Thomas Lippmann zu TOP 5: Aktuelle Debatte ‐ Wir brauchen Jede und Jeden ‐ Bildungswende gegen den Fachkräftemangel!
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir brauchen Jede und Jeden! Das war die schlichte Erkenntnis, als in Finnland vor etwa 50 Jahren ein grundlegendes und parteiübergreifendes Umdenken in der Bildungspolitik einsetzte. In einem Schulfrieden, der seinen Namen tatsächlich verdiente, wurden damals mit breiter politischer und gesellschaftlicher Mehrheit die Weichen für die Schulen neu gestellt. 25 Jahre später, im Jahr 2000, als Deutschland seinen ersten PISA-Schock erlebte, waren die Finnen weltweit Spitzenreiter – und sie sind es bis heute.
Deutschland dagegen erlebte erst vor Kurzem einen 2. PISA-Schock, als im Herbst des letzten Jahres im IQB-Bildungstrend die Rückschritte bei den Deutschkenntnisse in den Grundschulen auf den Tisch kamen. Und vermutlich stehen wir gerade kurz vor unserem 3. PISA-Doppelschock. Denn erst wird im Oktober der nächste IQB-Bildungstrend die Entwicklung in den Bundesländern in Deutsch und den Fremdsprachen in der 9. Klasse offenlegen, bevor dann im Dezember die weltweiten Ergebnisse der neuesten PISA-Studie präsentiert werden. Alles spricht dafür, dass es hier für uns wenig zu feiern gibt.
In Finnland mit seinen damals nicht einmal 5 Mio. Einwohner war allen schnell klar, dass sieeinfach Jede und Jeder brauchen, wenn sie als Gesellschaft und Ökonomie bestehen wollen. Jede und Jeder musste ein möglichst hohes Bildungsniveau erreichen, niemand durfte mehr im Bildungssystem ausgesondert und abgehängt werden.
Wir dagegen leisten es uns schon viel zu lange, dass jedes Jahr tausende Kinder und Jugendliche in unseren Schulen scheitern. Klassenwiederholungen, Förderschulüberweisungen, Schulabgänge ohne Schulabschluss und abgebrochene Berufsausbildungen sind wie in kaum einem anderen Bundesland gerade bei uns kennzeichnend für das Schul- und Ausbildungssystem. Etwa 50.000 Schulabgänge ohne Schulabschluss gibt es bundesweit, über 2.000 waren es zuletzt bei uns und das jedes Jahr! Dieser fehlende Bildungserfolg schadet den betroffenen Kindern und Jugendlichen massiv und verbaut ihnen bessere Perspektiven. Dadurch werden aber auch die ökonomischen Potenziale des Einzelnen und des Landes insgesamt beschnitten.
Der ausufernde Arbeitskräftemangel zeigt, dass auch wir inzwischen Jede und Jeden mit dem bestmöglichen Bildungsniveau brauchen, um unsere ökonomische Basis in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zu sichern. Und in der Tat wäre eine bessere Bildung – von Anfang an und für alle – ein entscheidender Beitrag gegen die wachsende Armut in unserer reichen Gesellschaft – wer wollte dem Bundesfinanzminister da widersprechen. Nur ist es von ihm eben nichts als hohles Geschwätz, denn er tut nichts dafür und die Koalition tut nichts dafür – weder im Bund noch hier im Land.
Denn anders als die Finnen halten wir weiter unbelehrbar an unseren bisherigen ineffizienten Bildungsstrukturen und vor allem an der massiven Unterfinanzierung des Bildungssystems fest. Von einer Bildungsrepublik ist weit und breit nichts zu sehen. Statt konsequent in das Bildungssystem und insbesondere in die individuelle Förderung zu investieren, damit Bildungsdefizite frühzeitig überwunden werden, sucht man die Lösungen für das Arbeitskräfteproblem immer nur außerhalb des Bildungssystems. Es wird versucht Arbeit dort preiswert einzukaufen, wo Qualifikation schon vorhanden ist und nicht erst geschaffen werden muss.
