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Wulf Gallert zu TOP 02: Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Prof. Dr. Böhmer zum Thema: „Zur Freiheit befreit“

Die Regierungserklärung des Ministerpräsidenten gibt die Gelegenheit zu einer von der Tagespolitik abgehobenen Diskussion über die Grundwerte unserer Gesellschaft. Sie wird in einer Zeit gegeben, in der die 20sten Jahrestage des Gedenkens an die friedliche Revolution uns alle auf die eine oder andere Weise beschäftigen. Sie wird aber auch in einer Zeit gegeben, die viele, auch konservative Politiker, als die schwerste Krise, deren Auswirkungen uns ebenfalls in der aktuellen Tagespolitik, wie bspw. die Haushalts-Debatte, intensiv beschäftigen.  

Insofern ist es nicht verwunderlich, dass es eine breit angelegte gesellschaftliche Debatte über die Grundwerte und Entwicklungsperspektiven unserer Gesellschaft gibt. Wir verfallen ausdrücklich nicht der Illusion, dass die Politik sozusagen als Avantgarde entsprechende Zielvorstellungen entwickeln kann, um sie der Gesellschaft als Schablone vorzugeben. Solche Illusionen gab es einmal und sie sind zu Recht gescheitert. Vielmehr müssen wir begreifen, dass wir als Politik Teil dieser gesellschaftlichen Debatte sind, an vielen Stellen übrigens eher das Resultat als die Initiatoren.

Deswegen ist es auch überhaupt nicht verwunderlich, dass unterschiedliche Parteien nicht nur unterschiedliche Wertehierarchien, gesellschaftliche Analysen und Zielvorstellungen vertreten, denn sie sind Ausdruck eben dieser Unterschiede in der Gesellschaft. Die eigentliche Herausforderung ist es daher, diese Diskussion nicht primär mit den Begriffen falsch und richtig bzw. gut und schlecht zu führen, sondern offen zu legen, welche Grundwerte und Interessenlagen und natürlich auch Zielvorstellungen hinter unterschiedlichen politischen Konzepten stehen.    

Die wahre Kunst ist es jedoch, dann mit diesen Unterschieden in einer pluralen Gesellschaft produktiv umzugehen, also eine Mehrheitsfindung zu ermöglichen, von der jedoch die Mehrheit wissen muss, dass sie keinen Anspruch auf Objektivität erheben kann und dass sie sich irren kann. Insofern ist die größte mentale Herausforderung in einem solchen Diskussionsprozess das Wissen um die Möglichkeit, selbst zu irren und die Anerkennung des Rechts des anderen, sich irren zu dürfen.

Der Titel der Aktuellen Debatte des Ministerpräsidenten versucht, die Ereignisse der Jahre 1989 und 1990 mit dem Begriff der Freiheit zu strukturieren. Er knüpft dabei an eine intensive Diskussion um die Befähigung der Gesellschaft zum Gebrauch der Freiheit an.

Wir schlagen dagegen ein anderes begriffliches Ordnungssystem vor, nämlich das Verhältnis von Freiheit und Gerechtigkeit.

Dabei erkennen wir ausdrücklich an, dass die friedliche Revolution vor 20 Jahren sich ganz zentral auf die Erlangung der Freiheit konzentrierte. Ihre Abwesenheit hat den individuellen Protest von tausenden, später von hunderttausenden Menschen hervorgerufen. Ihre Abwesenheit hat das politische System der DDR erst erstarren und dann versteinern lassen, ihre Abwesenheit hat das wirtschaftliche System der sozialistischen Staaten insgesamt zusammen brechen lassen.

Jedoch wurde auch in den Jahren 1989 und 1990 sehr schnell deutlich, dass Freiheit allein kein gesellschaftlicher Gegenentwurf ist. Insofern war es auch völlig logisch, dass diejenigen, die die friedliche Revolution in der DDR herbeigeführt haben, sich sehr schnell in fast allen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen und Parteien wieder fanden, weil man sehr wohl glaubwürdig für die Erlangung von Freiheit eintreten kann, obwohl man sehr unterschiedliche gesellschaftliche Zielvorstellungen hat.

