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Matthias Höhn zu TOP 25 b): 20 Jahre sachsen-anhaltisches Bildungssystem

Ich habe mir in Vorbereitung auf diese Diskussion das eine oder andere Protokoll über frühere Landtagsdebatten angeschaut, vor allen Dingen die Protokolle über die Diskussionen in den Jahren 1992/1993, als die Novellierung des Schulgesetzes anstand. In der damaligen Diskussion gab es einen Gesetzentwurf der PDS-Fraktion zur Novellierung des Schulgesetzes. Kurz danach folgten auch die Gesetzentwürfe der Landesregierung - schwarz-gelb damals - und auch der SPD-Fraktion.

Und zur Überraschung oder vielleicht auch nicht zur Überraschung stellt man fest: Die grundsätzlichen bildungspolitischen Differenzen, die wir heute in diesem Haus mitunter haben, waren schon damals sehr deutlich spürbar. Die Landesregierung hat die Einführung des gegliederten Schulsystems damals mit den Worten kommentiert: Eine neue Schulepoche in Sachsen-Anhalt! Einmaliges Beispiel in der deutschen Schulgeschichte! Bildungspolitik des Landes Sachsen-Anhalt als Exportschlager in die Schweiz!

Die Antwort der GRÜNEN lautete damals, es reiche nicht, ein westdeutsches System quasi zu übernehmen, noch dazu ein konservatives, man kann sagen, wilhelminisches. Sie sehen, dass sich manche Dinge in 20 Jahren nicht geändert haben.

Ich möchte einen Punkt aus dem damaligen PDS-Entwurf hervorheben, der mir bemerkenswert scheint. In diesem PDS-Entwurf gab es ein sehr klares Plädoyer für die konzeptionelle Freiheit der einzelnen Schulen und die Schulautonomie. Das sind Worte, die uns auch heute sehr bekannt vorkommen. Bemerkenswert war die damalige Kritik der CDU. Für sie war das viel zu viel Freiraum und viel zu wenig Regelung. Offensichtlich hat schon damals der Geist der Vollzugsbehörde Einzug in das Kultusministerium gehalten. Das ist etwas, was sich leider bis heute gehalten hat.

Unser Bildungssystem war in den letzten 20 Jahren erheblichen Veränderungsprozessen unterworfen. Mit dem Rückgang der Schülerzahl um rund 50 % waren zahlreiche Schulschließungen und Schulfusionen verbunden. Das führte dazu, dass wir zwischenzeitlich einen erheblichen Personalüberhang hatten. Mittlerweile steuern wir auf einen erheblichen Personalmangel zu. Das hat unsere Schulen deutlich bewegt und auch den Bildungserfolg nachhaltig belastet.

Jetzt lassen Sie mich etwas zu den Reformbemühungen sagen, die in diesen 20 Jahren stattgefunden haben.
Wer so tut, als hätten wir nicht durchgängig 20 Jahre lang, vom Beginn bis zum Ende, dem Grunde nach ein gegliedertes Schulsystem gehabt, der täuscht sich. Die Grundsubstanz des gegliederten Schulsystems ist Anfang der 90er Jahre eingeführt worden und wir haben es bis heute.
Es ist im Jahre 2010 irgendwann auch ein bisschen müßig, jeden Mangel, den Sie beklagen, darauf zurückzuführen, dass wir Ende der 90er Jahre für einen kurzen Zeitraum hier in diesem Land eine Förderstufe hatten. Sie sollten sich mittlerweile auch einmal etwas Neues einfallen lassen.
Ich gebe Ihnen Recht darin, dass diese Reformbemühungen im Ergebnis Stückwerk geblieben sind. Und ich glaube, dass sowohl die SPD-Fraktion als auch meine Fraktion diese Bemühungen heute etwas anders angehen würden.

