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Harry Czeke zu TOP 09: Europäisches Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung – Maßnahmen der Landesregierung

Heute eröffnet die Spanische Ratspräsidentschaft in Madrid das „Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“. Dass die Europäische Kommission 2010 dieses Thema verbal in den Fokus setzt, ist aus unserer Sicht erfreulich – und auch bitter nötig. Denn Armut und soziale Ausgrenzung sind in einer der reichsten Region der Welt ein großes Thema. Armut heißt nach Definition der EU, dass das Einkommen mindestens 60 Prozent unter dem Durchschnittseinkommen des jeweiligen Mitgliedsstaates liegt.
80 Millionen Menschen leben in der EU in Armut, das sind 17 Prozent der Bevölkerung. Betroffen sind vor allem Kinder, Frauen, MigrantInnen und alte Menschen.

Nach offiziellen Angaben der EU-Kommission sind 20 Millionen Beschäftigte in der EU arm trotz Arbeit. Auch hiervon sind besonders Frauen betroffen, da sie in marginaler Teilzeit oder befristet in Minijobs sind. Vielen Kindern fehlt es an einem gesundem Wohn- und Lebensumfeld, fehlt das Geld für kulturelle Freizeitangebote weil sie in Haushalten leben, wo niemand Arbeit hat.
Innerhalb der 27 EU-Mitgliedstaaten unterscheiden sich die sozialen Ungleichheiten, aber der Trend ist der gleiche. Die Zahl der Armen ist seit 2001 EU-weit gestiegen und sie werden weiter steigen. Die Schere zwischen Reichen und Armen öffnet sich immer dramatischer. Armut und soziale Ausgrenzung sind besonders gravierende Formen von sozialer Ungleichheit.

Bis 2010 sollte die EU die dynamischste, wissensbasierte Region der Welt sein. Die Armut sollte halbiert sein. Diese mit der Lissabon-Strategie verfolgten Ziele sind gescheitert. Das wird seltsamerweise nicht mit der Strategie als solcher begründet, sondern mit dem politischen Unwillen der Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Strategie. Folglich wird weiter gemacht wie bisher, die Strategie nur umbenannt. Nicht mehr „Lissabon“, sondern „Strategie 2020“. Das neue alte Rezept lautet: die Sozialsysteme „modernisieren“, also Renten und soziale Absicherung privatisieren. Nach wie vor soll der Arbeitsmarkt flexibilisiert werden, also Beschäftigungssicherheit, statt Arbeitsplatzsicherheit gelten. Das Thema Arbeitszwang haben die Sarazzins und Kochs ja gerade freudig aufgenommen.
Die Öffentlichkeit soll wieder nicht in die Beratungen zu dieser frisierten EU-Strategie gehört werden. Ende November 2009 hat die EU-Kommission das Strategiepapier vorgelegt, bis zum 15. Januar 2010 sollten die Stellungnahmen vorliegen. Schon im März möchte die Spanische Ratspräsidentschaft beschließen. Warum diese Eile? Soll es keine Möglichkeit für noch eine in der Diskussion befindliche Europäische BürgerInneninitiative geben?
In der Finanzkrise wird jedenfalls weiterhin die falsche Medizin verteilt, nur in größeren Dosen.

Die Fragen, die sich im „Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“ stellten sind: welche Sozial- und Wirtschaftspolitik betreiben die Staatschefs der 27 Mitgliedstaaten in Brüssel? Was macht die Europäische Kommission in Sachen „Europäisches Sozialmodell“ und wie verhält sich der Europäische Gerichtshof?

Die Europäische Kommission verkündet, dass die Sozialpolitik Sache der Mitgliedsatten ist, der EU verbleibe nur die sogenannte „Offene Methode der Koordinierung“, wie bei der Lissabon-Strategie, ein Appellieren an vergleichende Beispiele und Angleichungen über den Wettbewerb in den Mitgliedstaaten. Aber auch das hat Einfluß: die Agenda 2010 ist die lupenreine Umsetzung der Lissabon-Strategie: Modernisierung, also Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme und Druck auf den Arbeitsmarkt und Arbeitssuchende á la Hartz IV.

So soll auch das Europäische Jahr zur Armutsbekämpfung vor allem in den Mitgliedstaaten das Bewusstsein für das Thema wecken und zum Nachdenken anregen. Zur Unterstützung des Denkprozesses gibt die EU 17 Millionen Euro für Aktionen in 27 Mitgliedsaaten. Bei diesen Summen fragt sich wirklich der politische Wille. Zum Vergleich: im EU-Haushalt 2010 sind für die Abwehr von Flüchtlingen für die Grenzschutzagentur „Frontex“ 80 Millionen Euro eingestellt. Das umstrittene Satellitennavigationsprojekt „Galileo“ bekommt 1 Milliarde  Euro und die Mittel für die Rüstungsagentur und Militäreinsätze in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wurden verdoppelt auf 280 Millionen Euro.

Bleiben wir noch etwas beim EU-Haushalt - eine weitere Möglichkeit der EU sozialpolitisch aktiv zu werden. Bereits jetzt ist die Sozialpolitik im Haushalt völlig unterfinanziert. In der zukünftigen Förderperiode ab 2014 werden die Mittel allerdings noch weiter zurückgefahren, sie sollen sogar renationalisiert werden, also die Förderung in den Mitgliedstaaten wieder selbst erfolgen. Dies ist auch Tenor des schwarz-gelben Koalitionsvertrags. Weniger in den EU-Haushalt einzahlen, nur noch Strukturfonds-Förderung für die am wenigsten entwickelten Gebiete und Konzentration der EU-Mittel auf die Ausgabenebereiche „EU-Außenpolitik“ und „(Weltraum) Forschung“. Soviel zum Thema Solidarität in der EU und Bekämpfung der Armut.

