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Wulf Gallert zu TOP 01: Armutsrisiken in Sachsen-Anhalt

Die heutige Aktuelle Debatte ist notwendig geworden, weil eine Reihe von Vergleichskennziffern der sozialen und ökonomischen Situation des Landes Sachsen-Anhalt in den letzten Wochen dazu angetan sind, die Koalition auf den Boden der Realität zurück zu holen.

Eine der entscheidenden Fragen für die Politik ist die, ob sie überhaupt noch in der Lage ist, die Realitäten in einem Land wahr zu nehmen und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. In der letzten Zeit kommen berechtigte Zweifel auf, ob die Regierung, insbesondere aber einige Vertreter der CDU, dazu noch in der Lage sind. Es wird versucht, ein Bild von der aktuellen Situation in Sachsen-Anhalt zu zeichnen, nachdem wir kurz vor der Einführung paradiesischer Zustände stehen würden. Da meint man also, dass man Sachsen-Anhalt vom Image der grauen Maus mit der roten Laterne befreit und es zum dynamischsten Bundesland Deutschlands gemacht hat. Manche meinen sogar, dass Sachsen-Anhalt inzwischen das Aufsteigerland im Herzen Europas wäre, dass es inzwischen der interessanteste Wirtschaftsstandort in den neuen Bundesländern sei und dass nun endlich die Zeit vorbei wäre, in der das Land Sachsen-Anhalt als schwaches und hilfsbedürftiges Bundesland galt.

Nun kann ja jede Partei und jede Fraktion für sich ihren Maßstab für eine Bestandsanalyse in Sachsen-Anhalt bestimmen. Ich sage mit aller Deutlichkeit, wir richten uns dabei nicht nach fantasievollen Rankinglisten und Insider-Tippgebern, sondern nach der realen Lebenssituation der Menschen in diesem Land. Auch wirtschaftliche Entwicklung ist übrigens in unseren Augen kein Selbstzweck. Letztlich entscheidend ist, was bei den Menschen ankommt, wie ihre konkrete Lebenssituation aussieht, welche Ressourcen sie für die Entfaltung ihrer Persönlichkeit mobilisieren können.

Hier sprechen die harten Fakten eine andere Sprache als die Erfolgsmeldungen aus dem Wirtschaftsministerium.

Eine der wichtigsten Kennziffern ist dabei der Anteil der Menschen, deren materielle Existenzgrundlage so beschnitten ist, dass ihnen große Bereiche der gesellschaftlichen Teilhabe verwehrt bleiben. Die Sozialwissenschaften haben dafür inzwischen international anerkannt, die 60-Prozent-Marke des Durchschnittseinkommens definiert. Ja, und um das gleich zu sagen, wenn das Durchschnittseinkommen steigt, steigt natürlich auch die 60-Prozent-Grenze. Aber mit dem Durchschnittseinkommen steigen natürlich auch Preise und die Vielfalt gesellschaftlicher Teilhabemöglichkeiten. Und von denen ist man eben ausgeschlossen, selbst dann, wenn man in einem Land lebt, in dem 60 Prozent, gemessen am Einkommen anderer Länder, auch noch eine ganze Menge ist.

Die jüngsten Zahlen dazu besagen, dass Sachsen-Anhalt nach Mecklenburg-Vorpommern das Land mit dem zweitgrößten Anteil, nämlich 21,8 Prozent, gemessen am Bundesdurchschnittseinkommen, ist. Bei der Reihenfolge hat sich hier seit 2005 nichts geändert, wohl aber im Vergleich der neuen Bundesländer. Während 2005 der Anteil von Menschen mit Armutsrisiken in Sachsen-Anhalt 2 Prozent über dem Durchschnitt der ostdeutschen Länder lag, sind es jetzt 2,3 Prozent. Mit Ausnahme des Landes Sachsen haben die anderen ostdeutschen Länder ihre Armutsquote deutlich stärker senken können als Sachsen-Anhalt in dieser Zeit.

Was ist also geschehen in diesem Zeitraum, in dem wir doch angeblich solch eine hervorragende Entwicklung genommen haben, in dem doch laut Aussage der CDU die Arbeitslosigkeit am stärksten gesunken ist und überhaupt alles ganz hervorragend läuft?

