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Wulf Gallert zu TOP 30 a): Sachsen-Anhalt vor der Bundesratsentscheidung zur Änderung der Hartz IV-Regelsätze am 17. Dezember 2010

Am 17. Dezember dieses Jahres steht etwas sehr Grundsätzliches zur Abstimmung im Bundesrat an. Dort soll über einen Gesetzentwurf der CDU-FDP-Koalition entschieden werden, der den Regelsatz für Hartz IV-Empfänger um sage und schreibe 5 Euro erhöht und zur Garnierung ein so genanntes Bildungspäckchen enthält. Dass es überhaupt eine solche Gesetzvorlage gibt, ist Resultat eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts, das die Festlegung der bisherigen Regelsätze als verfassungswidrig einstufte. Nur zur Erinnerung: Schon vorher hatte das Bundesverfassungsgericht die gemeinsame Aufgabenerfüllung im Bereich des ALG II durch Kommune und Bund für verfassungswidrig erklärt und damit faktisch die beiden grundlegenden Säulen der Hartz IV-Reform endgültig und vernichtend beurteilt. Mir erscheint es übrigens wichtig, dies noch einmal in Erinnerung zu rufen, weil Herr Haseloff in den letzten Wochen und Monaten immer wieder bemüht war, die Richtigkeit dieser Reform zu unterstreichen.

Aber kommen wir zur Frage der Regelsätze zurück und das, was am 17. Dezember zur Debatte steht. Sachsen-Anhalt ist eines der Länder mit dem höchsten Anteil an Betroffenen von diesen Entscheidungen und aus der Perspektive dieser Betroffenen ist der vorgelegte Gesetzentwurf der Bundesregierung eine Farce. Wer die Interessen dieser Menschen im Land vertritt, muss diesen Gesetzentwurf ablehnen, weil er in Wahrheit keine Verbesserung der Lebensperspektive für die Betroffenen bedeutet, sondern Stagnation bzw. partiell sogar eine Verschlechterung.   

Wir haben bereits im Oktober einen entsprechenden Antrag hier eingebracht. In der Debatte wurde klar, dass der Vertreter der Landesregierung, Minister Haseloff, sich klar zum Gesetzentwurf der Bundesregierung bekannte. Ich werde auf die Argumentation dazu später noch einmal eingehen. Allerdings wurde unser Antrag in der Sache durch einen Alternativantrag der Koalition ersetzt, der die Landesregierung bat, im Sozial- und Wirtschaftsausschuss die Abgeordneten über die Berechnung der Bundesregierung zu informieren. Diesem bedeutungsvollen Ansinnen, welches auch durch eine Aufforderung zum Selbststudium hätte ersetzt werden können, wurde statt gegeben. Bis zum heutigen Datum geschah jedoch gar nichts, was viel über die Ernsthaftigkeit dieses Koalitionsantrages aussagt. Andere waren da jedoch etwas fleißiger und haben sich intensiv und kritisch mit den Berechnungen der Bundesregierung auseinandergesetzt. Dazu zählt u. a. meine Fraktion im Bundestag, die eine detaillierte Berechnung vorgelegt hat, die davon ausgeht, dass man, wenn man die Berechnungsgrundlagen, die das Bundesverfassungsgericht im Urteil vorgegeben hat, wirklich anwenden würde, zu einem Regelsatz um die 460 Euro kommen würde. Und das, ohne die politischen Prämissen der Hartz IV-Gesetzgebung substanziell in Frage zu stellen.

Da jedoch eine Berechnung meiner Bundespartei möglicherweise in diesem Raum auf ein völlig unbegründetes Misstrauen stoßen könnte, will ich ein anderes Papier heranziehen, und zwar das Papier der Diakonie Mitteldeutschland, die eine eigene Berechnung auf der Grundlage der Kriterien des Bundesverfassungsgerichtsurteils vorgenommen hat.

