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Wulf Gallert zu TOP 03: Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Herr Prof. Dr. Böhmer zum Thema: „Sachsen-Anhalt - Das jüngste aller Bundesländer“

Mit dieser Regierungserklärung wird der Reigen der Veranstaltungen zu den 20. Jahrestagen fortgesetzt, der vor allem das letzte Kalenderjahr bestimmt hat. Diesmal betrifft es jedoch viel direkter die hier im Raum vertretenen Institutionen Landesregierung und Landtag. Es ist in gewisser Weise unser Jubiläum und insofern natürlich wert, mit einem besonderen Tagesordnungspunkt schon vor der Sommerpause bedacht zu werden.

Zu den entsprechenden historischen Daten ist bereits einiges gesagt worden, dies soll auch genügen. Interessant ist jedoch für uns heute die besondere Geschichte dieses Landes Sachsen-Anhalt im Vergleich zu den anderen neuen Bundesländern, die in viel umfangreicherem Sinne durch eine landsmannschaftliche und historische Identität geprägt sind. Andererseits ist auffällig, dass auch das Land Sachsen-Anhalt in gewisser Weise eine knapp 200jährige Geschichte als Verwaltungseinheit aufzuweisen hat. Interessant vor allem deshalb, weil die Fragen um die Existenzberechtigung eines solchen Landes auch schon genauso lange diskutiert worden ist, ohne dass dies dazu geführt hätte, es letztlich abzuschaffen. Schauen wir aber in die jüngere Geschichte hinein. Der unmittelbare Vorläufer unseres heutigen Landes wurde im Juli 1945 auf Befehl der sowjetischen Militäradministration geschaffen und im Juli 1952 durch ein entsprechendes Gesetz der DDR-Volkskammer aufgelöst. Basis unseres jetzigen Bundeslandes war wiederum ein fast auf den Tag genau 38 Jahre später verabschiedetes Gesetz zur Wiedereinführung der Länder, noch einen Monat vor dem Beschluss zum Beitritt der DDR zur BRD.  

Die wichtigste Motivation für die Bildung von Ländern als Basis für einen  föderalen Bundesstaat ist und bleibt die Idee der vertikalen Gewaltenteilung. Letztlich ist die Befürwortung dieser Grundidee ausschlaggebend für die Existenzberechtigung der Länder in der Bundesrepublik Deutschland.

Angesichts der aktuellen Diskussion muss dies erwähnt werden, weil dieses Prinzip der Gewaltenteilung in der Bundesrepublik Deutschland längst keinen Konsens mehr darstellt. Sicherlich ist es richtig, darauf hinzuweisen, dass die zentralistischen Machtstrukturen in der DDR eine wirkliche Gewaltenteilung - also auch die unterschiedlicher territorialer Ebenen - nicht kannte und deswegen die politische Selbstständigkeit der Länder durch die Verwaltungsstrukturen der Bezirke ersetzte. Andererseits gibt es auch parlamentarische Demokratien, die neben dem Zentralstaat nur noch die Kommune als politische Ebene kennen. Auch unter den Siegermächten, die ab 1945 die Neubildung der Länder veranlassten, gab es eigentlich nur einen originären föderalen Bundesstaat, die USA. Frankreich und Großbritannien verstanden sich ohnehin traditionell als Zentralstaaten. Bei der Sowjetunion waren die Abläufe in der Realität andere als in der formellen Struktur, ansonsten wäre dieses Gebilde in den 90er Jahren nicht so schnell auseinander gefallen. Trotzdem gab es unter den Siegermächten den Konsens zur Einführung einer föderalen Struktur in Deutschland, auch daraus motiviert, die Wiedererstehung eines aggressiven faschistischen Staates zusätzlich zu erschweren. In diesem Sinne ist die Existenz von Ländern mit eigenem politischen Gestaltungsspielraum und der damit verbundenen zusätzlichen, also horizontalen Gewaltenteilung ein besonderer Gewinn für die demokratische Verfasstheit einer Gesellschaft. Dieser Grundsatz wird, was die kommunale Selbstverwaltung anbelangt, allgemein akzeptiert, zumindest, solange es nicht um Finanzen geht. Bei der Ebene der Bundesländer erodiert die Überzeugung, dass es sich hier um einen demokratischen Gewinn handelt. Wir alle wissen um die Vorwürfe der Kleinstaaterei, den Ruf nach den einfachen und klaren zentralistischen Lösungen und der Infragestellung ihrer Institution. Darum handelt es sich übrigens letztendlich bei der Debatte um das Teilzeitparlament.   

Ich sage es hier ausdrücklich, diese Debatte geht quer durch alle Bevölkerungsschichten und durch alle Parteien. Ich will aber hier an dieser Stelle genauso deutlich sagen, und zwar im Namen meiner gesamten Fraktion, dass wir den Verlust der politischen Selbstständigkeit der Länderebene als massiven Verlust an demokratischen Gestaltungsmöglichkeiten bewerten, der durch nichts zu rechtfertigen wäre.

