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TOP 18: Einschätzung des Ministerpräsidenten Prof. Dr. Böhmer zum Zusammenhang zwischen Kindstötungen in den neuen Bundesländern und den gesetzlichen Regelungen von Schwangerschaftsabbrüchen in der DDR nach 1972

Meine Fraktion hat diese Aktuelle Debatte beantragt, weil die Diskussion zu diesem Thema auf der heutigen Landtagssitzung unabdingbar ist, und ich bin mir ziemlich sicher, ihr Verlauf und ihr Ausgang werden für sehr viele Menschen in Sachsen-Anhalt wichtiger sein als vieles, was wir sonst in diesem Landtag tun. Ich glaube auch, dass dies nachvollziehbar ist, weil die Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen von Kindstötungen eine der sensibelsten überhaupt ist, zumal dann, wenn sie mit den Biografien verbunden wird, die die Menschen in diesem Land haben. Bevor wir jedoch in die Bewertung einsteigen, ist es noch einmal wichtig festzuhalten, worüber wir hier reden. Wir reden über zwei autorisierte Interviews, eine Kurz- und eine Langfassung von Prof. Böhmer, in denen u.a. Folgendes zu lesen ist:

Die Frage lautet: Immer neue Kindstötungen in den neuen Ländern – zuletzt drei Fälle innerhalb einer Woche in Brandenburg – schrecken die Öffentlichkeit auf. Der Kriminologe Pfeifer behauptet, die Wahrscheinlichkeit eines Babys, umgebracht zu werden, ist in den neuen Ländern drei- bis viermal so hoch wie im Westen. Warum?

In der zur Rede stehenden Kurzfassung stand von Herrn Böhmer folgende Antwort:

Ich erkläre mir das vor allem mit einer leichtfertigeren Einstellung zu werdendem Leben in den neuen Ländern. In der DDR wurde 1972 der Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Woche freigegeben. Die Frauen entschieden, ohne sich auch nur einmal erklären zu müssen. Das wirkt bis heute nach. Es kommt mir so vor, als ob Kindstötungen von Neugeborenen, die es allerdings schon immer gab, für manche ein Mittel der Familienplanung seien.

Als diese Aussage von Herrn Ministerpräsident Böhmer am Sonntag und Montag bekannt wurde, waren die Reaktionen eindeutig. Nicht nur Frauen, die in der DDR gelebt haben, fühlten sich durch diese Aussage völlig zu Recht angegriffen und reagierten entsprechend und zumindest zu diesem Zeitpunkt gab es in Sachsen-Anhalt noch keine erkennbare Differenz zwischen der Reaktion der Menschen in diesem Land und den dazu befragten Politikern.

In dieser Phase gab dann der CDU-Fraktionsvorsitzende Herr Scharf eine Pressemeldung heraus, in der die Aufforderung enthalten war, sich nicht auf die von den bösen Medien verbreitete Fassung zu beziehen, sondern das ausführliche und längere Interview des Herrn Böhmer zur Grundlage zu nehmen. In diesem antwortete Herr Böhmer auf die gleiche Frage wie folgt: Zunächst aus einer statistischen Aneinanderreihung folgt noch keine Kausalität, dennoch ist die Häufung nicht zu leugnen. Ich erkläre sie vor allem mit einer leichtfertigeren Einstellung zum werdenden Leben in den neuen Ländern. In der DDR wurde 1972 der Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Woche freigegeben. Die Frauen entschieden ganz allein. Manche kamen grinsend zu uns ins Krankenhaus und sagten nur „wegmachen“, weil sie einen Platz für einen Urlaub an der Schwarzmeerküste hatten. Eine solche Einstellung zum Leben wirkt bis heute nach. Es kommt mir so vor, als ob Kindstötungen, die es allerdings schon immer gab, ein Mittel der Familienplanung seien.

Jawohl Herr Scharf, Sie hatten recht, auch ich hätte besser auf die Langfassung warten sollen, bevor ich meine erste Bewertung abgegeben habe, denn nach dieser Fassung des Interviews musste ich mich schon fast rechtfertigen, nicht deutlich genug reagiert zu haben.

Und nun ist zu lesen und zu hören, dass alle auf eine Erklärung bzw. Klarstellung dieses Interviews von Herrn Böhmer am heutigen Tag warten.

Herr Böhmer, ich sage das in aller Deutlichkeit, das tun wir bei Ihnen nicht mehr. Aus unserer Sicht waren Sie in diesem Interview absolut klar und verständlich. Die Antworten sind auch nicht so kompliziert, als dass sie noch sonderlich viel Erklärung bedürfen.

