfassung und Gleichstellung - überwiesen wurde. Dieser Ausschuss beschloss einstimmig, am 7. September 2012 eine öffentliche Anhörung zum Anliegen des Antrages durchzuführen.

Anrede,

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um an dieser Stelle einige Zitate aus der Anhörung vorzutragen und Sie damit alle auf denselben Erkenntnisstand zu bringen.

Prof. Dr. Walkenhorst, Uni Köln: „Wir müssen diesen jungen Menschen einfach für unser fragiles Projekt Demokratie gewinnen, und das ist nicht nur mit Grenzsetzung möglich. Wir müssen ihnen immer wieder die Sinnhaftigkeit von Recht, Gesetz und allem, was damit zu tun hat, auseinandersetzen. Das ist ein mühsames Geschäft, aber es bleibt uns nichts anderes übrig, sonst glauben sie uns nicht.“

Klaus Breymann, OStA i.R, DVJJ: „Der Arrest verfolgt drei Strafzwecke: Abschreckung, Besinnung und Erziehung. Alle drei Aspekte werden unter der Bedingung von ständiger Fluktuation bzw. von einem völlig unkalkulierbaren Sammelsurium von Problemlagen von Jugendlichen gar nicht zu leisten sein. (…) Der BGH hat im 32. Band resümiert, der Arrest diene letztendlich nur der Einübung eines Formalgehorsams.“

FORMALGEHORSAM… Ist es das, was wir wirklich wollen? Ich sage ganz klar: NEIN! Wir wollen junge Menschen, die im Zuge des Erwachsenwerdens lernen, was Recht und was Unrecht ist und die lernen, für sich und andere Manschen Verantwortung zu übernehmen. Das ist es, was moderne Pädagogik des 21. Jahrhunderts ausmacht. Die Zeit der Karzer ist endgültig vorbei!

Und ich war entsetzt über die Wortwahl des Sprechers des Amtsgerichts Halle, ich zitiere: „Unwilligkeit muss gebeugt werden. Das verlange das Gesetz und auch die Bevölkerung von den Richtern.“

Da kann ich nur sagen: Da hat jemand den Grundsatz des Jugendstrafrechts absolut nicht verstanden und ich muss davon ausgehen, dass dieser Satz nicht spontan erfolgte, sondern wohl überlegt war. Und da hat jemand nicht verstanden, dass Rechtsprechung nicht das ist, was das Volke ist. Das bedeutet die Urteilsüberschrift: „Im Namen des Volkes!“ ausdrücklich nicht. Und im Übrigens: das Gesetz können wir zum Glück ändern.

Anrede,

jetzt aber weiter mit Beiträgen aus der bereits angeführten Anhörung:

Kerstin Reibold, Jugendgerichtshilfe Magdeburg: „Die Unterbringung von Schulverweiger*innen ohne delinquenten Hintergrund gemeinsam mit Jugendlichen und Heranwachsenden, bei den teilweise auch schon sogenannte schädliche Neigungen festgestellt wurde, ist aus Sicht unserer pädagogischen Arbeit völlig indiskutabel.“

Auch die Vertreterin der Jugendarrestanstalt Halle, Frau Leske, bekräftigte diesen Ansatz und sagte deutlich, dass sie keine Jugendlichen bei sich haben will, gegen die wegen Schulbummelei Arrest verhängt worden ist.

Noch absurder wird das Ganze, wenn - wie wir alle wissen - der Beugearrest erst vollzogen wird, wenn die Schulpflicht schon nicht mehr besteht. Diese Tatsache führt weder zum eigentlichen Anliegen: der Wahrnahme der Schulpflicht, noch entfaltet sie irgendeine erzieherische Wirkung.

Für die, die damals noch nicht im Parlament waren, möchte ich auch die mediale Reflektion der damaligen Anhörung darstellen bzw. für die anderen in Erinnerung bringen:

Am 11.09.2012 titelte die Volksstimme: „Jugendarrest für Schulschwänzer wird abgeschafft“

Justizministerin Angela Kolb (SPD) sagte der Volksstimme: „Schulschwänzer gehören nicht in den Arrest. Einsperren ist die falsche Lösung. Stattdessen brauchen wir eine stärkere Vernetzung von Justiz, Schule, Elternhaus und Jugendhilfe."

Kultusminister Stephan Dorgerloh (SPD) verfolgt dieselbe Strategie. „Ich halte einen Arrest - noch dazu, wenn er so viel später erfolgt - für pädagogisch fragwürdig und erzieherisch wenig zielführend", sagte er der Volksstimme. Dorgerloh erklärte weiter: „Ich sehe bei der Verletzung der Schulpflicht stärker pädagogische Mittel wie das produktive Lernen oder Reintegrationsklassen im Mittelpunkt. Vielfach liegen die Probleme der Schulschwänzer im häuslichen oder persönlichen Umfeld. Deshalb müssen frühzeitig Elternhäuser und Jugendhilfe mit an den Tisch, um das Problem zu lösen."

Die Regierungsfraktionen CDU und SPD sind sich mit der Opposition von Linken und Grünen einig darin, den Arrest für Schulschwänzer abzuschaffen. "Es gibt Handlungsbedarf", sagte Siegfried Borgwardt (CDU).