So wird zum Beispiel im Bildungsministerium gejubelt, weil 16.000 Euro für eine Lehrkraft vom Headhunter immer noch preiswerter sind, als die Lehrkraft selbst auszubilden, da wird der Seiteneinstieg für Lehrkräfte zum Normalfall und die Wochenarbeitszeit der vorhandenen Lehrkräfte wird durch Zwang ausgeweitet, weil das alles preiswerter ist als die Lehramtsausbildung an den eigenen Universitäten bedarfsgerecht auszubauen und auszufinanzieren.
Statt in Wirtschaft und Gesellschaft die dringend notwendige Debatte zu führen, wie sich Bildungschancen und damit Qualifikationen für alle verbessern lassen, wird vor allem kurzsichtig gefordert, Teilzeitarbeit einzuschränken und das Rentenalter noch weiter anzuheben. Und so wichtig es angesichts der demographischen Entwicklung auch ist, Arbeitsmigration zu erleichtern und auszuweiten, so darf dies nicht als Ersatz dafür herhalten, dass man sich weiterhin zu wenig um die Ausbildung derjenigen kümmert, die schon im Land sind – egal ob hier Geborene oder Migranten.
Die Suche nach Lösungen muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden und das geht nicht mit einem Basta-Schulgipfel! Was ist uns da Anfang des Jahres nicht alles vorgegaukelt worden. Mit einer verpflichtenden Vorgriffstunde, einem Arbeitszeitkonto und einem freien Personalbudget, mit Abordnungsprämien und mit Schul- und Digitalassistenten sollte die Lücke in der Lehrkräfteversorgung gestopft werden und alles sollte gut sein. Doch die Realität ist mehr als ernüchternd.
Lediglich in den Gymnasien und Gesamtschulen, wo die Probleme allerdings auch am kleinsten waren, da konnte die Unterrichtsversorgung mit der Vorgriffstunde vorrübergehend auf etwa 100% verbessert werden. Aber in den Schulen der Sekundarstufe I und teilweise in den Grundschulen herrscht trotz des ganzen Maßnahmepakets immer noch „Land unter“. Offiziell immer noch nur 88% in den Sekundarschulen – und aufgrund der ganzen bedarfsmindernden Maßnahmen sind das real nur etwa 75% – das, liebe Kolleginnen und Kollegen ist ein Desaster! Und sollten auch noch die Klagen gegen die Vorgriffstunde Erfolg haben, dann haben wir hier nur noch ein Trümmerfeld.
Dem Bildungsministerium gleiten die Schulen der Sekundarstufe I aus den Händen. Es bleibt unklar, welche Reparaturmaßnahmen als nächste ergriffen werden, um diese Schulen noch zu retten. Die Zeche für die Schulpolitik der letzten 20 Jahre zahlen die Generationen von Schülerinnen und Schülern, die heute und noch mindestens in den nächsten 10 Jahren in unsere Schulen gehen. Und das auch nur dann, wenn es jetzt die Einsicht und die Bereitschaft für eine echte Bildungswende gibt, die eine breite politische und gesellschaftliche Basis hat.
Wir befinden uns mitten in einer existenzbedrohenden Bildungskrise. Das ist nicht nur die Einschätzung von uns und auch nicht nur hier in Sachsen-Anhalt. Immer öfter liest und hört man in überregionalen Medien und Publikationen von einer Bildungskatastrophe. Bundesweit mobilisiert ein breites Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen und Initiativen für einen Protesttag gegen den Niedergang des Bildungssystems. So wie in Duzenden Städten wird in 14 Tagen auch in Halle eine Bildungswende gefordert werden. Dieser Protest muss endlich als ein letzter Weckruf ernst genommen werden. Wir können nicht mehr so weitermachen, wie bisher.
Deshalb hat das Bündnis „Den Mangel beenden! Unseren Kindern Zukunft geben!“ vor einer Woche alle relevanten bildungspolitisch interessierten Organisationen eingeladen, zusammen mit den zuständigen Landespolitikern und Landesministerien in einem Bildungsforum einen breiten bildungspolitischen Dialog über Wege aus der Schulkrise zu führen. Denn es geht um das wichtigste Gut, das wir haben, die Bildung unserer Kinder und Jugendlichen und damit um die Zukunft von uns allen. Ich werbe dafür, dieses Diskussionsangebot anzunehmen und diese Chance nicht zu verspielen.