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Wulf Gallert zu TOP 20: 65. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus - Tag der Erinnerung, der Mahnung und zugleich Chance für ein demokratisches, friedliches und humanes Zusammenleben der Menschen und Völker

Meine Fraktion hat die Aktuelle Debatte zur Würdigung des 65. Jahrestages des 8. Mai, dem Tag der Befreiung von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, für die heutige Landtagssitzung eingereicht. Diese Aktuelle Debatte soll zum einen den historischen Fakt der Befreiung würdigen, zum anderen den Fraktionen Gelegenheit geben, zu den aktuellen Bezügen dieses Datums Stellung zu nehmen. Ich sage Ihnen gleich am Anfang, wir haben uns gewünscht, dass eine entsprechende Gedenkveranstaltung hier im Landtag anlässlich dieses Jahrestages stattfindet und hatten dies auch im Ältestenrat sowie gegenüber dem Präsidenten dargelegt. Da dies jedoch dort nicht auf Zustimmung stieß, wählen wir nun heute diesen Weg.

Ausgangspunkt fast jeder Betrachtung dieses Ereignisses ist ein Zitat des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, das ich auch hier in unserer Aktuellen Debatte zu Beginn einführen möchte: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung, er hat uns alle befreit vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welch schwere Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursachen für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Kriege führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“

Auch dieses Zitat ist bereits ein viertel Jahrhundert alt, aber die Auseinandersetzung um diese Bewertung des 8. Mai hält bis heute an und sie stellt auch heute keinen politischen Konsens in der Bundesrepublik Deutschland dar. Vielmehr flüchtet man sich sehr häufig in neutrale Begrifflichkeiten wie Kriegsende oder Zusammenbruch. Wer sich davon überzeugen will, kann sich einmal die Aktivitäten der Landeszentrale für politische Bildung anschauen, da findet man zum 65. Jahrestag der Befreiung gar nichts, und auch beim 60. Jahrestag des 8. Mai findet man kaum das Wort Befreiung, sondern meistens die Bezeichnung Kriegsende sowie eine Reihe von Publikationen über das schwere Nachkriegsschicksal von Menschen aus Sachsen-Anhalt.    

Woher kommt also dieser fehlende gesellschaftliche Konsens in der Bundesrepublik Deutschland, worin besteht eigentlich die Schwierigkeit mit dem Begriff Befreiung?  

Zu allererst müssen wir uns dessen erinnern, was 1945 zu Ende gegangen ist. Dort hatten wir in Deutschland das Ende einer zwölfjährigen Terror- und Gewaltherrschaft, die mit brachialer Gewalt jeden politischen Widerstand mit Terror und physischer Vernichtung auslöschte. Es war das Ende eines Systems des Völkermords an Juden, an Sinti und Roma, der systematischen Ausrottung von Homosexuellen und Menschen mit Behinderungen, das sich durch eine perfekte Planung und industriell funktionierende Effektivität auszeichnete. Ein System, das mit deutscher Gründlichkeit umgesetzt wurde. Darüber bedeutete der 8. Mai das Ende des zweiten Weltkrieges mit insgesamt 57 Mio. Toten, der größten Katastrophe der Menschheitsgeschichte überhaupt. Davon übrigens 27 Mio. tote Bürger der Sowjetunion.

Und trotzdem gibt es diese Scheu, den Begriff der Befreiung zu verwenden. Angesichts der Fakten neige auch ich zur Empörung über diese Diskussion. Sie ist aus meiner Sicht zwar berechtigt, aber sie hilft uns nicht wirklich weiter. Wir müssen uns also mit der Frage beschäftigen, warum sich eine Gesellschaft, die sich den Werten des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet fühlt und aus dieser Perspektive überhaupt kein Problem mit dem Begriff Befreiung haben dürfte, diese eigenartige Zurückhaltung auferlegt.

Nähern wir uns also diesem schwierigen Thema der deutschen Nachkriegsgeschichte. Zum einen müssen wir konstatieren, dass der deutsche Faschismus zwar für jeden politischen Gegner, jeden aufrechten Demokraten, jeden Humanisten eine tödliche Bedrohung darstellte, nicht aber für die Masse der Deutschen, zumindest bis zum Beginn des zweiten Weltkrieges durch die deutsche Wehrmacht. Bis hinein in die letzten Tage vor dem 8. Mai gab es unzählige Greueltaten auch von der Zivilbevölkerung, bspw. an geflohenen Kriegsgefangenen. Ich nenne in diesem Zusammenhang nur die so genannte Celler Hasenjagd.

Salomon Korn, der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland bezeichnet, wie andere auch, den deutschen Faschismus als Konsens-Diktatur. Sicherlich kann man angesichts der vielen Deutschen, vor allem jüdischer Abstammung, die bestialisch ermordet worden sind, darüber streiten, ob dieser Begriff angebracht ist. Aber er verweist natürlich auf ein Problem und zwar, dass es kurz nach Einführung der faschistischen Diktatur faktisch keinen nennenswerten Widerstand in der deutschen Bevölkerung gegeben hat.  Ja, sogar noch schlimmer: Die Identifikation mit dem Rassenwahn, dem Antisemitismus, die Zustimmung zu Terror, Gewaltherrschaft, Krieg und Völkermord war in der Zeit von 1933 bis 1945 erschreckend ausgeprägt. Die provokanten Thesen eines Götz Aly zu den Gründen der weitgehenden Identifikation der Deutschen mit den schlimmsten Menschheitsverbrechen in der Geschichte der Zivilisation mögen umstritten sein, aber an den historischen Fakten kommen wir alle nicht vorbei.
Ja, den 8. Mai 1945 wird zunächst nur eine Minderheit der Deutschen selbst als Befreiung empfunden haben, aber „doch gilt für alle Überlebenden: Sie waren befreit von den Schrecken des Krieges, sie waren befreit von der Rolle, die sie als Gefolgschaft eines mörderischen Regimes gespielt hatten, sie waren befreit von der Möglichkeit einer schandbaren Perspektive als Sklavenhalter Europas.“ So die historische Kommission meiner Partei anlässlich dieses 65. Jahrestages.

Sicherlich gibt es darüber hinaus Erfahrungen von Menschen in der Nachkriegszeit, die in die Betrachtung hier mit einfließen müssen. Auch die zum Teil völlig unbegründete Verfolgung von Deutschen durch die sowjetische Militäradministration in den Nachkriegsjahren. Aber auch hier erinnere ich an die Rede des ehemaligen Bundespräsidenten, der darauf verweist, dass diese nicht ohne die Ursachen des Vernichtungskriegs der deutschen Faschisten zu begreifen sind.

Wer dies nicht bedenkt oder wer gedankenlos oder absichtsvoll von der Kontinuität zweier deutscher Diktaturen spricht, verwischt diesen grundlegenden Zusammenhang und wird sich nie zu dem Charakter der Befreiung dieses 8. Mai 1945 bekennen können. Dieses Bekenntnis aber ist aus unserer Sicht unabdingbar notwendig, wenn wir den Geist des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland wirklich ernst nehmen. Und wir gehen darüber hinaus und unterstützen ausdrücklich die Initiative aus Mecklenburg-Vorpommern sowie der Koalitionsfraktionen aus Berlin, den 8. Mai als Tag der Befreiung in den Rang eines nationalen Gedenktages zu heben.