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Matthias Höhn zu TOP 02a): 20 Jahre Friedliche Revolution

Im Herbst des Jahres 1989 war ich 14 Jahre alt. Ich gehöre also zu einer Generation, die mittlerweile den größten Teil ihrer Biografie nicht in der DDR, sondern in der Nachwende-zeit bzw. im wiedervereinigten Deutschland gelebt hat. Das bringt es mit sich, dass man durchaus einen anderen persönlichen Blick auf diese geschichtlichen Ereignisse und die Zeit davor hat als jemand, der z. B. mit 14 Jahren die Gründung der beiden deutschen Staaten erlebt hat. Und auch die Frage der persönlichen Verantwortung ist – im Guten wie im Schlechten –natürlich von anderer Relevanz. Was sich trotz dieses Generationenunter-schiedes nicht ändert, ist die Tatsache, dass die friedliche Revolution des Herbstes 1989 für uns alle – und auch für nachfolgende Generationen – von einschneidender Bedeutung war und ist.

Im 40. Jahr des Bestehens der DDR war der real existierende Sozialismus endgültig ge-scheitert. Und er scheiterte – wie im gesamten damaligen Ostblock – nicht zuerst an äuße-ren Umständen, sondern an seinen eigenen inneren Widersprüchen, an seinen Fehlern und auch Verbrechen sowie seiner wirtschaftlichen Ineffizienz. Schon Jahre zuvor gelang es der SED nicht mehr, eine Mehrheit der Menschen in der DDR von der Richtigkeit ihrer Politik ernsthaft zu überzeugen. Im Herbst 1989 hatten sie auch das letzte Vertrauen ver-spielt.

Aber wo nahm dieser Prozess seinen Anfang? War die DDR ein Fehler an sich und damit auch der Versuch eines anderen gesellschaftlichen Weges nach den verheerenden zwölf Jahren nationalsozialistischer Gewaltherrschaft und Krieg? Ich meine, nein.
Der Großteil der Menschen – in Ost wie West – war nach 1945 von dem Impuls geleitet, einen gesellschaftlichen Neuanfang zu wagen, vielmehr: Sie fühlten sich dazu verpflichtet angesichts der unfassbaren Opfer der Jahre zuvor. Aber natürlich schlug das nunmehr im Ergebnis des II. Weltkrieges geteilte Deutschland in den unterschiedlichen Besatzungszo-nen sehr schnell unterschiedliche Wege ein. Wir sollten uns davor hüten, den Versuch auf ostdeutscher Seite per se als illegitim anzusehen. Ob diese DDR jedoch jemals eine reale Chance hatte, unter den Vorzeichen der Blockkonfrontation und des sowjetischen Vorbil-des einen selbstständigen demokratischen Weg zu gehen, steht auf einem anderen Blatt. Aber ich stelle eben nicht in Abrede, dass es viele gab, die daran glaubten und dafür strit-ten.
In den folgenden 40 Jahren gab es immer wieder Ereignisse, die Hoffnung keimen ließen – ich will an den Prager Frühling erinnern. Aber stets wurden diese Hoffnungen bitter ent-täuscht – meist folgte auf sie eine weitere Verschärfung des undemokratischen Durchgriffs und der Repression.

In den 1980er Jahren gründete sich eine Vielzahl von Initiativen und Friedenskreisen – meist unter dem Schutz kirchlicher Institutionen.
Im Januar 1989 wurde am Rande der alljährlichen Liebknecht-Luxemburg-Ehrung der SED der Spiegel vorgehalten mit dem berühmten Zitat Rosa Luxemburgs: "[Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei - mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit.] Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden. [Nicht wegen des Fanatismus der ‚Gerechtigkeit‘, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reini-gende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ‚Freiheit‘ zum Privilegium wird.]"
Als dann im Sommer Tausende über die bundesdeutsche Botschaft in Prag oder über die mittlerweile geöffnete ungarische Grenze Richtung Österreich flüchteten, wurde wohl den meisten klar, dass die Dinge alsbald nicht mehr so sein würden, wie sie waren.
Zwei Tage nach dem bizarren Schauspiel der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR, bei denen sich eine Staatsführung präsentierte, die nichts begriffen zu haben schien, kam es am 9. Oktober in Leipzig nicht erstmalig zu einem Friedensgebet und einer öffentlichen Demonstration des gesellschaftlichen Widerspruchs in der DDR – aber zum ersten Mal in diesem Herbst waren Zehntausende unterwegs.

