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Eva von Angern zu TOP 02 b): Verantwortung des Staates für ehemalige Sicherungsverwahrte gewährleisten - Friedliche Lösung in Insel erreichen

Zunächst möchte ich für meine Fraktion feststellen: Es ist gut und es ist vor allem sehr wichtig für unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat, dass sich die Fraktionen des Landtages von Sachsen-Anhalt auf diese gemeinsame Erklärung verständigt haben, über die wir nachher zu beschließen haben. Wir setzen damit ein Zeichen für gelebten Parlamentarismus. Und wir sagen deutlich in Richtung Landesregierung: Wir sind das Parlament, an dem nicht vorbei zu regieren ist.

Die Vorgänge in der Gemeinde Insel sind ein trauriger Beleg für das Scheitern der Resozialisierung und damit auch Integration ehemaliger Straftäter in unsere Gesellschaft.
Doch meine Damen und Herren, niemand in Sachsen-Anhalt sollte vergessen, dass sowohl die beiden Männer in Insel, als auch alle anderen in Haft befindlichen Straftäter Teil unserer Gesellschaft sind. Und ich möchte das ausdrücklich nicht als Drohung verstanden wissen, sondern als Tatsache, der wir uns zu stellen haben.
In jeder Gesellschaft gab, gibt und wird es immer Menschen geben, die gegen gemeinschaftlich gesetzte Normen verstoßen. Und es ist an uns allen zu entscheiden, wie wir mit ihnen umgehen. Das Grundgesetz bildet dabei einen wesentlichen Rahmen, den es stets zu beachten gilt.

Angesichts der aktuellen Geschehnisse in der Altmark stellt sich jedoch uns allen die Frage, wie viel des Grundgesetzes wird tatsächlich von den Menschen als gesellschaftlicher Konsens gesehen. Wie oft war in den letzten Wochen medial zu hören: „Natürlich sollen die beiden ein Recht auf ein Leben in Freiheit haben. Aber bitte doch nicht hier bei uns!“

Bei diesen Worten stellt sich die Frage: Wie stehen wir, wie stehen die Menschen in Sachsen-Anhalt tatsächlich zu Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.  Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“?

Und ich sage es an dieser Stelle ganz deutlich: Jetzt, wo die beiden Männer aus Insel wegziehen, haben sich all jene durchgesetzt, die den Rechtsstaat erpresst haben.
Jetzt lesen wir in der MZ, dass die Straße gesiegt hat. Jetzt müssen wir feststellen, dass wir nicht nur Fehler bei der Landesregierung suchen können und sicher auch müssen, sondern dass vor allem wir – der Landtag von Sachsen-Anhalt zu spät aktiv geworden ist.

Und Herr Innenminister, es ist nicht so wie von Ihnen gegenüber der Mitteldeutschen Zeitung geäußert, dass es vorliegend allein um die menschliche Vernunft geht.
Wir – und damit meine ich uns tatsächlich alle - sind gescheitert in dem Bemühen, Menschen auch nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe eine zweite Chance zu geben.

Und wir haben uns erpressbar gemacht für alle zukünftigen ähnlich gelagerten Fälle.
Unter „ähnliche Fälle“ subsumiere ich auch Ausländer, Andersdenkende, Andersaussehende…. Das ist nach Ansicht der Fraktion DIE LINKE eine klare Niederlage für unseren Rechtsstaat, die uns noch lange begleiten wird. Am Beispiel Insel kristallisiert sich heraus, dass in der Gesellschaft vor allem eine Erwartung besteht: ein wirksamer Schutz vor Rückfalltätern.

Ich gehe davon aus, dass in diesem hohen Haus Konsens besteht, dass Sorgen und Ängste der Menschen, Opfer von Straftaten zu werden, ernst zu nehmen sind.
Und natürlich hat der Staat die Pflicht, Menschen vor Straftaten zu schützen.
Aber ebenso und nicht etwa nachrangig haben ehemalige Straftäter einen Anspruch auf Schutz ihrer Grundrechte sowie auf Resozialisierung und rechtskonforme Rückkehr in die Gesellschaft. Gerade Letzteres ist im Übrigen zugleich der beste Schutz der Bevölkerung vor neuen Straftaten. Die Gesellschaft muss sich daher die Frage stellen und sie auch beantworten: Wie wollen wir mit ehemaligen Straftätern nach deren Entlassung umgehen?
Wie wollen wir mit Straftätern in ihrer Haftzeit umgehen, um sie auf ein straffreies Leben danach vorzubereiten?

