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TOP 17: Wissenschaftliche Begleitung des Qualifizierten Programms zur Schulsozialarbeit im Rahmen des ESF-Programms „Projekte zur Vermeidung von Schulversagen und zur Senkung des vorzeitigen Schulabbruchs 2007 – 2013“

2008 soll nun endlich das in der Überschrift genannte Programm anlaufen. Unser  Antrag zielt darauf, dass sich die Landesregierung genau festlegen soll, wie dieses neue Schulsozialarbeitsprogramm konkret wissenschaftlich begleitet werden soll; vage Ankündigungen, z. B. von Frau Ministerin Kuppe im Bildungskonvent, hat es gegeben, mehr ist bisher nicht bekannt geworden.

Das vorherige Programm dieser Art von 1998-2003 ist ebenfalls wissenschaftlich begleitet worden. Die Schlussfolgerungen daraus sollen im jetzigen neuen Programm umgesetzt werden  -  das ist löblich und deshalb ist es umso wichtiger, dass diesmal ohne Zeitvergeudung ähnlich verfahren wird.

Schulsozialarbeit ist uns sehr wichtig. Die Aussagen dazu im derzeit gültigen Schulgesetz (§1/Abs. 4a) haben wir in unserem Entwurf eines Schulreformgesetzes, das wir bereit liegen haben, noch prononcierter (§2/Abs.11) formuliert. Nachlesen können Sie das, wenn Sie unsere Homepage im Internet besuchen.

Bereits 2006 wurde im Koalitionsvertrag ein qualifiziertes Programm für Schulsozialarbeit angekündigt, inzwischen ist dieses Vorhaben mit dem ESF-Programm (s. Antragstitel) verknüpft worden. Das ist durchaus vernünftig, weil dadurch 59 Mio. € ESF-Mittel zur Verfügung stehen. Mehrere Mio. € sind davon nicht fest verplant. Auf Nachfrage in der Haushaltdebatte, wofür das Geld gedacht sei, bekamen wir keine konkrete Antwort: mal sehen, eventuell für Verwaltungsaufgaben u. ä.  Wir sind der Meinung, dass davon die wissenschaftliche Begleitung des Programms bezahlt werden kann und muss.

Eine Schlussfolgerung aus der wissenschaftlichen Begleitung des letzten Programms ist z. B. die Einrichtung von 14 Netzwerkstellen, die aber wohl eher nicht in der Lage sein werden zu wissenschaftlicher Begleitung; sie werden mit Vernetzen und Verwalten ausgelastet sein, könnten aber Datenbasis liefern für wissenschaftliche Auswertungen.

Damit ist nicht eine statistische Datenbasis für Schulversagen und vorzeitigen Schulabbruch gemeint, da ist die Datenlage ja bekannt. Ich nenne hier nur einige Zahlen, um Wichtigkeit unseres Antrages zu unterstreichen:

Nach den Angaben des MK verließen 2006/07 6.257 von 26.470 Schulabgängern die Schule unterhalb des Realschulabschlusses (etwa jeder 4.) und 2.768 von 26.470 Schulabgängern ohne HS-Abschluss (etwa jeder 10.), letztere kommen etwa zur Hälfte aus dem Sekundarschulbereich und auch aus dem Förderschulbereich; die andere Hälfte aus den GB- und LB-Schulen (nur LB: 1110).

Freilich, ich könnte die Zahlen auch umdrehen und positiv ausdrücken, denn mehr als 20.000 Schüler verlassen die Schule mit einem Abschluss, aber 2.768 Schulabgänger ohne Abschluss sind eben 2.768 zu viel.

Ich will mir hier nicht anmaßen, den wissenschaftlichen Institutionen, die eine solche Begleitung übernehmen würden, Ratschläge zu geben, aber ich will ein paar Beispiele nennen, was Schulpraktiker sich wünschen:

bereits vorhandene Studien und Forschungsergebnisse zu bündeln und für Schule zugänglich zu machen, evtl. auch als Unterstützung und Ergänzung der Empfehlungen, die vom Bildungskonvent kommen sollen.

Sachsen-Anhalt-spezifisch zu untersuchen: Wo liegen hier die Wurzeln für Schulversagen und Schulabbruch? Wann und wo beginnt die Misserfolgsspirale, die Spirale der Angst?                                                 

Ich will das an einem Beispiel deutlich machen: Die IGLU-Lesestudie bescheinigt deutschen Viertklässlern relativ gute Lesekompetenz, das heißt, sie können Texte verstehen und nach ihnen handeln. Sie erreichen immerhin einen Platz im ersten Viertel der 45 Teilnehmerstaaten mit relativ geringer Standardabweichung. Die PISA-Studie bescheinigt den deutschen Fünfzehnjährigen nach dem Desaster von 2000 und nach Verbesserungen in den letzten beiden Studien (2003 und 2006)  endlich OECD-Durchschnittswerte, allerdings mit der deutschen Besonderheit der größten Standardabweichung, das heißt der höchsten Unterschiede zwischen sehr guten und sehr schlechten Leistungen. Was also passiert zwischen dem 10. und dem 15. Lebensjahr, dass schulische Leistungen im Schnitt absinken, dass bereits Beherrschtes wieder verlernt wird, dass die Leistungsstarken zwar besser werden, die Schwachen aber noch schwächer? Warum haben wir in Deutschland 4 Millionen erwachsene funktionale Analphabeten? Warum lesen Jungen schlechter als Mädchen? Warum sind überhaupt mehr Jungen als Mädchen in Schule gefährdet? Das alles müsste wissenschaftlich untersucht werden, ganz zu schweigen von dem, was uns die PISA-Kommission immer wieder ins Hausaufgabenheft schreibt:  der auffällige Zusammenhang von sozialer Herkunft und Schulerfolg.

