Diese Website verwendet Cookies. Warum wir Cookies einsetzen und wie Sie diese deaktivieren können, erfahren Sie unter Datenschutz.
Zum Hauptinhalt springen

Eva von Angern zu TOP 14: Rehabilitation und Entschädigung der nach 1945 aufgrund des § 175 in Deutschland Verurteilten

Der Ihnen heute vorliegende Antrag zur Rehabilitation und Entschädigung aller gemäß § 175 StGB (alt) auf deutschem Boden nach 1945 Verurteilten ist ein Anliegen, das meine Partei nicht nur in Sachsen-Anhalt, sondern auch in anderen Bundesländern thematisiert. Ziel dabei ist eine Bundesratsinitiative, die von einer Mehrheit der Länder getragen wird und deren Intention ganz klar ein Stückweit Wiedergutmachung beinhaltet. Denn in Deutschland ist nach dem II. Weltkrieg schweres Unrecht an vielen Menschen begangen worden. Das ist zwischenzeitlich erkannt, aber eben auch erst sehr spät erkannt wurde. Es handelt sich hier um massive Menschenrechtsverletzungen im Namen des Staates, die gesellschaftlich und unter anderem unter Bezugnahme auf christliche Werte über einen langen Zeitraum genau so toleriert wurden.

Menschen wurden aufgrund ihrer sexuellen Orientierung sowohl in der Bundesrepublik alt als auch in der DDR verfolgt, unterdrückt und sogar eingesperrt. Bereits unserer Antragsbegründung konnten Sie erschreckende Zahlen aufgrund des existierenden § 175 StGB entnehmen: Es gab 100.000 Ermittlungsverfahren, ca. 50.000 Verurteilte homosexuelle Männer. Menschen wurden massiv ausgegrenzt und Lebensläufe wurden für immer gebrochen und stigmatisiert.

Ein Vorgehen, welches für viele, insbesondere junge Menschen im Jahre 2012 unvorstellbar ist, wo es eben ganz normal geworden ist, dass mit Hilfe entsprechender medialer Öffentlichkeit ein "Bauer nicht nur eine Frau sucht", sondern ein "Bauer eben auch einen Mann suchen kann". Kein Wort von Abnormität, von krankhaften oder gar kriminellen Verhalten. Homosexualität ist ein ganz normaler Bestandteil unserer Gesellschaft…. Und das ist gut so!

Doch diese gesellschaftliche Normalität - darin eingeschlossen die endgültige Streichung der Norm aus dem Strafgesetzbuch - ist eben noch nicht Jahrzehnte alt; die Legalität von homosexuellen Handlungen bezogen auf bestimmte Schutzaltersgrenzen wurde in der damaligen DDR erst 1988 eingeführt, und in der Bundesrepublik alt hat es noch weitere sechs Jahre bis dahin dauern müssen.
Noch im Jahr 1957 schrieb das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil, dass „der deutschen Auffassung die gleichgeschlechtliche Beziehung von Mann zu Mann als Verirrung erscheint, die geeignet ist, den Charakter zu zerrütten und das sittliche Gefühl zu zerstören. Greift diese Verirrung weiter um sich, so führt sie zur Entartung des Volkes und zum Verfall seiner Kraft.“ Hierzu bedarf es keines Kommentars.

Einige Sätze zur geschichtlichen Chronologie des § 175: Der § 175 (§ 175 StGB-Deutschland) existierte vom 1. Januar 1872 (Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches) bis zum 11. Juni 1994. Er stellte sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe. Insgesamt wurden etwa 140.000 Männer nach den verschiedenen Fassungen des § 175 verurteilt. 1935 verschärften die Nationalsozialisten den § 175, unter anderem durch Anhebung der Höchststrafe von sechs Monaten auf fünf Jahre Gefängnis. Darüber hinaus wurde der Tatbestand von beischlafähnlichen auf sämtliche „unzüchtigen“ Handlungen ausgeweitet. Der neu eingefügte § 175a bestimmte für „erschwerte Fälle“ zwischen einem Jahr und zehn Jahren Zuchthaus. Es ist bekannt, dass die Nazis Homosexuelle exzessiv verfolgten und der Tod im KZ war nicht selten die Folge.