Und das, worüber hier heute diskutiert wird, sind genau diese Alternativen und nicht die Sicherung von Freiheit an sich, die unter uns strittig wäre. Dies wäre anders, wenn wir hier in Sachsen-Anhalt so wie in Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern die NPD im Parlament hätten.

An dieser Stelle kommen wir zu einem ganz zentralen Dissens zwischen der Bewertung des Ministerpräsidenten und uns. Herr Böhmer, Sie vertreten nun seit einigen Jahren die These, dass eine Gesellschaft, die frei ist bei der Verteilung von Ressourcen, bei der Garantie sozialer Gerechtigkeit, bei der Gewährung von sozialer Sicherheit an ihre Grenzen stößt, diese gesellschaftlichen Zielvorstellungen also nur sehr beschränkt umsetzen kann, weil sie ansonsten in eine Diktatur verwandelt wird. Ich sage ausdrücklich, wir teilen diese Position nicht, wir halten sie sogar für ausgesprochen gefährlich. Unsere gesellschaftliche Zielvorstellung bleibt eine Gesellschaft, in der Freiheit und Gerechtigkeit gleichwertige Grundwerte darstellen, ja sich gegenseitig bedingen.

Wie aber sehen die Menschen in Sachsen-Anhalt diese Zusammenhänge und wie bewerten sie diese Diskussion? Dazu gibt uns der Sachsen-Anhalt-Monitor 2009, wie bereits im Jahr 2007, wichtige Anhaltspunkte. Auch wir machen ganz bestimmt nicht den Fehler, einzelne Zahlen als 100%ig verbindliche Arbeitsgrundlage anzunehmen, aber es zeichnet sich schon ein komplexes Bild zur Positionierung der Bevölkerung in Sachsen-Anhalt ab. Und ich persönlich glaube, ausdrücklich anders als viele Politiker, in ihrer Reaktion auf den 1. Sachsen-Anhalt-Monitor nicht, dass diese Positionen, wenn sie denn von den Mehrheitspositionen im Parlament abweichen, Ausdruck fehlender oder mangelnder politischer Bildung sind, sondern vielmehr Ausdruck einer gesellschaftlichen Realität, die sich für viele anders darstellt, als wir es gern sehen wollen.

Lassen Sie mich hier nur einmal die Reflektion der Institutionen benennen, die hier unmittelbar vertreten sind, nämlich Landtag und Landesregierung. Es gibt, glaube ich, niemanden ernst zu nehmenden, der an der legitimen Entstehung dieser beiden Institutionen zweifelt. Wir haben ein Wahlgesetz, das freie gleiche und geheime Wahlen garantiert. Wir hatten ein Wahlverfahren für diese Landesregierung über die Wahl eines Ministerpräsidenten, das für jeden klar und nachvollziehbar ist, also zwei Institutionen, die direkt bzw. indirekt vom Souverän dem Wähler konstituiert werden. Bei der Befragung, ob man in diese Institutionen Vertrauen hat, antworteten beim Landtag nur 37 % mit Ja und bei der Landesregierung 41 %. Das stimmt in etwa mit der Wahlbeteiligung 2006 überein, bedeutet aber seit 2007 für den Landtag noch einmal einen Vertrauensverlust von 2 %-Punkten und bei der Landesregierung 4 %-Punkte. Im Vergleich zum Jahr 2000 wird der gravierende Vertrauensverlust dieser beiden Institutionen bei der Bevölkerung in Sachsen-Anhalt noch deutlicher. Da sind es 15 %-Punkte bei der Landesregierung und 20 %-Punkte beim Landtag. Ein solch dramatischer Vertrauensverlust kann und darf von uns nicht ignoriert werden. Er stellt aus unserer Sicht eine Krise des politischen Systems dar und das, obwohl rechtsstaatliche Gewaltenteilung, freie Wahlen und bürgerliche Freiheitsrechte garantiert sind.