Sie hat das im Auftrag einer ganzen Reihe von Diakonien getan und haben sich damit, genau wie die Evangelische Kirche Mitteldeutschlands, in dieser Debatte zu Wort gemeldet. Diese Berechnung geht davon aus, dass bei einer wirklichen Umsetzung des Statistikmodells der Regelsatz bei 480 Euro liegen müsste. Mit Statistikmodell ist die Überlegung gemeint, die da sagt, dass das Ausgabeverhalten der unteren 20 Prozent der Haushaltseinkommen zur Berechnung herangezogen werden muss. Dazu schreibt das Bundesverfassungsgericht: „Zu Grunde zu legen sind nach § 2 Abs. 3 Regelsatzverordnung die Verbrauchsausgaben der untersten 20 Prozent der nach ihrem Nettoeinkommen geschichteten Haushalte.“  Was aber machte die Bundesregierung zur Neuberechnung der Hartz IV-Sätze? Sie reduzierte diese Gruppe erst einmal auf 15 Prozent und schloss dabei nicht, wie es eigentlich nötig wäre, die Aufstockerhaushalte aus und berücksichtigte überhaupt nicht den Fakt, dass ein Großteil dieser Haushalte durchaus Ansprüche stellen könnte, dies aber erfahrungsgemäß nicht tut, die so genannte verdeckte Armut. Dies führte nun in der Konsequenz dazu, dass in der statistischen Vergleichsgruppe Haushalte herangezogen worden sind, deren Einkünfte sich faktisch nahe der ALG II-Empfänger befinden müssen. Und dann hat man zur großen Überraschung herausbekommen, dass, wenn man dann noch weitere Abzüge realisiert, man bspw. für Kinder eigentlich noch weniger Geld ausgeben müsste, als man es jetzt schon tut. Und schon hatte man das gewollte Ergebnis, dass beim Regelsatz für Erwachsene nicht einmal die Kostensteigerung ausgeglichen wird und Kinder eigentlich schon viel zu viel Geld bekommen würden.
Wie solche Zahlen zustande kommen, will ich nur an zwei Beispielen deutlich machen. Nehmen wir uns einmal das Bildungspaket der Bundesregierung vor. Dort ist z. B. enthalten das so genannte kostengünstige Mittagessen für Kinder aus Hartz IV-Familien und diejenigen, die den Kinderzuschlag erhalten. Ein aus unserer Sicht durchaus vernünftiger Ansatz, schließlich haben wir den auch in unserem Landeswahlprogramm. Herr Haseloff meinte übrigens noch vor kurzem, dass dies eine völlig überzogene und unnötige Forderung sei. Interessant ist jedoch, was diese Maßnahme eigentlich kosten würde, wenn wirklich alle Personen, die einen Anspruch darauf hätten, diese auch nutzen würden. Die Kosten allein dafür liegen pro Jahr bundesweit bei 1 Mrd. Euro. Mehr also, als das gesamte Bildungspäckchen. Eingestellt sind dafür im Bundeshaushalt 112 Mio. Euro. Also rechnet man hier damit, dass fast 90 Prozent der Bedürftigen diesen Anspruch überhaupt nicht nutzen können bzw. die Hürden so hoch gesetzt werden, dass sie dafür keine Chance haben.

Das Problem bei der Regelsatzberechnung der Bundesregierung liegt also darin, dass diese verdeckte Armut von Anspruchberechtigten überhaupt nicht berücksichtigt wird.

Dann weist uns die Diakonie Mitteldeutschland auf ein zweites Problem hin. Weil das Statistikmodell offensichtlich zu teuer wird, vermischt man es mit einem anderen Modell, nämlich dem Warenkorb. Und jetzt passiert Folgendes: Bei der schon ohnehin herunter gerechneten Referenzgruppe schaut man sich jetzt an, wie viel diese Gruppe bspw. für den ÖPNV ausgibt und wie viel diese Gruppe bspw. für das Autofahren ausgibt. Nun dürfte jedem klar sein, dass diejenigen, die mit dem Auto fahren, weniger Geld für den ÖPNV ausgeben, nämlich in der Regel gar nichts. Jetzt kommt die Bundesregierung daher und sagt, Autofahren ist Luxus und gehört nicht in die Berechnung. Nun müsste jeder normale Mensch denken, dass in der Berechnung dann die Gelder für den ÖPNV angehoben werden, weil die ja in der herangezogenen Personengruppe durch die Nutzung von privaten Autos im Durchschnitt gesenkt wurden, was ja nun nicht mehr sein soll. Was macht aber die Bundesregierung? Sie streicht zwar das Auto, erhöht aber nicht die Mittel für den ÖPNV. Und so kann man die Welt sich dann zu Recht tricksen.