Ronald Brachmann (SPD) betonte: „Rechts- und Bildungspolitiker müssen jetzt an einen Tisch, um schnellstmöglich Lösungen zu finden."

Ich weiß nicht, an welchem Tisch man zusammenkam. Es waren wohl getrennte Tische. Denn gelöst wurde das Problem nicht.

Ich zitiere weiter aus der Mitteldeutschen Zeitung vom 20.11.2015: „Aus diesem Grund hatten sich auch die Rechtspolitiker aller Fraktionen dafür ausgesprochen, den Arrest für Schulschwänzer abzuschaffen, da er als pädagogisch sinnlose Maßnahmen angesehen wird. Eine nötige Änderung des Schulgesetzes scheiterte aber am Widerstand der Bildungspolitiker.“

Bedauerlicherweise haben damals trotz Einladung und Beteiligung des Bildungsausschusses keine Mitglieder des Bildungsausschusses - ausgenommen Frau Hohmann - an dieser Anhörung teilgenommen und scheinbar auch nicht im Nachhinein das Protokoll der Anhörung gelesen.

Ich erinnere mich ebenfalls, dass der Verband der Schulleiter*innen damals nicht zur Anhörung kam und lediglich eine Mail schrieb, in der stand, dass sie den vorgenannten Antrag kategorisch ablehnten.Nun ja, Meinungsaustausch nach meinem Verständnis sieht wahrlich anders aus…, aber das möchte ich nicht weiter kommentieren, denn es spricht für sich.

Anrede,

mir ist natürlich bekannt, dass es Lehrer*innen gibt, die bei Schulabstinenz gern als letztes Mittel mit dem Gefängnis drohen wollen.Ich kann auch das Gefühl der Ohnmacht in Erziehungsfragen verstehen. Doch staatliche Gewalt und Kriminalisierung führen niemals dazu, dass Schüler*innen überhaupt und vielleicht auch noch gern in die Schule gehen und sich aus eigenem Antrieb und Interesse neues Wissen aneignen wollen. Ich erwarte vom Staat, ich erwarte von der Gesellschaft, dass andere Lösungen gefunden werden, um den jungen Menschen in einer schwierigen Phase tatsächlich zu helfen und nicht weiter abzuschrecken.

Junge Menschen sollen nicht das Bild des „starken Staates“ verinnerlichen. Junge Menschen sollen lernen, dass sie Verantwortung für sich tragen und in Problemsituationen Hilfsangebote vorfinden und wahrnehmen können.

Und um das bisher Gesagte noch einmal zu unterstützen, zitiere ich an dieser Stelle den Sozialwissenschaftler und Sonderpädagogen Christoph Müller mit seinem Buch „Haftschaden“: „Jugendarreste sind Ausdruck einer 'Harte-Linie-Politik'. Dahinter steckt weniger ein pädagogischer Ansatz, als eine gesellschaftliche Funktion. Jugendliche, die man in den Arrest schicke, reagierten auf diese Härte, indem sie sich zunehmend selber als hart begreifen. Es gibt eine hohe Rückfallquote. Wer im Arrest landet, ist stigmatisiert. Er gilt als jemand, der in der Gesellschaft gescheitert ist. Jugendliche fügten sich in diese Rolle ein. Sie empfinden einen Aufenthalt im Arrest als Zäsur. Man bringt sie dazu, sich selbst als gescheitert zu betrachten."


Anrede,

Es gab in den letzten Jahren noch zwei weitere Versuche meiner Fraktion, den sich gegen Schüle*rinnen richtenden OWI-Paragrafen aus dem Schulgesetz zu streichen: Gleichzeitig mit Vorlage eines eigenen Gesetzentwurfes zum Jugendarrestvollzug - dessen Vorlage seitens der Koalition seit vielen Jahren versprochen und bis heute nicht vollbracht wurde - hat meine Fraktion einen Entschließungsantrag vorgelegt, der nicht nur die Streichung im Schulgesetz, sondern auch eine Bundesratsinitiative zur Abschaffung des Jugendarrestes überhaupt vorsah.

Und auch bei der letzten Schulgesetznovelle stellten wir den Antrag auf Streichung von § 84 Absatz 1 Ziffer 1 Schulgesetz. Beides war erfolglos.

Sie sehen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, der Ihnen heute von meiner Fraktion vorgelegte Gesetzentwurf zur Änderung des Schulgesetzes ist vieles, aber absolut kein Schnellschuss.

Ja, der tragische Todesfall der Schülerin in Halle in der vorvergangenen Woche - und ich möchte an dieser Stelle nochmals ausdrücklich den Eltern und Verwandten des Mädchens meine tiefe Anteilnahme zum Ausdruck bringen - war Auslöser für diese heutige Initiative. Doch die entscheidenden Gründe hierfür wurden bereits schon vor mehr als sechs Jahren gesetzt, als uns viele Expert*innen deutlich machten, welchen pädagogischen Unsinn unser jetziges Schulgesetz enthält.

Wir wollen heute der Vernunft des Parlaments vertrauen und werben zunächst um Ihre Zustimmung zur Überweisung des Gesetzentwurfes federführend in den Bildungsausschuss und mitberatend in die Ausschüsse für Recht, Verfassung und Gleichstellung und Soziales.

Zum anderen werben wir natürlich auch darum, dass wir gemeinsam die Umstände des tragischen Todesfalles in Halle aufklären. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!