Nein, der Chefarzt a.D. hat gesprochen, er weiß ja, wie das damals so war in der DDR, und er weiß natürlich auch, mit welcher Motivation in der DDR damals abgetrieben wurde.  Und natürlich weiß er auch, dass dies heute die dominante gesellschaftliche Rahmenbedingung für Kindstötungen in den neuen Bundesländern ist. So ist das nun mal. Und jeder, der das nicht so sieht, hat wahrscheinlich wieder einmal keine Ahnung, ist zu jung oder hat ein zu positives gefärbtes DDR-Bild.

Vor allem im Osten trifft dies auf erhebliche Empörung, ja manchmal sogar Wut. Viele Menschen, nicht nur, aber vor allem Frauen, fühlen sich moralisch herabgesetzt, und diejenigen, die vor oder nach der Wende einen Schwangerschaftsabbruch realisieren mussten, fühlen sich kriminalisiert, da ihre Entscheidung unmittelbar in den Zusammenhang zu Kindstötungen gebracht wird.

Aber diese Empörung ist natürlich nicht die ausschließliche Reaktion. Wenn man sich das dazu stehende Forum in der Zeitschrift „Focus“ anschaut, liest man auch eine ganze Reihe unterstützender Positionen zu den Äußerungen von Herrn Böhmer. Ich will Ihnen zwei sehr typische Reaktionen vorlesen: Böhmer hat Recht, da kann es gar keinen Zweifel geben. In dem SED-Unrechtstaat DDR war es eben für viele Frauen gar keine großartige Sorge, sich ggf., wenn es nicht passte, das Ungeborene binnen drei Monaten einfach abzutreiben. Aus dieser Unkultur heraus entwickelte sich eine seelenlose Einstellung zum Ungeborenen bzw. zum Kleinstkind/Säugling. Eine weitere Reaktion lautet wie folgt: Böhmer gebührt Respekt für den Mut, die Dinge beim Namen zu nennen. Pränatale und postnatale Kindstötung ist nur ein gradueller, kein prinzipieller Unterschied. Kommunistische Diktaturen definieren den Wert des Menschen durch seine Arbeitsleistung. Das Kind und die Mutterschaft sind keine Werte an sich.

Ja, Herr Böhmer, Sie haben es wirklich geschafft, als Kronzeuge für die arrogantesten Vorurteile gegenüber Ostdeutschen und ihren Biografien gelten zu können. Und natürlich wird dort Ihr Interview mit Dank aufgenommen, schließlich hat das nicht irgendwer gesagt, sondern der Chefarzt a.D., der heute Ministerpräsident dieses Landes ist. Und wenn selbst der das sagt, na, dann muss es ja doch wohl stimmen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens, dass Sie zwar für Kindstötungen im Osten sehr mutig die These vertreten, dass die Folge der Regelungen für Schwangerschaftsabbrüche bei den Eltern bzw. Großeltern der jetzigen Müttergeneration liegt, aber gleichzeitig andere Zusammenhänge nicht sehen oder völlig ausschließen.

Typisch für Sie ist, und das darf nun wirklich niemanden mehr überraschen, dass die Väter in diesem Interview nicht vorkommen. Nein, es waren ja schließlich die Frauen, die grinsend zu Ihnen kamen. Nun sagen zwar alle, die sich mit diesen Dingen wirklich wissenschaftlich beschäftigen, dass eine defekte Partnerschaftsbeziehung ein ganz dominanter Faktor für solche Verbrechen ist, aber das ficht Sie natürlich nicht an. Und dann wissen Sie natürlich auch ganz genau, dass Arbeitslosigkeit und die daraus entspringenden sozialen Krisen nichts mit Kindstötungen zu tun haben. Schließlich bringen nicht alle Arbeitslosen ihre Kinder um.

Aber Leute, die sich ernsthaft mit diesem Thema beschäftigen, sagen, dass soziale Existenzängste, mangelnde Ressourcen für die Bewältigung von Krisen, mangelnde Fähigkeit zur Kooperation mit unterstützenden Strukturen, ja oftmals auch die Angst vor den Ämtern, die eigentlich diese Unterstützung organisieren sollen, weitere wichtige Faktoren sind, die bei Kindstötungen eine Rolle spielen.