Die Menschen in der DDR gingen auf die Straßen, weil sie das Gefühl hatten, ihnen fehle die Luft zum Atmen. Sie hatten sich für Demokratie und Selbstbestimmung entschieden und gegen einen Staat, der zwar für ein gewisses Maß sozialer Sicherheit sorgte, aber ihnen in wichtigen Bereichen das Recht absprach, für ihr Land und ihre persönliche Ent-wicklung selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen. Dies alles geschah friedlich und in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Ich will aus einem Papier des Neuen Forums aus jener Zeit zitieren:
„[…] Auf der einen Seite wünschen wir uns eine Erweiterung des Warenangebots und bessere Versorgung, andererseits sehen wir deren soziale und ökologische Kosten und plädieren für die Abkehr von ungehemmtem Wachstum. Wir wollen Spielraum für wirt-schaftliche Initiative, aber keine Entartung in eine Ellenbogengesellschaft. Wir wollen das Bewährte erhalten und doch Platz für Erneuerung schaffen, um sparsamer und weniger naturfeindlich zu leben. Wir wollen geordnete Verhältnisse, aber keine Bevormundung. Wir wollen freie, selbstbewußte Menschen, die doch gemeinschaftsbewußt handeln. Wir wol-len vor Gewalt geschützt sein und dabei nicht einen Staat von Bütteln und Spitzeln ertra-gen müssen. […] Um all diese Widersprüche zu erkennen, Meinungen und Argumente dazu anzuhören und zu bewerten, allgemeine von Sonderinteressen zu unterscheiden, bedarf es eines demokratischen Dialogs über die Aufgabe des Rechtsstaates, der Wirt-schaft und der Kultur.“

Dieser Moment im Herbst 1989 war nicht nur ein historischer Einschnitt, er war auch und vor allem ein Moment des gesellschaftlichen Aufbruchs und der Emanzipation.

Wenn ich heute als Vorsitzender der Partei DIE LINKE in Sachsen-Anhalt zu diesem Jah-restag das Wort ergreife, komme ich nicht umhin, über meine eigene Partei zu sprechen.

Nachdem sich die Führung der SED als unfähig und unwillig erwiesen hatte, auf die not-wendigen gesellschaftlichen Herausforderungen zu reagieren, erzwangen die Mitglieder der Partei gegen den Willen des ZK einen außerordentlichen Parteitag. Dieser Parteitag im Dezember 1989 war in seiner Debatte und in seinen Ergebnissen rückblickend die Vor-aussetzung dafür, in den Jahren danach eine von vielen Menschen akzeptierte demokra-tisch-sozialistische Partei in der Bundesrepublik überhaupt etablieren und wählbar machen zu können.

Da ist zum einen die dort formulierte Entschuldigung bei den Bürgerinnen und Bürgern der DDR: „Die Delegierten des Sonderparteitages sehen es als ihre Pflicht an, sich im Namen der Partei gegenüber dem Volk aufrichtig dafür zu entschuldigen, dass die ehemalige Füh-rung der SED unser Land in diese existenzgefährdende Krise geführt hat. Wir sind willens, diese Schuld abzutragen. Wir danken aufrichtig den mündigen Bürgern unseres Landes, die die radikale Wende durch ihren mutigen, gewaltlosen Kampf erzwungen […] haben.“

Zum anderen ist es die Rede Michaels Schumanns, die den „unwiderruflichen Bruch mit dem Stalinismus als System“ formulierte. Diese Rede wurde zum Gründungskonsens der PDS. Und er gehört heute zum Programm unserer neuen gesamtdeutschen Partei.

Wir wissen: Unsere Verantwortung vor der Geschichte bleibt. Es ist diese Verantwortung, die uns auch heute in unseren politischen Positionierungen prägt. Wenn meine Fraktion, wie gestern geschehen, so leidenschaftlich für das Versammlungsrecht streitet, dann tun wir dies nicht, wie uns manchmal unterstellt wird in Ignoranz unserer Geschichte, sondern wir tun dies gerade wegen der Konsequenzen, die wir aus unserer eigenen Geschichte gezogen haben.

Heute fragen viele, was vom Aufbruch und von der Leidenschaft des Herbstes ´89 geblie-ben ist. Immer weniger machen von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Immer weniger sind be-reit, sich in Parteien zu engagieren. Hoffnung ist oft Sorge vor der Zukunft gewichen. Fast zwei Millionen Menschen haben die neuen Bundesländer verlassen. Das Vertrauen in die demokratischen Institutionen dieses Landes ist auf einem Tiefpunkt. Ja, von einigen wird die Demokratie sogar prinzipiell infrage gestellt.

Manche sagen, eine solche Einschätzung wäre ungerecht. Vieles sei doch in den letzten 20 Jahren geschehen. Ja, das ist es und es darf nicht in Abrede gestellt werden. Aber dennoch bleibt die Frage, warum so viele trotz des Aufbaus Ost zu dieser Meinung gelan-gen.

Ich habe nicht umsonst mit dem Zitat des Neuen Forums an die Motive der damaligen Demokratiebewegung erinnert. Es ging um beides: um die Gleichzeitigkeit politischer und sozialer Rechte. Aber genau jener Zusammenhang ist längst in den Hintergrund getreten. Die Armuts- und Reichtumsberichte der Landes- und Bundesregierung sind dafür ernüch-ternder Beleg. Für immer mehr Menschen ist die Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben eben nur eingeschränkt oder gar nicht mehr möglich. Diese Lücke spü-ren die Menschen und lässt sie bisweilen auch resignieren.

Die friedliche Revolution des Jahres 1989 ist unsere gemeinsame Verpflichtung – über Parteigrenzen hinweg. Demokratie ist nichts, was uns geschenkt wurde. Sie muss jeden Tag neu mit Leben gefüllt werden. Und gerade dafür ist es notwendig, diese umfassenden Rechte für jede Frau und jeden Mann auch real zugänglich zu machen – und dies ist nicht zuletzt eine Frage der sozialen Gerechtigkeit.

Wir werden uns dafür immer engagieren.