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Dagmar Zoschke zu TOP 17: Ein klares Zeichen für eine gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft setzen! Ablehnung des aktuellen Gesetzentwurfes des BTHG im Bundesrat

Die Bundesrepublik hat 2009, also vor nunmehr sieben Jahren, die UN- Behindertenrechtskonvention als universelles Menschenrecht ratifiziert, es ist einklagbares Recht in unserem Land. Allein die Erarbeitung des in Rede stehenden Bundesteilhabegesetzes und die an vielen Stellen wirklich sehr bedächtige Umsetzung der Aktionspläne sind eine Farce und kein respektvoller Umgang mit betroffenen Menschen.

Das Bundesteilhabegesetz ist eine der großen Gesetzesvorhaben der Bundesregierung, wir haben lange darauf gewartet. Viele notwendige Veränderungen am Ende der letzten Legislaturperiode- wie Fragen der Rahmenvereinbarung Eingliederungshilfe, Blindengeld, Arbeit der Sozialagentur, um nur einige zu nennen, sind hier nicht vollzogen worden, mit der Begründung, wir warten auf das Bundesteilhabegesetz als Richtschnur des eigenen Handelns.

Es ist wirklich ein bedeutendes, großes Wort: Bundesteilhabegesetz. Es soll ein modernes, die Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen stärkendes und förderndes Gesetz sein. Grundlage für die Regelungen soll und muss das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sein. Viele Hoffnungen waren und sind damit verbunden. Zahlreiche Menschen mit Behinderungen haben sich in den vergangenen Wochen und Monaten auf den Weg gemacht, sind in die Bundeshauptstadt gereist, um ihren Forderungen Stimme zu verleihen, ihre Ängste, Sorgen und konkreten Lebenslagen zu beschreiben und ihre Teilhabemöglichkeiten einzufordern.  Sie haben der zuständigen Bundesministerin und einer breiten Öffentlichkeit lautstark, kreativ und auch durch starke Bilder in den Medien, genau diese Hoffnungen übermittelt– in der Zwischenzeit verspüren wir Enttäuschung, Angst und Resignation.

Der Nationale Aktionsplan, zahlreiche Landesaktionspläne – auch wir haben einen Landesaktionsplan: „einfach machen – unser Weg in eine inklusive Gesellschaft“ sind auf den Weg gebracht und werden bedächtig umgesetzt.  Die erste Berichterstattung der Bundesrepublik zur Umsetzung der UN- BRK vor dem Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen bei den Vereinten Nationen hat im Mai 2015 stattgefunden und der daraus resultierende Hausaufgabenkatalog ist nicht gerade „klein“ zu nennen.
Aber auch Kommunen und Landkreise in unserem Land haben und erarbeiten kommunale Aktionspläne.

Mit dem Bundesteilhabegesetz soll nicht nur die Eingliederungshilfe weiterentwickelt werden, sondern die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen im Sinne von mehr Teilhabe und mehr Selbstbestimmung weiterentwickelt werden, ohne dabei eine neue Ausgabendynamik zu erzeugen und die bestehende Ausgabendynamik zu bremsen- so in etwa die Aufgabenbeschreibung für dieses Gesetzesvorhaben durch die Bundesregierung. Und schon haben wir den ersten großen Stolperstein: ich wiederhole: „..ohne dabei eine neue Ausgabendynamik zu erzeugen und die bestehende Ausgabendynamik zu bremsen.“ Das ist doch nicht wirklich ernst zu nehmen? Wie soll das gehen? Die Menschen fühlen sich verklappst. Was wir dringender denn je benötigen, ist ein Umdenken in den Köpfen aller Menschen. Wir brauchen den weiteren, konsequenten und raschen Abbau von Barrieren. Barrieren in Gebäuden, Barrieren in der Verwaltung, Barrieren in der Politik, Barrieren in den Köpfen. Das kostet Kraft und Geld und ist nur gemeinsam zu meistern.

