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Gudrun Tiedge zu TOP 20: Handlungskonzepte zu Amoklagen

Prinzipiell hätte man eigentlich diesen Antrag mit dem nachfolgenden gemeinsam behandeln können, denn beide sagen etwas darüber aus, dass wir ein gesellschaftliches Problem haben. Und wir finden keine Antworten, weil man nicht bereit ist, nach den Ursachen zu forschen und sie dann zu verändern.

Wir haben in unserer Fraktion ziemlich lange darüber debattiert, wer zu diesem Thema sprechen sollte. Schließlich soll die Landesregierung in den Ausschüssen für Inneres sowie für Bildung, Wissenschaft und Kultur über entsprechende Handlungskonzepte berichten.
Der Debattenbeitrag ist zwar letztendlich doch bei mir in meiner Funktion als innenpolitische Sprecherin gelandet, aber wir waren uns einig darüber, dass das angesprochene Problem  nicht von der Polizei allein gelöst werden kann, sondern dass es ein gesamtgesellschaftliches Problem ist.

Neueste wissenschaftliche Erklärungsversuche gehen davon aus, dass Amoktaten nicht auf eine einzige Ursache zurückzuführen sind. Heute gelten zu den Auslösern eine fortgeschrittene psychosoziale Entwurzelung, der Verlust der schulischen und beruflichen Integration, zunehmend erfahrene Kränkungen sowie Partnerschaftskonflikte. Dabei spielen meist mehrere Faktoren eine Rolle, wobei diese nicht unmittelbar vor der Tat liegen müssen, sondern schon seit geraumer Zeit bestehen.

Der Amoklauf ist dann für den Täter der Endpunkt eines langen Weges der Ausweglosigkeit. Und auf diesem langen Weg lebte der Täter oder die Täterin doch nicht im luftleeren Raum. Er bzw. sie waren umgeben von Familie, gingen zur Schule oder zur Arbeit, hatten Freunde und Kollegen. Und man hinterlässt in der Regel Spuren und Warnsignale. Und niemand hat etwas bemerkt?
Spätestens an dieser Stelle muss man sich die Frage stellen: Warum eigentlich nicht? Eben darum, weil Wegschauen zu unserem Alltag gehört. Und die Politik macht es vor, indem sie wegschaut und die eigenen Fehler und Versäumnisse ignoriert.

Passiert ein Amoklauf mit all seinen schrecklichen Folgen für die Opfer und die Angehörigen, geht eine Welle der Betroffenheit durch die Gesellschaft, die natürlich berechtigt und notwendig ist. Zu oft aber gibt es zu schnelle Erklärungsmuster und zu schnell wird wieder zur Tagesordnung übergegangen.

Da wurde nach dem Amoklauf von Winnenden eine Änderung des Waffengesetzes verabschiedet, eine in diesem Zusammenhang notwendige Maßnahme. Aber nun wird im Koalitionsvertrag der Bundesregierung von CDU und FDP diese Veränderung wieder aufgeweicht, indem im Rahmen der Evaluation geprüft werden soll, ob die neuen Vorschriften zu unzumutbaren Belastungen für die Waffenbesitzer geführt hätten. Das ist verantwortungslos. Und wir können in diesem Punkt dem Innenminister mit seiner Kritik an diesem Vorhaben nur Recht geben.

Renommierte Jugendforscher und Kriminologen gehen mittlerweile davon aus, dass Amokläufe verhindert werden können, wenn die Signale, die vor den Taten vom potenziellen Täter bzw. der Täterin ausgesendet wurden, erkannt werden. Dafür bedarf es natürlich einer Sensibilisierung gegenüber den Problemen von Jugendlichen. Es bedarf gut ausgebildeter Fachkräfte an Schulen, wie Schulsozialarbeiter, Schulpsychologen oder Vertrauenslehrer.

Aber wie sieht es da in Deutschland wirklich aus? Seit Jahren leistet man sich eklatante Missstände bei Prävention und Erziehung. Bundesweit ist die Jugendarbeit in beispielloser Weise Opfer von Kürzungen geworden, sie wurde auf ein notwendiges Minimum zusammengestrichen, als gäbe es kein Morgen.

Am Institut für Friedenspädagogik Tübingen e.V. wurden Fragen entwickelt, die es gilt, von uns allen beantwortet zu werden. Ich möchte an dieser Stelle nur einige nennen:

Welchen Erwartungsdruck vermitteln Eltern?
Bleibt Zeit für Auseinandersetzung und Anerkennung?
Ist genügend Neugier vorhanden, den anderen auch als  Menschen kennen zu lernen?
Wird vom anderen Rechenschaft für sein Verhalten verlangt?
Werden neben Leistung und Noten auch Mitmenschlichkeit und Solidarität vermittelt und gelebt?
Werden Alarmsignale erkannt?
Werden Konfliktlösungsmöglichkeiten eingeübt, Schwächen nicht ausgenützt und Stärken gefördert?
Wie kann eine Kultur des Friedens und der Anerkennung entwickelt werden, die Gewalt auf allen Ebenen tabuisiert und die auch den Schwächeren eine erstrebenswerte Zukunft sowie ihren Platz in der Gesellschaft ermöglicht?
Wie kann erreicht werden, dass Politik sich um die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen, aber auch von gefährdeten Erwachsenen stärker kümmert?

Wenn wir auf all diese Fragen Antworten und Lösungen gefunden haben, dann bedeutet das zwar nicht, dass Amokläufe für immer verhindert werden können, aber es wäre endlich der ernsthafte Versuch, eine gesamtgesellschaftliche Lösung zu finden.
Und es wäre nicht der untaugliche Versuch, den Polizeibeamtinnen und -beamten, die Hauptlast der Verantwortung aufzubürden. Denn wenn die Polizei eingreifen muss, ist es bereits zu spät. Sie können dann nur noch versuchen, noch Schlimmeres zu verhindern.

Wir werden selbstverständlich den Antrag mit in die genannten Ausschüsse überweisen.
Lösungen für die benannten Probleme sind jedoch die in diesem Antrag gestellten Fragen nicht, sie dienen ausschließlich einem Problemaufriss. Gesellschaftliche Handlungskonzepte sind also gefragt, die an der Wurzel ansetzen und nicht erst greifen, wenn das Kind bereits im Brunnen liegt.