Die DDR kehrte 1950 zur alten Fassung des § 175 aus der Weimarer Republik zurück, beharrte aber gleichzeitig auf einer weiteren Anwendung des § 175a. Ab 1957 wurde Homosexualität unter Erwachsenen in der DDR nicht mehr geahndet. 1968 erhielt die DDR ein neues Strafgesetzbuch, das in § 151 StGB homosexuelle Handlungen mit Jugendlichen sowohl für Frauen als auch für Männer unter Strafe stellte. 1988 wurde dieser Paragraph in Folge der bereits seit Jahren bestehenden liberalen Rechtsprechung folgend ersatzlos gestrichen.

Die Bundesrepublik hielt bemerkenswerter Weise noch zwei Jahrzehnte lang an den Fassungen der §§ 175 und 175a aus der Zeit des Nationalsozialismus fest. 1969 kam es zu einer ersten, 1973 zu einer zweiten Reform. Seitdem waren nur noch homosexuelle Handlungen mit männlichen Jugendlichen unter 18 Jahren strafbar, wogegen das Schutzalter bei lesbischen und heterosexuellen Handlungen bei 14 Jahren lag. Erst nach Herstellung der deutschen Einheit wurde 1994 § 175 auch für das Gebiet der alten Bundesrepublik ersatzlos aufgehoben.

Wie sah nun Schwulsein in der DDR aus bzw. Wie ging man in der DDR mit Homosexualität um? Einen rein objektiven Blick gibt es nicht, schon wegen der im Wandel befindlichen Auffassungen seit den 1950er Jahren. Es gibt ganz persönliche Schicksale, die auf jeden Fall einen Einblick in den Alltag von Homosexuellen zulassen.

Erlauben Sie mir zunächst ein Zitat aus einem so genannten Erlebnisbericht – sicherlich eine subjektive Darstellung, ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu erheben: „In dieser Wohnung bin ich Anfang der fünfziger Jahre gezogen. Vor meinem Einzug ging der ABVer von Haushalt zu Haushalt, da wo junge Männer lebten und informierte: Erster Hinterhof, Mitte, zwei Treppen, rechts, da zieht ab nächsten Ersten so einer ein. Vorsicht! Eine bessere Reklame konnte der gar nicht für mich machen. Es dauerte knapp zwei Wochen, da hörte ich das erste schüchterne Klopfen an meiner Tür…“

Schon dieser Erlebnisbericht zeigt, was auch viele weitere bestätigen: Homosexualität war in der DDR weniger ein rechtliches Problem, denn ein gesellschaftliches.
Homosexualität fand im Verborgenen, im Privaten statt. Man verhielt sich konform, um in Beruf und in der Öffentlichkeit nicht aufzufallen. Homosexuellengruppen und -zeitschriften waren verboten. Es gab so genannte „Rosa Listen“, auf denen ca. 4000 Homosexuelle standen, die beobachtet und teilweise staatlich schikaniert, kriminalisiert und für krank erklärt wurden. Dabei war die Homosexualität nicht das eigentlich Problematische, vielmehr ist in einem Schreiben des MfS zu lesen, dass „Homosexuelle sich konspirativ und rücksichtslos gegenüber ihrer Umwelt verhalten und den Kontakt zu Ausländern aus kapitalistischen Ländern“ suchen. Politisch höchst unkorrekt. Entsprechend war ggf. auch die Repression in der Partei.

Wie sah parallel dazu Schwulsein in der ehemaligen Bundesrepublik aus? Wie ging man hier mit Homosexualität um? In den ersten 20 Jahren ihres Bestehen wurde sehr repressiv mit ihr umgegangen. Schwulenvereine und Verlage mussten ihre Arbeit einstellen. Homosexualität fand  vor allem im Verborgenen statt. In den 70er und 80er Jahren lebte eine Schwulenbewegung auf, die aber selten eine breite Öffentlichkeit erreichte. Es war nahezu eine kleine Revolution, als sich erstmalig in der „Lindenstraße“ in den 80er Jahren das erste Mal zwei Männer im öffentlichen Fernsehen küssten.