Der Entwurf des Bundesteilhabegesetzes liegt vor, seit Monaten wird er von Menschen mit Behinderungen diskutiert, hinterfragt, ebenso begrüßt wie er auch auf Ablehnung und Skepsis stößt. Ernüchtert will ich für meine Fraktion klarstellen: Es gibt in diesem Gesetzesentwurf durchaus Positionen die einen Fortschritt darstellen und die Teilhabechancen verbessern, so z.B.,

•    dass die Partnereinkommen bei der Einkommensprüfung in der Eingliederungshilfe
nicht mehr herangezogen werden sollen oder
•    das Budget für Arbeit oder
•    die Stärkung der Werkstatträte und die schon lange fällige Möglichkeit, Frauenbeauftragte in den Werkstätten zu wählen oder
•    die Verbesserung der finanziellen Situation der Werkstattbeschäftigten  im Artikel 11 BTHG, die die finanzielle Unabhängigkeit und damit Teilhabe sichert oder
•    bei der Elternassistenz oder
•    die Einführung des Merkzeichens „Tbl“  für taubblinde Menschen, ohne hier allerdings für einen Nachteilsausgleich zu sorgen – was gut gemeint, allerdings das Ziel verfehlt.

Neben all diesen durchaus positiven Erwägungen des Gesetzes kommt man fast fließend relativ schnell zu den Mängeln, die nicht nur nach unserer Einschätzung, sondern vor allem von Betroffenen bemerkt und kritisiert werden, die zu erheblichen Verschlechterungen in der Lebensführung behinderter Menschen führen können. Lassen Sie mich einige dieser Mängel benennen:

Erstens: Das Wunsch- und Wahlrecht, also die freie Wahl von Wohnort und Wohnform und einer der Kernpunkte des BTHG, wird durch die neuen Regeln nicht ausreichend berücksichtigt – es wird als defizitäres Sonderrecht des SGB XII fortgeschrieben und wird nicht dazu beitragen den Grundsatz „ambulant vor stationär“ zu erreichen. Die gemeinschaftliche Inanspruchnahme durch mehrere Leistungsberechtigte – das Poolen von Leistungen- ist nicht von der Zustimmung der Betroffenen abhängig- hier entscheiden die Kostenträger. Selbstbestimmung, meine Damen und Herren, sieht anders aus.

Zweitens: Viele der heute Anspruchsberechtigten fürchten für sich und für später Anspruchsberechtigte, dass sie aus dem Leistungsrahmen fallen, weil sie zukünftig nachweisen müssen, dass sie in fünf von neun Lebensbereichen dauerhaft personelle oder technische Unterstützung bzw. Hilfe benötigen oder mindestens in drei Lebensbereichen die Ausführung von Aktivitäten gar nicht möglich ist. Diese Regelung wird ergänzt durch die „Kann“-Regelung, dass ein Leistungsanspruch auch unter diesen fünf Lebensbereichen bestehen kann- aber Kann bedeutet eben nicht „muss“, es ist nicht einklagbar, es ist Ermessensspielraum, mit dem bisher viele, mehr negative Erfahrungen
verbinden, als Positive. Damit werden neue Barrieren aufgebaut, anstatt sie abzubauen.

Ich will an dieser Stelle auch mal die neun Lebensbereiche benennen, damit sie sich ein Bild von den Schwierigkeiten machen können, vor denen dann Anspruchsberechtigte zukünftig stehen werden:

- Lernen und Wissensanwendung
- Allgemeine Aufgaben und Anforderungen
- Kommunikation
- Mobilität
- Selbstversorgung
- Häusliches Leben
- Interpersonelle Aktionen und Beziehungen
- Bedeutende Lebensbereiche
- gemeinschaftliches, soziales und staatsbürgerliches Leben.

Unter Vereinfachung von Lebensbedingungen und mehr Teilhabe verstehen wir etwas Anderes.

Drittens: Der Gesetzesentwurf trennt existenzsichernde Leistungen von Teilhabeleistungen und kann deshalb zur gegenseitigen Aufrechnung führen, Teilhabemöglichkeiten damit stark einschränken und schlimmstenfalls bei Betroffenen dann zu der daraus resultierenden Entscheidung führen: ich kann aus Kostengründen nicht die ambulante Wohnform wählen, sondern ziehe in eine stationäre Wohnform. Das
erschwert auch unser Landesvorhaben: ambulant vor stationär.

Die Ermöglichung von selbständiger Lebensführung sieht anders aus.