Und auch wenn heute die rechtspolitischen Sprecher der Fraktionen reden, möchte ich Ihnen bewusst machen, dass wir es hier mit einem gesamtgesellschaftlichen Problem zu tun haben. Wir alle tragen Sorge dafür, wie mit diesem Thema umgegangen wird. Dabei helfen weder einseitige Schuldzuweisungen, noch lockere Sprüche im privaten Umfeld oder einfach nur ein passives Zuschauen bzw. Wegschauen. All diese Verhaltensweisen unterstützen Menschen, die die Menschenwürde nicht als höchstes Gut unserer Gesellschaft erachten und sie einigen Menschen gar absprechen. Und NIEMAND darf wegschauen, wenn elementare Menschenrechte missachtet werden.

Lassen Sie uns gemeinsam dafür streiten, dass tatsächlich jeder Mensch vor dem Grundgesetz gleich ist und dass eben auch Menschen nach Verbüßung ihrer Haftzeit ein Recht auf eine zweite Chance nicht nur rechtsstaatlich, sondern auch gesellschaftlich gewährt bekommen! Es kann nicht gesellschaftlicher Konsens sein oder werden, dass wir Täter für immer aus der Gesellschaft ausgrenzen. Und eine solche Ausgrenzung erfolgt eben, wenn Menschen gedrängt werden, nicht ihr Recht auf freie Wohnortwahl ausüben zu können. Wir sind alle dafür verantwortlich, wir als politische Verantwortungsträger und wir die Zivilgesellschaft, die im Grundgesetz verankerten Rechte eine jeden Menschen zu verteidigen und nicht zuzulassen, dass es eine Abstufung zwischen den Menschen gibt.

Und Insel zeigt ganz deutlich, dass staatliches Handeln allein eben nicht ausreicht, sondern vor allem Zivilgesellschaft gefordert ist. Und das verwundert auch gar nicht.
Ein Staat ist kein künstliches Gebilde, das einfach aus Abgeordneten, Regierungen, Behörden und Justiz besteht. Staat das sind wir alle, das ist die Zivilgesellschaft! Und deswegen bestimmt und trägt maßgeblich auch die Zivilgesellschaft Verantwortung für das Miteinander und gemeinsam gefundene Regeln – wie das Grundgesetz – und müssen diese auch gemeinsam verteidigt und Grenzen nicht überschritten werden.

Dabei ist gerade der Umgang mit den so Genannten schwächsten Gliedern einer Gesellschaft, wie Straftäter es sind, ein Maßstab für die politische und zivilgesellschaftliche Reife unserer Gesellschaft.

DIE LINKE verurteilt aufs Schärfste, wenn politische Verantwortliche vor Ort latente Ängste von Menschen noch schüren und damit instrumentalisieren und wenn Rechtsextreme versuchen, mit den in Insel entstandenen Problemen ihre eigenen, menschenverachtenden Ziele und verfassungsfeindlichen Positionen zu propagieren.
So hat eben der Ortsbürgermeister – der in der Angelegenheit sämtliche Briefe übrigens auf dem Briefkopf der Stadt Stendal versendet – den Aufmarsch von Rechtsextremisten billigend in Kauf genommen.

Ich weiß nicht, ob ihm, den demonstrierenden Bürgern in Insel und auch hier allen im Haus bewusst ist, dass rechtsextreme Gruppierungen die Forderung „Todesstrafe für Kinderschänder“ propagieren. Genau hier ist entschiedener Widerstand angezeigt und dringend notwendig. Und hier erwarte ich den Aufstand der Anständigen, der vorliegend leider ausgeblieben ist. Ansonsten nimmt nicht nur der Ruf von Sachsen-Anhalt in der Bundesrepublik, sondern vor allem die demokratische Kultur in Sachsen-Anhalt einen erheblichen Schaden.

Nicht umsonst fordert der Verein MITEINANDER, ein bundesweit anerkannter Verband, dass die politisch Verantwortlichen in unserem Land, aber auch in den Kommunen auf Aufklärung und Toleranz setzen und das Grundgesetz verteidigen müssen.

Vertreter aller Fraktionen haben sich gestern zusammengesetzt. Auf Augenhöhe und in einem ehrlichen Interesse daran, wie wir gemeinsam unserer Verantwortung als Parlament gerecht werden können. Wir gehen dabei aufeinander zu und verfassen ein Papier mit der Botschaft: „Resozialisierung möglich machen!“ Und ich sehe die gemeinsame Entschließung als einen großen Wert für unser Parlament an.

Doch was tat zeitgleich ihr Innenminister? Er zeigte dem Land: Ich bin der Macher. Ich löse Probleme. Ich handele so, wie es dir Mehrheit der Insulaner erwartet und wie es das Justizministerium mit Verweis auf die Grundrechte nicht realisieren konnte.

Und was haben Sie erreicht, Herr Minister? Eine klare Botschaft in die Bundesrepublik: Der Wegzug ist vermutlich zwangsläufig erreicht und Integration muss anderswo stattfinden.