Jetzt schauen wir uns einmal 20 Jahre danach an, wie es mit diesem vermeintlichen Exportschlager aussieht. Wie ist die Situation heute? Wir haben in Sachsen-Anhalt sehr erfolgreiche Schulen, die sich an Wettbewerben beteiligen und Preise erzielen. Wir haben engagierte Schülerschaften in Sachsen-Anhalt. Ich erinnere an die vielen Initiativen, die wir in den Schulen haben, zum Beispiel im Kampf gegen Rassismus. Wir haben in den letzten Jahren zehntausende Schülerinnen und Schüler erfolgreich aus unserem Schulsystem entlassen und auf den Weg zum Studium oder in die Berufsausbildung geschickt. Dafür gilt natürlich allen daran Beteiligten mein herzlicher Dank.

Aber das Folgende gehört dazu. Die Daten entnehme ich nicht durchaus hervorragenden Broschüren meiner Partei, ich entnehme sie einmal dem Bildungsbericht der Landesregierung aus dem Jahr 2010 und dem Ländervergleich.
Der Exportschlager Sachsen-Anhalt bewegt sich genauso wie Deutschland insgesamt nach wie vor im internationalen Mittelfeld. Die Orientierung daran ist alles andere als zielführend. Wir haben in der Bundesrepublik und genauso in Sachsen-Anhalt mit der Tatsache zu tun, dass mittlerweile jedes vierte Kind auf der Kompetenzstufe 1 oder darunter liegt. Das ist ein schulpolitischer Befund, den wir nicht hinnehmen dürfen. Vielmehr müssen wir daraus unsere Konsequenzen ziehen.
Ein Anteil von 12,1 % der Schülerinnen und Schüler des Jahrganges 2008 hat die Schule sogar ohne Hauptschulabschluss verlassen. Zwei Drittel dieser 12,1 % sind Jungen. Das ist eine Geschlechterdifferenz im Bildungssystem in Sachsen-Anhalt, die dramatisch ist, vor allen Dingen wenn man sich anschaut, wie der Bildungserfolg im Bereich der Hochschulreife ist. Dort dreht sich das Verhältnis nämlich um, wir haben überwiegend Mädchen.  

Wir hatten im Schuljahr 2008/2009 trotz der begabungsgerechten Zuweisung, von der Sie immer sprechen, an den Gymnasien in Sachsen-Anhalt eine Wiederholerquote zu verzeichnen, die 50 % über dem Bundesdurchschnitt liegt.  
Ein Anteil von 7,8 % aller Schülerinnen und Schüler besucht Förderschulen. Das ist ein einmaliger Spitzenwert in der Bundesrepublik Deutschland. Und wenn Sie einen Blick in den Ländervergleich zur sprachlichen Kompetenz werfen, dann lesen Sie dort, dass in Deutschland die Chance eines Kindes mit mindestens einem Elternteil aus der oberen Dienstklasse, das Gymnasium zu besuchen, bei gleicher Lesekompetenz um einen Faktor von 4,5 größer ist als die eines Kindes von leitenden Arbeiterinnen und Arbeitern oder solchen mit Fachausbildung. Mit diesem Befund werden wir uns nicht abfinden.

Gestatten Sie mir eine Randbemerkung: In Berlin, wo seit dem Jahr 2002 sehr verantwortungsvoll Reformpolitik im Schulbereich gemacht wird, liegt dieser Faktor bei 1,7.

Viel ist in den letzten 20 Jahren erreicht worden. Aber wer so tut, als müsse es keine spürbaren Veränderungen geben, der verschließt die Augen vor der Realität oder aber er nimmt diese Defizite bewusst in Kauf. Beides ist nicht akzeptabel.
Die Gesellschaft verändert sich. Die Arbeitswelten verändern sich und auch das soziale Gefüge in unserem Land ändert sich. Bildungssysteme funktionieren nicht als abgeschlossene Kapseln, sie müssen darauf reagieren. Heute gilt es darum mehr denn je, für individuelle Förderung statt struktureller Trennung einzutreten, für mehr polytechnische Bindungsinhalte und für mehr soziale Chancengleichheit. Das ist die Aufgabe, der wir uns stellen müssen, vielleicht ja in den nächsten 20 Jahren.