Um einem solchen Vertrauensverlust jedoch entgegen wirken zu können, der übrigens bei den Bundesinstitutionen, zumindest langfristig, ähnlich verläuft, muss man über die Ursachen diskutieren. 2007 hat in der öffentlichen Diskussion noch die Meinung vorgeherrscht, dieses mangelnde Vertrauen wäre Ausdruck fehlender politischer Bildung der Bürger in Sachsen-Anhalt und wir müssten ihnen das alles nur richtig erklären, dann wird das schon wieder. Nun habe ich mich selbst einige Jahre intensiv mit der politischen Bildung beschäftigt und sage Ihnen mit diesem Hintergrund, dass dies ein substanzieller Trugschluss ist.

Vor allem wäre nicht zu erklären, warum der Ansehensverlust demokratischer politischer Strukturen mit dem größer werdenden Abstand zur DDR wächst. Wir müssen den Wahrheiten ins Auge sehen, unser Ansehensverlust ist Resultat der größer gewordenen politischen Erfahrungen und Kompetenzen der Bürger in Sachsen-Anhalt und eben nicht Ausdruck politischer Unerfahrenheit.

Bei der Analyse der Ursachen des Vertrauensverlustes helfen uns einige andere Zahlen aus dem Sachsen-Anhalt-Monitor. Nämlich die Frage, inwiefern die Menschen in Sachsen-Anhalt ihre Probleme und Sichten durch uns repräsentiert sehen. Hier hat sich die Situation seit 2007 nicht wesentlich verändert. 71 % sind in Sachsen-Anhalt der Meinung, dass sich die Parteien für ihre Ansichten nicht interessieren, 64 % meinen, dass sich die Politiker nicht um einen engen Kontakt zur Bevölkerung bemühen, 74 % glauben, dass den Politikern egal ist, was die einfachen Leute denken, und ebenso viel, also dreiviertel der Bevölkerung, sind der Meinung, dass sie keinerlei Einfluss auf die politischen Institutionen in diesem Land haben.

Und dann ist es nicht verwunderlich, dass dieser Eindruck besonders stark bei denjenigen ist, deren persönliche Lebenssituation durch Arbeitslosigkeit gekennzeichnet ist.

Hier wird ganz offensichtlich, dass die institutionellen Garantien zur freien politischen Betätigung zwar eine notwendige Voraussetzung für die Wahrnahme politischer Interessen, aber eben bei weitem nicht die hinreichende ist. Dafür gibt es eine Reihe von anderen Faktoren, die ausschlaggebend sind. Dazu gehören die Rahmenbedingungen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, zur Möglichkeit von Kommunikation und Darstellung der eigenen politischen Perspektive auf die Gesellschaft. Dazu gehört das Verfügen über bestimmte materielle Ressourcen, die Einbindung in soziale Netzwerke, ja, und letztlich auch Bildung im umfassenden Sinne, also der Besitz von intellektuellen und kulturellen Voraussetzungen für die Partizipation in der Gesellschaft.

Nun ist auch das nicht wirklich neu und wahrscheinlich sind diese Aussagen auf abstraktem Niveau auch mehrheitsfähig. Das Problem besteht nur darin, dass der Vertrauensverlust des politischen Systems, so wie es real existiert, genauso voran schreitet, wie die soziale Polarisation dieser Gesellschaft. Und hier verbinden sich soziale Gerechtigkeit und Freiheit. Hier wird die Gewährleistung von sozialer Gerechtigkeit zur Voraussetzung der Nutzung von Freiheitsrechten, insbesondere der Freiheit, sich politisch zu betätigen. Deshalb sehen wir es als unsere Aufgabe an, diese Voraussetzungen über politische Rahmenbedingungen zu verfolgen.  