Förderschulen: Dass Schüler mit geistigen Behinderungen spezielle Schulen brauchen, scheint logisch; mit körperlichen Behinderungen nicht unbedingt. Aber: Warum haben wir in Sachsen-Anhalt den höchsten Anteil an lernbehinderten Schülern? Er ist doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Vermehrt gibt es verhaltensauffällige Schüler, Schüler mit sozial-emotionalen Defiziten. Was steckt hinter solchen Lernbehinderungen? Sind sie organisch bedingt?  Stecken äußere Einflüsse dahinter, die nicht erkannt werden und auf die falsch oder nicht reagiert wird? Das könnten Nahrungsunverträglichkeiten, Umwelteinflüsse, Bewegungsmangel, familiäre Konflikte, eigene persönliche Konflikte (Misserfolgsspirale! Schulangst! Minderung des Selbstwertgefühls!) usw. sein. Oder sind diese Kinder gar nicht lernbehindert, sondern werden am Lernen behindert? Zum Beispiel durch falsche Schulorganisation, durch lernhinderliche Unterrichtsmethoden usw., bis sie schließlich verhaltensauffällig sind, schulmüde werden und ihre schulische Laufbahn als Schulabbrecher oder gar als Schulverweigerer beenden? Wenn genauer hingeschaut würde und wenn Schule durch optimale Bedingungen gute individuelle Förderung leisten könnte, würden vermutlich viele Lernbehinderte in der Regelschule bis zu Realschulabschlüssen kommen. Warum geht dieser Prozess des integrativen oder inklusiven Unterrichtens in unserem Land so schleppend voran?  Individuelles Fördern und integratives Unterrichten sind Schwerpunkte in unserem Schulkonzept, neben längerem gemeinsamen Lernen und dem polytechnischem Prinzip. Auch das Schulkonzept können Sie im Internet auf unserer Homepage nachlesen.

Lernprozess selbst: Warum finden sich in der Praxis so wenig Beispiele dafür, dass Ergebnisse der Hirnforschung bewusst im Unterricht für das Lernen genutzt werden? Seit einiger Zeit existiert die Bundesinitiative NIL ((Neuroscience - Instruction - Learning). Wie wird sie in Sachsen-Anhalt  genutzt?

Das alles und manches mehr möchten Schulpraktiker wissenschaftlich beleuchtet haben. Plakative Antworten von Leuten, die Schule nur als Schüler und später als Mutter bzw. Vater oder nur vom Schreibtisch kennen, haben wir genug; gegenseitige Schuldzuweisungen haben wir auch genug. Wir brauchen jemanden, der vorurteils- und lobbyistenfrei auf das System Schule schaut und herauszufinden versucht, warum Schule das, was sie fordert, zurzeit nicht leistet, nicht leisten kann. Aber Schule muss das, was sie fordert, auch selbst leisten. Wer denn sonst? Dort sitzen die Profis.

Wir können uns auch nicht damit zufrieden geben, dass die private Nachhilfe boomt  -  so sehr ich den Leuten  dort ihre Arbeitsplätze gönne. Aber privat bezahlte Nachhilfe treibt die soziale Schere noch mehr auseinander.

Dringend müsste herausgefunden werden, was Lehrer hindert, das zu tun, was ihre eigentliche Profession ist: Schülern zu Erfolgen verhelfen. Was macht Lehrer lustlos und krank? Was untergräbt ihr Berufsethos? Was verhindert ihre Lust oder ihre Kraft oder ihre Zeit zu individueller Förderung?

Also gilt es, unaufgeregt zu erkunden: Was läuft schief in Schule, bei den Schülern,  bei den Lehrern, bei den Eltern, bei der Schulverwaltung, bei der Lehrerausbildung, bei der Lehrerfort- und  -weiterbildung, bei der Schulaufsicht, im Ministerium …?

Von dort kommt manches gute Projekt, aber einzelne Projekte  -  so gut jedes für sich sein mag  -  sind kein Heilmittel auf lange Sicht: Was wir Schulpraktiker brauchen, ist eine kluge und unvoreingenommene Zusammenschau aller Erkenntnisse und vor allem ein von Empathiefähigkeit getragenes Miteinander-reden-Wollen aller an Schule Beteiligten. Was wir Schulpraktiker nicht brauchen, ist das überhebliche Anweisen von Entscheidungen, die fern von Schule getroffen werden, und ist das Abblocken ehrlicher Gespräche über Schule durch irgendwelche Lobbyisten, denen diese Empathiefähigkeit abhanden gekommen ist.

Was junge Leute brauchen, ist die Möglichkeit, in der Schule nicht nur Sachkompetenz, sondern auch Selbst- und Sozialkompetenz erwerben zu können.

Was sie dabei besonders brauchen, ist das Gefühl, eine Perspektive zu haben, und das Gefühl, dabei individuelle Erfolge erreichen zu können. Nur so entsteht Motivation, und nur durch Motivation entsteht Leistung, und nur durch Leistung entstehen Erfolge, und nur durch Erfolge entsteht Selbstbewusstsein im Sinne von sich des Wertes seines Selbst bewusst sein. Und nur wer sich selbst achtet, kann auch Achtung vor anderen empfinden.

Das alles müsste wissenschaftlich ergründet, zusammengefasst, systematisiert und mit klugen Schlussfolgerungen für die Praxis versehen werden. Deshalb werbe ich für unseren Antrag. Dann braucht man „nur noch“ mutige Entscheidungsträger, die fern von jeder arroganten Polemik solche Schlussfolgerungen realisieren würden. Die können hier leider nicht beantragt werden.