Nur Herr Böhmer, wenn man darüber nachdenken würde, müsste man ja vielleicht hinterfragen, ob gesellschaftliche Ursachen für solche Verbrechen hier und heute nicht auch Ergebnisse von politischen Entscheidungen sind, die Sie mitgetragen und mitgetroffen haben. Das wäre allerdings verdammt unbequem. Und da verlagert man die Ursachen doch mal schnell in die DDR und schon ist man wieder einmal über jeden Selbstzweifel erhaben.

Und da kommen wir schnell zu einem nächsten Punkt und das ist das DDR-Geschichtsbild. Sie haben vor einigen Tagen die Kampagne „Hingucken und Einmischen“ vorgestellt und als einen der wesentlichen Punkte, der zur Herausbildung eines demokratischen Bewusstseins in der Bevölkerung angepackt werden muss, die Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte benannt. Wir unterstützen diese Kampagne, übrigens auch die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, die eigenartigerweise immer nur die Geschichte meiner Partei und nicht die der Ihren ist. Aber ich sage Ihnen ganz deutlich, nach diesem Interview wird so langsam klar, was für ein Geschichtsbild Sie da meinen. Und ich sage Ihnen mit aller Deutlichkeit, das werden wir nicht zulassen. Wir werden niemals ein Bild von der DDR akzeptieren, nach dem der Umgang mit Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbrüchen so verantwortungslos war, dass sie in einer Langzeitwirkung eine Affinität zur Kindstötung bewirken.

Völlig zu Recht fühlen sich übrigens nicht nur diejenigen angegriffen, die in der DDR lebten. Ich höre die Empörung durchaus auch von der nachfolgenden Generation, die sich einfach von Ihnen nicht unterstellen lassen will, dass ihre Eltern sie durch eine defekte Eltern-Kind-Beziehung geprägt haben. Ganz zu schweigen von denjenigen, die vielleicht wirklich in diese Situation gekommen sind, eine Schwangerschaftsunterbrechung durchführen zu müssen, weil sie sonst keinen Ausweg mehr wussten. Weil sie sich in einer Situation befanden, die Sie Herr Böhmer, wahrscheinlich weder vor oder nach der Wende selbst je erlebt haben oder sie sich auch nur vorstellen können.

Nun habe ich in den letzten Tagen auch gehört, dass Sie solche pauschalen Urteile nie fällen wollten. Das Problem besteht nur darin Herr Böhmer, warum haben Sie es dann getan?

Wenn Sie einen solchen Eindruck bei den Menschen im Osten wirklich nicht hinterlassen wollten, dann fehlt Ihnen eine der wichtigsten sozialen Kompetenzen, die auch für Politiker unabdingbar ist, nämlich die Fähigkeit der sozialen Perspektivenübernahme. Wenn Sie sich nicht vorstellen konnten oder können, welche Reaktionen Ihre Äußerungen hier in Sachsen-Anhalt und im Osten insgesamt in der Bevölkerung haben werden, wenn Sie nun vielleicht überrascht sind, wie viele Menschen sich hier betroffen fühlen, dann haben Sie eindeutig den Draht zu diesen Menschen verloren.

Nun werden wir, anders, als Sie es eigentlich angekündigt hatten, seit gestern wieder mit verschiedenen Interviews von Ihnen zu diesem Sachverhalt konfrontiert. Der Grund dafür scheint neben der allgemeinen Empörung wohl auch der politische Druck zu sein, weniger von uns, als vielmehr aus den eigenen Reihen der Koalition. Im Wesentlichen wird da von Ihnen erwartet, dass Sie das widerrufen, was sie beim „Focus“ gesagt haben.

Und siehe da, plötzlich antworten Sie ganz anders. In einem Interview ist heute zu lesen, dass Sie auf die Frage der Verbindungslinie zwischen sorgloser Abtreibungspraxis und Kindstötung folgendes sagen: „Vielleicht gibt es diesen Zusammenhang, aber gewiss nur in Einzelfällen.“

Dieses Ausmaß an Opportunismus, Herr Böhmer ist für mich zumindest neu. Am Freitag letzter Woche waren Sie doch da noch ganz anderer Meinung. Nur glauben wir, dass die Situation dadurch nicht wirklich besser wird, dass diese von mir zitierte Antwort eher Ausdruck politischer Taktik ist. Ihre Glaubwürdigkeit wird dadurch keinesfalls verbessert.

Wenn Sie aber den Draht zu den Menschen hier in Sachsen-Anhalt verloren haben und wenn Ihre Glaubwürdigkeit im Zweifel steht, dann Herr Ministerpräsident, sollten Sie in Ihrem und unserem Interesse zurücktreten!