Wer jedoch in Sachsen-Anhalt politische Verantwortung hat, und das haben wir alle, egal, ob in der Koalition oder nicht, muss natürlich auf ein erhebliches Gefahrenpotenzial, das in diesem föderalen Staatsaufbau steckt, hinweisen und entsprechend gegensteuern. Jawohl, wir sind für die politische Selbstständigkeit der Bundesländer, auch insbesondere Sachsen-Anhalts, allerdings nicht im Sinne eines Wettbewerbsföderalismus, der nur zur Konsequenz hätte, dass soziale und ökonomische Differenzen in der Bundesrepublik Deutschland permanent größer werden. Deshalb wäre es übrigens auch völlig falsch, eine Länderkompetenz auf der Ebene der Steuerpolitik einzuführen, dies hätte genau wie auf der Ebene der europäischen Union zur Folge, dass die Länder in einem Dumping-Wettbewerb versuchen würden, Ansiedlungspolitik über einen ruinösen Wettbewerb zu organisieren.

Dem gegenüber stehen wir für einen solidarischen Föderalismus ein, der in selbstständiger Verantwortung der Länder die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland zum Ziel hat.

Ich habe diesen Teil hier absichtlich so ausführlich dargestellt, weil es meines Erachtens in der aktuellen gesellschaftlichen Debatte eben nicht vor allem darum geht, ob das Land Sachsen-Anhalt bei irgendeinem fantasievollen Dynamikranking zwei Punkte vor oder hinter den anderen ostdeutschen Bundesländern liegt, sondern letztlich um die Frage, ob es bei der Bevölkerung überhaupt noch eine Akzeptanz für die Demokratieebene der Länder gibt oder ob wir nicht alle mit der Situation konfrontiert sind, dass unsere gesellschaftliche Legitimation in Frage gestellt wird.

Wir sind hier nicht nur der Meinung, dass dieses Problem einer zu großen Kompetenzverlagerung auf die Ebenen der europäischen Union und des Bundes geschuldet ist. Sicherlich ist diese These auch in meiner Partei, zumindest solange die Landespolitiker unter sich sind, durchaus mehrheitsfähig, und wir beklagen völlig zu Recht die so genannten goldenen Zügel in der Finanzpolitik, die uns Bund und EU anlegen. Allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen, scheint es nicht wirklich der Kern des Problems zu sein. Wenn denn wirklich Bund und EU so übermächtig wären, müssten ja deren Abgeordnete ebenfalls mit einer ungeheuren Machtfülle ausgestattet sein. Aber schauen Sie sich einmal die Rolle des Bundestages in den letzten Monaten an. Die Kollegen dort können nur noch staunend berichten, wie dreistellige Milliardensummen innerhalb weniger Tage im Bundestag zur Entscheidung geführt werden, u. a. mit solchen Begründungen wie: „Man muss diese Gesetze jetzt schnell durchbringen, bevor am Montag früh die Börse wieder öffnet. Die Märkte verlangten schließlich ein solches Zeichen.“ Darin, liebe Kolleginnen und Kollegen, kommt für uns das eigentliche Dilemma zum Ausdruck. Substanzielle gesellschaftliche Weichenstellungen werden eben nicht mehr durch die Politik getroffen, sondern sind den Kräften des Marktes überantwortet worden. Und dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist kein Naturgesetz, sondern Folge bewussten politischen Handelns, ist letztlich Folge von Deregulierung und schlankem Staatsverständnis, wie es seit einiger Zeit EU-weit dominant ist.

Es ist diese Selbstentmachtung von Politik, die in der Bevölkerung gerade Sachsen-Anhalts sehr wohl reflektiert wird. Dies ist die eigentliche Ursache von niedriger Wahlbeteiligung gerade im kommunalen Bereich und auf der Landesebene. Dies ist auch die Ursache für die geringe Kompetenzzuschreibung der Menschen an Politik, und zwar über alle politischen Ebenen hinweg.

Vor diesem Hintergrund gibt es letztlich zwei Möglichkeiten zu reagieren: Entweder man ergibt sich diesem Prozess und setzt ihn organisatorisch um und gibt den Gestaltungsanspruch von Politik, insbesondere auf der Landesebene, auf, dann braucht man übrigens maximal noch ein Teilzeitparlament, aber dann braucht man in Wahrheit auch keine Landesregierung, dann braucht man nur noch eine Verwaltungsstelle, die politisch alternativlos bürokratische Vorgaben umsetzt. Das aber, werte Kolleginnen und Kollegen, ist nicht unser Ziel.

Wir wollen die Rückholung wichtiger gesellschaftlicher Entscheidungen in die politische Ebene. Wir wollen sie demokratisch legitimierten Entscheidungsgremien wie diesem Landtag zuordnen. Wir wollen, dass die Menschen hier wie in den Kommunen Lösungskompetenz und die dafür notwendigen Ressourcen vorfinden und deren Wirkungen erleben. Nur über diesen Weg wird es langfristig möglich sein, eine wachsende Identifikation der Menschen mit diesem Land zu erreichen.