Viertens: Nachteilsausgleiche sollten im Sinne der UN-BRK ungeachtet des Einkommens und Vermögens erbracht werden. Dazu muss das Gesetz Freistellungsgrenzen deutlich anheben, Mehrfachanrechnungen von Vermögen in unterschiedlichen Leistungssystemen für Eingliederungshilfeberechtigte darf es nicht geben.

Behinderung darf nicht arm machen- die Gefahr besteht aber.

Fünftens: Die Chance, die Wirtschaft mit einer deutlichen Anhebung der Ausgleichsabgabe zu zwingen, mehr Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt zu schaffen, wurde verschenkt. Allerdings hat die Ausgleichsabgabe ihre eigentliche Aufgabe- ausreichend Arbeitsmöglichkeiten für behinderte Menschen zu schaffen, verfehlt, was vielen Beteiligten auch klar war. Unternehmen zahlen sie, so können sie sich freikaufen, über Arbeitsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen muss dann auch nicht mehr nachgedacht werden. Im Budget für Arbeit liegt der bessere Ansatz, um mehr Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen.  
Auf unsere Kritik stößt außerdem die durch das Gesetz geschaffene Möglichkeit, dass
neben dem ersten Arbeitsmarkt und den Werkstätten auch „andere Leistungsanbieter“ etabliert werden, ohne an die Qualitätsstandards z.B. der Werkstätten gebunden zu sein.

Dies genügt unserem Qualitätsanspruch ausdrücklich nicht.
             
Sechstens: Als besonders fatal empfinden wir den angestrebten Vorrang der Pflege vor der Eingliederungshilfe in den verschiedenen Wohnformen. Behinderte Menschen mit Pflegebedarf benötigen sowohl Eingliederungshilfe- Hilfe für Teilhabe- als auch Pflege. Für die Betroffenen ist es besonders wichtig, sich ständig in alltäglichen Lebensbereichen zu üben, selbständig den Haushalt zu führen und an den verschiedensten Möglichkeiten der sozialen, gesellschaftlichen Teilhabe tatsächlich teilhaben zu können. Dies sichert neben Lebensqualität und Selbstständigkeit für den Einzelnen auch einen Gewinn für die Gesellschaft, also für uns alle.

Dieser Aspekt scheint allzu oft nicht gesehen zu werden- traurig.

Ich habe hier nur einige Punkte benannt, deren Wortlaut im Gesetz die Gefahr in sich bergen, dass es nicht zu Verbesserungen, sondern zu Verschlechterungen der Lebenslagen behinderter Menschen kommen kann. Auch die Anzahl der Stellungnahmen von Interessenverbänden behinderter Menschen und den Wohlfahrtsverbänden sprechen Bände. Und es sind in der Regel auch keine ein- oder- zwei- Seiten-Papiere. Auch dies ist eindeutig ein Zeichen für die Defizite in diesem Gesetz.  

Dies kann man alles ignorieren, den gegenwärtigen Stand begrüßen und würdigen und den Bundestag bitten, Änderungen herbeizuführen. Ob dies im Interesse von behinderten Menschen ist, ihren individuellen Ansprüchen tatsächlich Rechnung trägt und damit ihre Teilhabemöglichkeiten verbessert, ist für uns mehr als fraglich. Dies will der Alternativantrag der regierungstragenden Fraktionen, der daher nicht unsere Zustimmung findet.

Wir sind fest davon überzeugt, dass der Alternativantrag von CDU, SPD und Bündnis 90/ Die Grünen ebenso hinter der Erwartungshaltung von Menschen mit Behinderungen, ihren Interessensverbänden und -vereinen zurückbleibt, wie der Gesetzesentwurf selbst.
Ein Bundesteilhabegesetz ist wichtig und richtig, dazu stehen auch wir. Maßstab, und dabei bleiben wir, ist die UN-Behindertenrechtskonvention. Eine Ablehnung oder eine Stimmenthaltung bei der Abstimmung dieses Gesetzes im Bundesrat beerdigt nicht das Vorhaben, sondern lediglich diese Variante und das auch nur, wenn die Zahl der Ablehner stärker ist als die der Zustimmenden. Wir bleiben bei unserem Antrag und bitten um Zustimmung.