Wie kann es denn nun eigentlich sein, dass das Land Sachsen-Anhalt, das doch angeblich die höchste Arbeitsproduktivität unter den ostdeutschen Bundesländern hat, gleichzeitig das Dumpinglohn-Land Nummer 1 in der Bundesrepublik Deutschland ist, wie uns erst vor kurzem das Bundesamt für Statistik bescheinigt hat? Wo bleiben denn die Gewinne aus dieser hohen Arbeitsproduktivität, wenn sie ganz offensichtlich bei den Arbeitnehmern nicht ankommen, zumindest in deutlich geringerem Maße als in den anderen ostdeutschen Flächenländern? Um diese Fragen zu beantworten, muss man sich die Einkommenssituation in Sachsen-Anhalt etwas genauer anschauen. Und da bleibt dann natürlich zu aller erst festzuhalten, dass die großen Einkommensunterschiede noch immer zwischen den ost- und westdeutschen Flächenländern existieren.

Innerhalb der ostdeutschen Länder spielt Sachsen-Anhalt bei der Einkommensverteilung aus Arbeit noch mal eine besondere Rolle. Neben den allgemeinen ostdeutschen Strukturproblemen zeichnet sich der Arbeitsmarkt in Sachsen-Anhalt durch eine besondere Lohnspreizung aus. Während wir im Bereich der Vollzeitjobs im schwachen ostdeutschen Durchschnitt der Stundenlöhne liegen, liegt Sachsen-Anhalt im Bereich der Teilarbeitszeitverhältnisse mehr als 1 Euro darunter. In diesem Bereich gibt es in Sachsen-Anhalt besonders viele schlecht bezahlte Arbeitsverhältnisse. Diese drücken das durchschnittliche Einkommensniveau der Arbeitnehmer im gesamten Land auf den letzten Platz und führen natürlich auch innerhalb von Sachsen-Anhalt noch einmal zu einer erheblichen sozialen Polarisation. Und so wundert es da nicht, dass auch der Anteil der Bevölkerung, der weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Landeseinkommens von 694 Euro für eine Einzelperson zur Verfügung hat, mit 15,2 Prozent unter den ostdeutschen Ländern der höchste ist. Das heißt also, dass, obwohl Sachsen-Anhalt ohnehin schon das zweitniedrigste Durchschnittseinkommen hat, die soziale Spreizung bei uns größer ist, als in den anderen neuen Bundesländern.

Das ist die reale Situation der Leute in diesem Land Sachsen-Anhalt. Diese Zahlen sind für uns der Ausgangspunkt für alternative politische Ansätze und wir wissen, dass wir mit dieser Einschätzung nicht allein dastehen. Auch Mitglieder der SPD scheinen hier eine deutliche Änderung  in der Landespolitik für nötig zu erachten. Da schreibt z. B. der SPD-Landesverband Folgendes: „Das Mitglied des Landesvorstandes der SPD Andreas Steppuhn warf Haseloff vor, Sachsen-Anhalt regelrecht zu einem Billiglohnland ausbauen zu wollen. Wer gegen Mindestlöhne und Tariftreuegesetze ist, und ständig im Ausland bei Investoren mit Billiglöhnen werbe, treibe Lohn- und Sozialdumping voran.“
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können da dem Herrn Steppuhn nur zustimmen, möglicherweise sollte man ihm aber einmal den Hinweis geben, dass der Kollege Haseloff nicht ganz allein am Kabinettstisch sitzt.

Was muss also getan werden, um an dieser Situation wirklich etwas zu ändern? Als erstes benötigen wir in der Bundesrepublik einen gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro, der in der Perspektive auf 10 Euro steigen muss, um Armut in Arbeit zumindest zu begrenzen. Wer vor dem Hintergrund der realen Situation in den klassischen Niedriglohnbereichen im Dienstleistungssektor davon spricht, dass sich die Tarifparteien darum kümmern sollen und genau weiß, dass der Organisationsgrad vor allem der Gewerkschaften aber auch der Arbeitgeber so ist, dass vernünftige Tarifverhandlungen faktisch unmöglich sind, der soll ehrlich sagen, dass er Löhne von 4 oder 5 Euro gut findet, dass er gut findet, wenn über 70.000 Menschen, die in diesem Land arbeiten, ihren Lebensunterhalt ergänzend vom Jobcenter beziehen müssen. Das wäre dann zumindest ehrlich.