Eine Rehabilitierung bzw. eine Wiedergutmachung fand in keinem der beiden deutschen Staaten statt. Und unterm Strich bleibt festzustellen, dass egal in welche Himmelsrichtung man schaut, es wurden im gesellschaftlichen, im politischen, im rechtlichen Sinne im Umgang mit Homosexuellen massive Fehler begangen.

Bereits im Jahr 2000 bekannte sich der Bundestag zu der Aussage, dass durch die nach 1945 weiter bestehende Strafdrohung homosexuelle Bürger in ihrer Menschenwürde verletzt worden sind. So stufte der Deutsche Bundestag am 7. Dezember 2000 in einer einstimmig gefassten Entscheidung die 1935 erfolgte Verschärfung des § 175 RStGB erstmals als „Ausdruck typisch nationalsozialistischen Gedankengutes“ ein. Im Jahr 2002 beschloss dann der Bundestag das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege. Damit wurden auch die so genannten 175-Urteile in die Liste derer aufgenommen, die „unter Verstoß gegen elementare Grundgedanken der Gerechtigkeit zur Durchsetzung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus politischen, militärischen, rassischen oder weltanschaulichen Gründen ergangen sind.“
Die Aufhebung aller Urteile, die bezüglich der nach 1945 aufgrund sexueller Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts ergangen waren, und die vollständige Rehabilitierung erfolgten jedoch bis heute nicht.  

Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte bereits mehrfach, dass eine strafrechtliche Verfolgung einvernehmlicher homosexueller Handlungen zwischen Männern menschenrechtswidrig ist und gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstößt, ebenso die Festlegung unterschiedlicher strafrechtlicher Schutzaltersgrenzen. Bereits die Strafbedrohung verletzt die seit 1952 gültige Menschenrechtskonvention; hier: Artikel 8 (Achtung des Privatlebens, Achtung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung). Der Europäische Gerichtshof betonte dabei, dass die strafrechtliche Verfolgung nicht erst unter heutigen Gesichtspunkten, sondern bereits damals grundrechtswidrig war.

Die Kernfrage ist nun, wie mit Urteilen umgegangen wurde, die auf geltendem Recht gefällt worden.
Grundsätzlich gilt: Keine Rehabilitierung und Entschädigung für Verurteilungen nach späterer Abschaffung der Strafvorschrift. Die Frage hier ist jedoch, warum die Strafvorschrift tatsächlich abgeschafft wurde. War es die späte Erkenntnis bzw. Ansicht zu einem bestimmten als nun nicht mehr strafrechtlich relevant eingeschätztes Verhalten, weil sich die Sichtweisen verändert haben? Oder war es nicht vielmehr ein Grundgesetz- und konventionswidriges Verhalten und das VON ANFANG AN?

Ist letzteres der Fall – und davon gehe ich aus, bedarf es keiner Einzelfallprüfung und -entscheidung. Dann bedarf es genau der von uns und auch von den Lesben- und Schwulenverbänden seit vielen Jahren geforderten pauschalen Rehabilitierung und Entschädigung aller Verurteilten. Denn eine individuelle Prüfung ist den Betroffenen auch nicht mehr zumutbar. Das staatlich normierte Unrecht muss zumindest in diesem möglichen Maße wieder gutgemacht werden.

Das ist unsere rechtliche, aber eben auch moralische Pflicht, weil wir als Gesellschaft schwere Schuld auf uns geladen haben und weil uns das Ansinnen vereint, in allen Lebensbereichen tatsächlich Rechtsstaat leben zu wollen und nicht noch im Nachhinein doppelt zu bestrafen. Und  auch bei diesem Thema läuft uns die Zeit davon.
Es werden nicht mehr lange die Menschen leben, denen gegenüber wir mit diesem Gesetz ein wenig Wiedergutmachung leisten können. Deshalb schieben Sie diesen Antrag heute auch nicht auf die lange Bank, sondern zeigen Sie Ihren Handlungswillen.

Wir sind politisch bereits große Schritte hin zu einer tatsächlichen Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren gegangen. Doch Diskriminierung von Minderheiten und damit auch Homosexuellen steht nach wie vor aus gutem Grund auf der politischen Agenda aller Parteien. Lassen Sie uns heute gemeinsam einen weiteren Schritt gehen und jahrzehntelanges Unrecht ein wenig heilen.