Diese Website verwendet Cookies. Warum wir Cookies einsetzen und wie Sie diese deaktivieren können, erfahren Sie unter Datenschutz.
Zum Hauptinhalt springen

Matthias Höhn zu TOP 01 a): 20 Jahre erste freie Volkskammerwahl in der DDR

Die Jahre 2009 und 2010 gaben und geben uns gleich an mehreren Tagen Anlass, nach 20 Jahren auf die Ereignisse zwischen der Friedlichen Revolution im Herbst 1989 und der Wiedervereinigung und unmittelbar damit verbunden der Gründung des Landes Sachsen-Anhalt knapp ein Jahr später zurückzublicken. Es ist die Zeit, an die Akteurinnen und Akteure von damals zu erinnern – ihren Mut und auch ihren Idealismus, und ebenso Bilanz zu ziehen über das, was erhofft und das, was erreicht wurde.

In diesen historischen Kontext gehört ein weiterer Jahrestag. In wenigen Wochen wird sich zum 65. Mal der Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus wiederholen. Dass uns heute in Deutschland wie auch in unseren europäischen Nachbarländern überhaupt die Chance gegeben ist, in Frieden und demokratischem Miteinander unsere gemeinsame Zukunft zu gestalten, wäre ohne den 8. Mai 1945 nicht denkbar. Gerade auch dieses Datum erinnert uns daran: Nichts ist selbstverständlich, schon gar nicht Freiheit und Selbstbestimmung.

Heute nun, am 18. März 2010, jährt sich zum 20. Mal die erste und einzige freie Volkskammerwahl in der DDR.

Der Oktober 2009 war uns gemeinsam Anlass, an die Friedliche Revolution in der DDR und die Motive der damaligen Demokratiebewegung zu erinnern. Und wenngleich wenige Monate nach den ersten großen Demonstrationen im Wahlkampf 1990 eine hauptsächliche Auseinandersetzungslinie am Ob und Wie einer deutschen Wiedervereinigung verlief, war doch mit dem Fakt an sich, in freier, gleicher und geheimer Wahl über die Geschicke unseres Landes entscheiden zu können, eine der zentralen Erwartungen des Herbstes ´89 erfüllt. Mit dieser Wahl waren wahrlich nicht alle Ziele erreicht, aber ohne Zweifel war sie ein Schlüsselmoment.

Sie war in gewisser Weise aber auch Wendepunkt. In vielen Diskussionen und an Runden Tischen wurde in den Monaten zuvor sehr kontrovers um das Ziel einer demokratischen DDR gerungen. Wichtigster Markstein jener Debatten war ohne Frage der erarbeitete Entwurf für eine neue Verfassung. Mit der Wahlentscheidung vom 18. März 1990 und vor allem den dahinter liegenden Motiven schien diese Entwicklung jäh abgebrochen. Es ging fortan nicht mehr primär darum, sondern das zentrale Ziel der klaren politischen Mehrheit jener Zeit war die möglichst schnelle Beendigung des Kapitels DDR. Und wenngleich unser Grundgesetz das beste verfassungsrechtliche Fundament in der deutschen Geschichte darstellt und es Vorbild für viele junge Demokratien war und ist, glaube ich, ist die Frage legitim, ob wir 1990 und danach nicht eine deutsch-deutsche Chance verpasst haben, den Artikel 146 mit Leben zu füllen und dem wiedervereinigten Deutschland in einem demokratischen Prozess eine neue Verfassung zu geben. Die Zeit ist darüber längst hinweg gegangen. Aber vielleicht lohnt es ja, zumindest an die Inhalte der lebhaften Verfassungsdiskussionen 1989/90 zu erinnern. Sie können auch heute noch fruchtbringend sein für unser Verständnis demokratischer Kultur und Emanzipation.

Das Wahlergebnis des 18. März 1990 selbst war für manche eine Überraschung, für viele auch Ernüchterung – aber auch das gehört eben zur Demokratie. Am augenfälligsten waren mindestens zwei Umstände: Zum einen wohl der fulminante Sieg der ehemaligen Blockpartei CDU und zum anderen das deutlich schlechtere Abschneiden ausgerechnet jener Gruppierungen und Parteien, die maßgebliche Triebfedern des Herbstes ´89 gewesen waren.

Jens Reich, eine der wichtigen Figuren jener Zeit, formulierte rückblickend in einem Interview: „Das Bonner Nilpferd ist in einer Massivität gekommen, dass man einfach hilflos war. Im Wahlkampf ist einfach der gesamte Apparatismus des Westens in den Osten gebracht worden. Dem hatten wir nichts entgegenzusetzen. Das waren in die DDR exportierte Westwahlen.“ Allerdings äußerte er auch Verständnis für die damalige Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger der DDR.

Für meine Partei waren diese freien Wahlen der auch formale Endpunkt der unmittelbaren Regierungsverantwortung in der DDR.

Schaut man heute zurück, lohnt es, über einen weiteren Punkt sehr nachdenklich zu sprechen. An diesen ersten freien Wahlen beteiligten sich 93,4 Prozent der Wahlberechtigten, in den damaligen Bezirken Halle und Magdeburg 93,4 bzw. 93,5 Prozent.