Politische Bildung im umfassenden Sinne bedeutet deshalb für uns zu allererst soziale Gerechtigkeit für den Erwerb der Voraussetzungen zur politischen Betätigung, bedeutet für uns also den gleichen Rechtsanspruch für alle Kinder, für die Bildungsstätte Kindergarten, bedeutet für uns gemeinsam längeres Lernen statt einer sozial determinierten Trennung der Schüler in verschiedene Schulformen, bedeutet für uns, den Zugang zum Hochschulstudium von den materiellen Voraussetzungen des Elternhauses unabhängig zu machen. Dies ist der Kern von politischer Bildung, so wie wir ihn sehen. Darauf aufbauend kann man dann noch die Struktur und die Grundsätze des politischen Systems vermitteln. Hierin sehen wir den untrennbaren Zusammenhang zwischen sozialer Gerechtigkeit und Freiheitsrechten, die sich einander bedingen und eben nicht unversöhnlich gegenüber stehen.

Wir sind der Meinung, dass diese Sichtweise und darauf aufbauende politische Konzepte sehr viel nachdrücklicher eine freiheitliche Gesellschaft stabilisieren und legitimieren als die Gegenüberstellung von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. Wie gefährlich ein solches Herangehen ist, belegt übrigens ebenfalls der Sachsen-Anhalt-Monitor in dem Kapitel zur DDR-Reflektion. Dort steht auf Seite 79: „Andererseits hält sich in der kollektiven Erinnerung ein Bild der DDR, das eine Diktatur mit sozialen Zügen darstellt: Man geht menschlicher miteinander um (77 %), war gegen Fährnisse des Lebens besser abgesichert (57 %) und hatte teil an staatlichen Segnungen, die gerechter verteilt waren (56 %) sowie dabei bessere Bildungschancen (49 %), ein leistungsfähigeres Gesundheitswesen (54 %), eine bessere Kinderbetreuung (68 %) und überdies war ein wirksamerer Schutz gegen Kriminalität und Verbrechen garantiert (57 %).“

Man kann sicher im Einzelnen über all diese Dinge diskutieren, aber die Menschen reflektieren hier ihre eigenen Biografien, und es ist nicht sonderlich sinnvoll, ihnen zu erzählen, wie falsch sie das tun. Natürlich ist es richtig, darauf hinzuweisen, dass die Rahmenbedingungen für diese als positiv bewerteten Seiten genauso zum politischen System der DDR gehörten wie diejenigen, die mit deutlicher Mehrheit abgelehnt worden sind, wie z. B. das Fehlen der persönlichen Freiheit, der niedrigere Lebensstandard, das politische System, das Ausgeliefertsein gegenüber staatlicher Willkür. Aber ich warne ausdrücklich davor, den Verlust von positiv bewerteten Lebensumständen vor 1989 als zwingende Konsequenz der Gewinnung der Freiheit hinzustellen.

Das ist schon deshalb völlig falsch, weil auch in der Geschichte der Bundesrepublik eine bessere Absicherung der gesellschaftlichen Teilhabe nie zu einer Einschränkung von Freiheitsrechten geführt hat, wie z. B. die Ausweitung der Bildungsangebote in den 70er Jahren.

Das Problem in der Reflektion der Bevölkerung von Sachsen-Anhalt besteht nämlich darin, dass die Menschen vor die Wahl gestellt, ob ihnen nun Freiheit oder Gleichheit wichtiger ist, zwar noch mehrheitlich die Freiheit bevorzugen, aber bei der Gegenüberstellung von Freiheit und Sicherheit mehr als zwei Drittel die Freiheit zu Gunsten der Sicherheit zurückstellen würde. Und das, obwohl „die große Mehrheit der Sachsen-Anhalter überzeugt ist, dass die Demokratie die beste aller Staatsideen sei. Ebenso überwiegt ganz eindeutig die Zufriedenheit mit der Verfassungsordnung des Grundgesetzes.“

Offensichtlich sind die Bürger von Sachsen-Anhalt viel überzeugter als Sie, Herr Böhmer, dass die freiheitlich demokratische Grundordnung in der Lage ist, Freiheit, Gleichheit und Sicherheit miteinander zu verbinden. Wir möchten die Menschen in diesem Land in dieser Überzeugung bestärken und werden alles dafür tun, die Grundlagen für diese Überzeugung zu verbessern im Interesse der vor 20 Jahren gewonnen Freiheit und im Interesse der Menschen hier in Sachsen-Anhalt.