Selbst wenn man sich noch ein Stück weit auf solche Argumentation einlässt, kommt die Diakonie Mitteldeutschland immer noch zu einem Regelsatz von mindestens 433 Euro pro allein stehenden Erwachsenen. Und sie findet deutliche Worte zum jetzt vorgelegten Gesetzentwurf der Bundesregierung. Zu deren Berechnungsverfahren sagt sie Folgendes: „Deutlich wird dabei, dass die im Entwurf der Bundesregierung vorgenommenen Abzüge bei der Ermittlung des Regelbedarfes nicht nur methodisch fragwürdig sind, sondern die Grenze des ethisch Vertretbaren berühren oder überschreiten.“

Wir schließen uns dieser Bewertung ausdrücklich an und fordern die Landesregierung auf, am 17. Dezember klar mit Nein zu stimmen.

Lassen Sie mich am Ende noch auf einen anderen Zusammenhang hinweisen. Herr Haseloff hat als Vergleichsgröße im Oktober ein Arbeitseinkommen von 843 Euro als im Wesen gleichwertig zum von der Bundesregierung vorgeschlagenen Regelsatz benannt. Ich will mich hier nicht im Einzelnen zu dieser Berechnung äußern, sondern sage lediglich, dass dieses Einkommen in etwa einem Stundenlohn entsprechen würde, knapp über 5 Euro bei einer Vollzeittätigkeit, wie er gerade parteiübergreifend als Dumpinglohn, der politisch unakzeptabel ist, beurteilt wurde (Oebisfelde – Arbeitsagentur Haldensleben). Nun wissen wir, dass viele Menschen in Sachsen-Anhalt sehr wohl bereit sind, für diese sehr niedrigen Löhne zu arbeiten, obwohl sie damit kaum mehr  Geld in der Tasche haben als ein Hartz IV-Empfänger. Immerhin gibt es bei uns in Sachsen-Anhalt 77.000 Aufstocker. Das heißt also, dass der Regelsatz im Bereich des ALG II tatsächlich die eigentliche Lohnuntergrenze beschreibt, was Herr Böhmer hier auch schon vor einigen Jahren treffend beschrieb. Wer wirklich etwas gegen diese Dumpinglöhne tun will, der muss die Regelsätze auf ein existenzwürdiges Minimum anheben, bspw. der Mindestforderung der Diakonie entsprechen. Wenn man das nicht tut, garantiert die jetzige Höhe der Regelleistung auch weiterhin die Existenz eines Lohnsegmentes in Sachsen-Anhalt im absoluten Dumpinglohn-Bereich. Weil aber dagegen auch 433 Euro oder 480 Euro nicht ausreichen werden, brauchen wir dazu flankierend den gesetzlichen Mindestlohn, der überhaupt erst einmal von mindestens 8,50 Euro das so genannte Lohnabstandsgebot erfüllen könnte, das ja von konservativer Seite an anderer Stelle häufig gefordert wird.  

Wir wissen nicht, wie die Entscheidung am nächsten Freitag im Bundesrat aussehen wird. Das liegt vor allem daran, dass bei den Grünen eine klare politische Position derzeit überhaupt nicht zu erkennen ist. Unabhängig von dieser Entscheidung wird dieses Thema jedoch auch in Zukunft Gradmesser dafür sein, wer es mit seinen sozialpolitischen Zielstellungen wirklich ernst meint oder für wen dies ein Thema für Sonntagsreden ist.