Ohne Zweifel ist diese enorme Mobilisierung maßgeblich gespeist aus dem ersten realen Erleben eines zuvor erkämpften Bürgerrechts. Insofern sind Vergleiche mit dem Heute natürlich vor diesem Hintergrund zu ziehen. Dennoch: Seit jenem 18. März 1990 haben wir nie wieder in Sachsen-Anhalt oder Ostdeutschland insgesamt eine solche Wahlbeteiligung erreicht. Bereits wenige Monate später bei den ersten Wahlen zum Landtag von Sachsen-Anhalt beteiligten sich nur noch 65,1 Prozent der Wählerinnen und Wähler. Und abgesehen von einem zwischenzeitlichen Hoch 1998 blieb sie seitdem auf niedrigem Niveau. Bei der Landtagswahl 2006 waren es schließlich nur noch 44,4 Prozent.

Gerade heute, wenn wir daran erinnern, wie nach Jahrzehnten endlich wieder die Möglichkeit gegeben war, sich in freien Wahlen am demokratischen Miteinander zu beteiligen, muss uns diese Entwicklung nachdenklich stimmen. Mehr als das: Alle demokratischen Parteien stehen in der Pflicht, dies nicht einfach hinzunehmen. Natürlich beinhaltet das Recht auf Wahl logischerweise auch das Recht auf Nichtwahl. Jedoch lebt unsere repräsentative Demokratie davon, dass sich Bürgerinnen und Bürger aktiv beteiligen. Als Abgeordnete kann und darf es uns aber nicht in Ruhe lassen, dass unser Mandat und die Zusammensetzung dieses Hohen Hauses auf dem Votum nicht einmal der Hälfte aller Wahlberechtigten beruhen. Deswegen sind unser Auftrag nicht weniger legitim oder unsere Entscheidungen weniger verbindlich für unser Land. Aber wir dürfen uns damit nicht zufrieden geben.

Versucht man, auch mit Bürgerinnen und Bürgern darüber ins Gespräch zu kommen, werden viele Beweggründe und Ursachen offenbar. Da ist Enttäuschung über nicht erfüllte Hoffnungen und Erwartungen an Politik. Da ist das verbreitete Gefühl, durch Wahlentscheidungen würde sich sowieso nichts ändern. Es gibt durchaus Misstrauen gegenüber der Politik allgemein. Und leider stößt man auch immer wieder auf eine Geringschätzung der Demokratie insgesamt. Manches davon mag uns als Parlamentarierinnen und Parlamentarier ungerechtfertigt erscheinen, anderes muss uns alarmieren.

Wo leisten wir als Politik möglicherweise selbst solchen Einschätzungen Vorschub? Aktuell steht die Frage der Käuflichkeit einzelner Politiker im Raum – nicht in Sachsen-Anhalt, aber wir wissen auch, am Ende schadet dies dem Ansehen der politischen Parteien insgesamt, auch hier bei uns. Und unabhängig davon, ob einzelne Spenden oder gegen Geld erworbene Gesprächstermine einen realen Einfluss auf politische Entscheidungen hatten – allein der Anschein schadet dem Vertrauen in die demokratischen Institutionen.

Aber, und dies gilt ebenso, gemeinsam sollten wir auch selbstbewusst vorschnellen Urteilen entgegentreten. Bei aller politischen Differenz, die unsere Demokratie erst lebendig macht: die allermeisten in Parteien und Fraktionen engagieren sich nicht um des persönlichen Vorteils willen, sondern weil sie aus ehrlicher Überzeugung ihren gesellschaftlichen Beitrag leisten wollen.

In den sechs Monaten ihrer Existenz beriet und verabschiedete die Volkskammer 164 Gesetze. Parlamentarische Arbeit heute ist damit schwer vergleichbar. Prioritäten haben sich ein Stück weit verlagert, neue Aufgaben sind hinzugekommen. Eine zentrale Aufgabe ist geblieben, und sie ist von Dauer: die Kontrolle der Regierung durch das Parlament. Allein dies nimmt uns voll in Anspruch – mit halber Kraft oder halber Zeit ist das nicht getan.

Ich habe eingangs auf den Idealismus des Aufbruchs 1989/90 und der Zeit der Volkskammerwahlen verwiesen. Schaut man ins Lexikon, heißt es dort: „Idealismus ist eine politisch-soziale Weltanschauung, die auf bestimmte Ideale gerichtet ist und das politische Handeln an diesen Idealen orientiert.“ Vielleicht fehlt uns als Politik heute zunehmend diese Eigenschaft. Wir reden sehr viel über Haushaltszahlen, Verwaltungsmodernisierung, Richtlinien, Verordnungen… alles notwendige Dinge – ohne Frage. Politik, die Glauben macht, man käme ohne sie aus, macht sich unglaubwürdig und negiert ihre Ausgangsbasis. Aber was Bürgerinnen und Bürger zu mobilisieren und zu motivieren vermag, sich mehr und aktiv zu beteiligen, geht darüber hinaus. Wo wollen wir eigentlich hin? Was sind unsere Maßstäbe? Gerade junge Leute, so ist meine Erfahrung, fragen danach. Und sie tun dies zu Recht.

Die Abgeordneten der Volkskammer bereiteten mit ihren Entscheidungen den Weg über die Wirtschafts- und Währungsunion, den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes bis zur Gründung des Landes Sachsen-Anhalt. Insofern sind sie auch die Mütter und Väter dieses Landtages. Es ist gut und richtig, dass wir heute an sie alle erinnern. Viele haben sich aus der aktiven Politik mittlerweile wieder zurückgezogen, andere sind bis heute in politischer Verantwortung. Ihnen allen gelten unsere Anerkennung und unser Dank.