Die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten sind aber auch von der konkreten Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik der EU-Kommission und der Rechtssprechung des EuGH betroffen. Nicht erst mit der Lissabon-Strategie von 2000 wurde der Weg zum Sozialabbau beschritten. Schon Ende der 1980er Jahre mit der „Einheitlichen Europäischen Akte“ und dem Maastricht-Vertrag wurde der Rahmen gesetzt. Mit dem gemeinsamen Binnenmarkt, also dem freien Verkehr von Dienstleistungen, Waren und Kapital wurde den unternehmerischen Grundfreiheiten Vorrang vor sozialen Grundrechten gegeben.  Flankiert von einem Wirtschafts- und Stabilitätspakt, der bei Strafandrohung zu Haushaltseinsparungen besonders im Sozialbereich verpflichtete. Die EU-Kommission als Gesetzgeberin verzichtete gleichzeitig auf eine Harmonisierung, also positive Integration innerhalb der Mitgliedsaaten, sondern setzte auf das Herkunftslandsprinzip: gegenseitige Anerkennung der unterschiedlichen Standards. Das öffnete dem heute allseits registrierten Standort- und Steuerwettbewerb in der EU Tür und Tor. Dieser Standort- und Steuerwettbewerb innerhalb der EU führte in den letzten 20 Jahren zu einem immensen Wettlauf bei der Beseitigung von „Hindernissen für den unverfälschten Wettbewerb“, wie es der Lissabon-Vertrag nennt. Hohe Lohn-, Sozial- und Umweltstandards waren dabei ein Dorn im Auge. Die wirtschaftlichen Grundfreiheiten, der Binnenmarkt für Dienstleistungen, Waren und besonders Kapital darf nach dieser Lesart nicht durch soziale Grundrechte behindert werden. Die EuGH-Urteile Laval, Viking Line und Rüffert sprechen da eine sehr deutliche Sprache: Tarifverträge und Streikrecht hatten jeweils das Nachsehen gegen die Niederlassungsfreiheit.

Die EU feiert 2010 also das Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Das ist schon bemerkenswert, ist doch die neoliberale Politik der Regierungschefs, der EU-Kommission sowie des EuGH Ursache eben jener.
Zur Bekämpfung der Armut und sozialen Ausgrenzung in der EU, ja überall auf der Welt, braucht es unserer Ansicht nach anderer Ansätze.
Die EU muss zu einer Europäischen Sozialunion werden mit einem sozialen Stabilitätspakt gegen Sozialdumping, der die Mitgliedstaaten zu verbindlichen Sozialausgaben verpflichtet, um Armut zu bekämpfen. Die Mitgliedstaaten sollen soziale Grundsicherung und Mindestlöhne gewährleisten, anstatt Leistungen abzubauen.

Die auf internationale Wettbewerbsfähigkeit fixierte Lissabon-Strategie oder jetzt EU-2020-Strategie muss aufgegeben werden. Stattdessen braucht Europa eine integrierte Strategie für Nachhaltigkeit und Solidarität. Unternehmensgewinne, Zins- und Kapitalerträge müssen EU-weit harmonisiert werden, um den Steuerwettbewerb einzuschränken.

Weiterhin fordert DIE LINKE europaweite Mindestlöhne, die mindestens 60 Prozent der jeweiligen nationalen Durchschnittslöhne betragen sollten.
Kinder, gerade auch mit Migrationshintergrund, sind besonders von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Daher ist es folgerichtig, dass das federführende Bundesarbeitsministerium im nationalen Strategieplan zum Europäischen Jahr die Kinderarmut in den Mittelpunkt stellt.

Kinderarmut hat seit Hartz IV eine neue Dimension. In Sachsen-Anhalt lebt jedes vierte Kind in einem Hartz-IV-Haushalt. In Magdeburg und Halle betrifft das mehr als 16.000 Kinder – Tendenz steigend. Was das individuell bedeutet kann man täglich in den Zeitungen lesen, aber in diesem Hause hier wohl kaum einer nachfühlen.
Mit dieser Debatte möchten wir erfahren, wie die Landesregierung handelt, welche konkreten Maßnahmen, Konzepte, Projekte sie für dieses thematische Jahr und darüber hinaus zur Bekämpfung der Armut hat. Wie sollen diese Maßnahmen langfristig in die Landespolitik integriert werden? Wie sollen die Ergebnisse dann evaluiert werden?

Für die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung engagieren sich Vereine, Organisationen, Gewerkschaften, Kirche. Wie wurden sie bisher in die Erarbeitung eines Konzepts zur Umsetzung des europäischen Jahres 2010 einbezogen?

Armut und soziale Ausgrenzung sind nicht akzeptabel. Denn sie sind weder naturgegeben noch unabänderlich. Sie sind systembedingt und haben Ursachen.
Kinder und Erwachsene haben ein Recht, gut zu Wohnen, genügend zu essen zu haben, eine gute Bildung zu erfahren und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.