Darüber hinaus brauchen wir in diesem Land Sachsen-Anhalt ein Vergabegesetz, dass auch nach dem berühmten Rüffert-Urteil, wie andere Bundesländer es uns zeigen, Tarifbindungen ermöglichen kann und darüber hinaus einen gesetzlichen Mindestlohn festlegen könnte, wie es bereits in anderen Bundesländern praktiziert wird.

Des Weiteren brauchen wir eine Bindung der Investitionsförderung des Landes Sachsen-Anhalt, nicht nur an der Entstehung neuer Arbeitsplätze, die ja auch aufgehoben gewesen ist, sondern an Arbeitsplätze, von denen man in Würde leben kann. Es darf in unserem Land nicht mehr passieren, dass Unternehmen Wirtschaftsfördermittel aus der GA und Europäischen Fonds erhalten, danach Dumpinglöhne zahlen und die öffentliche Hand wiederum für den Lebensunterhalt der dort Beschäftigten aufkommen muss.

Neben dem Bereich des Niedriglohnsektors haben die sozialen Sicherungssysteme in Sachsen-Anhalt einen erheblichen Einfluss auf die Einkommenssituation der Menschen im Land. Eines der größten Probleme entsteht in absehbarer Zeit im Bereich der Rentenversicherung. Die gebrochene Arbeitsbiografie vieler Menschen und die bereits diskutierten Niedriglöhne auch in der Vergangenheit sowie die gesetzliche Reduzierung der Rentenansprüche insgesamt bilden nicht nur für viele ältere Bürger persönlich, sondern auch für die gesamte älter werdende Gesellschaft in Sachsen-Anhalt eine substanzielle Bedrohung. Auch in diesem Zusammenhang sind steigende Durchschnittslöhne in unserem Land und bundesweit die notwendige Voraussetzung für eine perspektivische Verbesserung dieser Situation.

Daneben bilden die Kürzungen der Bundesregierung im Bereich der sozialen Transferleistungen und der aktiven Arbeitsmarktpolitik eine weitere Bedrohung für die soziale Situation in Sachsen-Anhalt. Die Einkommen der Menschen in Sachsen-Anhalt werden allein aus diesen Einsparmaßnahmen in den nächsten vier Jahren jährlich um rund 200 Mio. Euro sinken, wie der Sozialatlas des DPWV ergeben hat. Auch hier ist wiederum Sachsen-Anhalt am zweitstärksten von allen Bundesländern betroffen. Pro Person ist die Belastung durch die Einsparvorhaben der Bundesregierung im sozialen Bereich viermal höher als in Bayern. Deshalb wundert es auch nicht, dass der Sprecher der ostdeutschen Unternehmerverbände Hartmut Bunsen dieses Sparkonzept als sozial unausgewogen bezeichnet, und er weist völlig zu Recht auf die überdimensionale Schwächung des ostdeutschen Binnenmarktes hin. Eine Politik im Interesse dieses Landes muss deshalb klar eine Absage an dieses Sparpaket der Bundesregierung beinhalten und auch die Kollegen der CDU und der FDP werden hier vor Ort im hohen Maße unglaubwürdig, wenn sie dieses Vorhaben der Bundesregierung unterstützen.

Darüber hinaus muss hier noch einmal eindeutig festgestellt werden, dass diese Kürzungen eindeutig Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise sind, für die es eine Menge Schuldige gibt, aber mit Sicherheit nicht diejenigen, die hier jetzt zur Kasse gebeten werden. Es ist ohnehin schon ein sozialpolitischer Skandal, diese Kürzungen vorzunehmen und damit die Armutsrisiken in unserem Land substanziell zu vergrößern. Dass darüber hinaus jedoch keine Erhöhung des Spitzensteuersatzes, keine Erhöhung der Erbschaftssteuer, keinerlei Vermögenssteuer, keine Stärkung der Körperschaftssteuer umgesetzt wird, verschärft die soziale Polarisierung in der Bundesrepublik noch einmal deutlich, und sie vergrößert die Unterschiede zwischen Sachsen-Anhalt und den reichen westlichen Bundesländern erheblich. Wenn diese Landesregierung die Interessen des Landes wirklich vertreten will, muss sie gegen dieses Sparpaket der Bundesregierung alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, ansonsten macht sie sich überflüssig.