Ich frage Sie, Herr Minister: Warum und mit welchem Ziel ist die Erklärung der beiden Männer entstanden? Sie sind freie Menschen. Sie bedurften einer solchen schriftlichen Erklärung nicht. Sind Sie bereits mit der Erklärung im Gepäck nach Insel gefahren, um mit der geballten Kompetenz Ihres Hauses den Männern dringend an Herz zu legen, diese zu unterschreiben?

Wir müssen feststellen, dass es in Insel leider an Aufklärung und Toleranz gemangelt hat, die Geschehnisse waren eher mit einer Menschenjagd zu vergleichen und niemand sollte das momentan vorliegende Ergebnis feiern.

Das Problem ist nicht gelöst. Weder für die Menschen in Insel, noch für Sachsen-Anhalt. Ich halte eine Aufarbeitung der Geschehnisse in Insel mit den Menschen vor Ort für unerlässlich.

Die Kirche, die ich bisher immer als Partnerin und vermittelnde Kraft in solchen Verfahren gesehen habe, hat sich leider mit den Worten von Herrn Kleemann: „Es zieht wieder Frieden in Insel ein.“ keinen guten Dienst erwiesen. Aber es ist nicht meine Aufgabe, dies aufzuarbeiten. Das sollte Kirche mit sich selbst und mit ihren Mitgliedern klären. Zu dem Satz möchte ich jedoch noch eines sagen: Insel ist keine Enklave in Sachsen-Anhalt und wer meint, man könne Grundrechte nicht gegen den Willen der Mehrheit durchsetzen, müsse sich stattdessen dem Willen der Mehrheit beugen, irrt in ganz grundsätzlichem Maße.

Wir alle müssen uns in der nächsten Zeit intensiv mit dem Erlebten, mit den Argumenten, mit dem staatlichen und zivilgesellschaftlichen Handeln und natürlich auch mit den rechtlichen Rahmenbedingungen auseinandersetzen. Nur so haben wir die Chance, dass das Beispiel INSEL in Sachsen-Anhalt nicht Schule macht. Wir müssen Lösungsansätze erarbeiten, ohne auf die Anderen zu zeigen, wie künftig mit analogen Fällen und Situationen in Sachsen-Anhalt umgegangen werden soll. Dabei müssen wir beachten, dass Resozialisierung keine „Wohltat“ des Staates ist, die eine große Hausnummer im Haushalt darstellt, sondern vor allem ein wirksamer Schutz für die Gesellschaft.
Resozialisierung muss zwingend einhergehen mit der Integration von Straftätern in die Gesellschaft, in der und mit der sie leben wollen, das ist ein wesentlicher Teil der Resozialisierung. Und Resozialisierung bedeutet eben auch, dass Gesellschaft diese zulässt und sogar aktiv daran mitwirkt. Gerade die Integration in die Gesellschaft ist selbstverständlich nur mit ihr umsetzbar. Es gibt kein TRUEMANS LAND, wo wir mal üben können.

Wir müssen gemeinsam überlegen, wie Vereine, Verbände, Firmen, kommunale Vertretungen, die Kirchen etc., Kontakte zu Straffälligen intensiver aufnehmen, mit Leben erfüllen und damit zur Integration beitragen können. Erste positive Schritte gehen wir ja bereits in Sachsen-Anhalt. Förderlich könnte sogar sein, ehemalige Straftäter offensiv in die Arbeit einzubeziehen, wenn ihnen eine eigene kritische Distanz gelungen ist. Von großer Wichtigkeit ist natürlich auch die Einbeziehung in den Arbeitsmarkt.
Menschen definieren sich auch über ihre Erwerbssituation.

Andererseits muss Gesellschaft natürlich auch offensiv einfordern, dass Straftäter Einsicht in ihr begangenes Unrecht zeigen und sich um Wiedergutmachung bemühen. Bei allem geht es um Akzeptanz, Toleranz und einen respektvollen Umgang. Straftaten können nur aufgearbeitet und zum Teil überwunden werden, wenn Begegnung zwischen Gesellschaft und Straftätern stattfindet.

Die Arbeit liegt in ihrem vollen Umfang noch vor uns. Die Chance, die eine Integration der beiden Männer in Insel mit sich getragen hat, ist verschenkt. Und die Art und Weise, wie das Problem INSEL vermeintlich gelöst wurde, hat uns in der politischen und gesellschaftlichen Debatte weit zurück geworfen. Ich hoffe, dass das allen hier im Haus bewusst ist. Genauso wie die Tatsache, dass wir das Problem nunmehr alle anpacken müssen und nicht einfach zur Tagesordnung übergehen können. Sonst sehen wir uns zeitnah zum gleichen Thema nur mit einem Ortswechsel hier wieder.

Wir brauchen langfristige und keine „Insel“-Lösungen!