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Gudrun Tiedge zu TOP 2: Regierungserklärung der Ministerin Frau Prof. Dr. Angela Kolb zum Thema: „Opferschutz in Sachsen-Anhalt - Bilanz und Perspektive“

Die Justizministerin Prof. Dr. Angela Kolb stellte am Mittwoch, dem 10. November 2010 zum ersten Mal für Sachsen-Anhalt einen Bericht zum Thema „Opferschutz in Sachsen-Anhalt“ vor. Insgesamt zog die Ministerin dabei eine positive Bilanz.

Sie sagte in diesem Zusammenhang: „Der Bericht zeigt, dass in den vergangenen Jahren in unserem Bundesland viel für den Opferschutz getan wurde. Wir können heute eine gute Infrastruktur vorweisen und verfügen über ein tragfähiges Netzwerk mit vielen kompetenten Partnern..... Große Anstrengungen wurden im Bereich alternativer Konfliktlösungen unternommen, so beim Täter-Opfer-Ausgleich.... Bundesweit beispielhaft sind die Beratung und Betreuung von Opfern durch den Sozialen Dienst der Justiz.“

Jedoch die Ängste der Bürgerinnen und Bürger vor Kriminalität, die Angst der Menschen Opfer einer Straftat zu werden, schaffen leider auch zunehmend Akzeptanz für eine Politik, welche die Überwachungsmöglichkeiten des Staates ausbaut und zugleich die Eingriffe in die Grund- und Freiheitsrechte ausdehnt. Das Bedürfnis nach einem Zusammenleben ohne Gewalt und Kriminalität nimmt einen hohen, nicht zu unterschätzenden Stellenwert unter den Problemen der Menschen ein.

Und dafür wird oft „gern“ der Preis der Freiheits- und Grundrechtseinschränkung gezahlt. Dabei darf man aber nicht unberücksichtigt lassen, dass diese Angst, Opfer einer Straftat zu werden, in einem Missverhältnis zur realen Bedrohung steht.

Das darf aber letztendlich nicht dazu führen, diese Ängste nicht ernst zu nehmen.
Denn das hochgradig sensible, subjektiv gefühlte Sicherheitsempfinden der Menschen entwickelt sich immer mehr zu einem feinfühligen Sensor für hohe Lebensstandards und somit objektiv zum zentralen Bewertungskriterium von Lebensqualität und Zukunftssicherheit.

Hierzu einige Zahlen aus der Kriminalitätsstatistik:

Im Jahr 2009 wurden 200.724 Fälle in der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik registriert.
Das sind 5.945 Fälle weniger als im Jahr 2008. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Sachsen-Anhalt alle 2 Minuten und 37 Sekunden eine Straftat passiert, dass ca. alle 70 Stunden eine Straftat gegen das Leben, alle 6 Minuten und 28 Sekunden ein Diebstahl, alle 5 Stunden und 36 Sekunden ein Raub und alle 17 Minuten und 32 Sekunden eine Sachbeschädigung begangen wird.

Und hinter all diesen Zahlen stehen eben nicht nur die Täter, sondern insbesondere auch immer die Opfer. Opfer, die anders als die Täter, oft nicht im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen. Opfer, die mit ihren körperlichen, seelischen und materiellen Schäden nicht selten alleine gelassen werden. Opfer, die bedroht, überfallen, beraubt, misshandelt oder sogar getötet wurden.

Niemand von uns, der so etwas nicht selber erleben oder erleiden musste, kann auch nur im Ansatz nachvollziehen, wie es diesen Menschen - psychisch und physisch – geht, wie sie die Zeit durchleben, bis der Täter ermittelt wurde, wie sie dann auf dessen Verurteilung warten (und das oft über einen sehr langen Zeitraum hinweg), wie sie auf ein für sie gerechtes Urteil hoffen und sich nicht selten dann im Gerichtsverfahren demütigenden Befragungen ausgesetzt sehen.

Nicht selten suchen Opfer die Schuld in ihrer eigenen Person, in ihrem Verhalten, in ihrem Auftreten und fragen sich, was habe ich falsch gemacht? Warum hat es gerade mich getroffen? Und sie haben oft das ohnmächtige Gefühl, nie ganz mit dem Geschehen abschließen zu können.

Nun will ich überhaupt nicht verschweigen, dass gerade in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Bemühungen unternommen und damit Tatsachen geschaffen wurden, um die Rechte von Opfern zu stärken und ihre Betreuung zu verstetigen.

Ein Beispiel auf gesetzlicher Ebene ist das Opferentschädigungsgesetz vom 7. Januar 1985, zuletzt geändert am 25. Juni 2009. Der Leitgedanke dieses Gesetzes besteht darin, dass die staatliche Gemeinschaft für die Opfer von Straftaten einstehen muss, wenn es ihr nicht gelingt, Gewalttaten völlig zu verhindern. Der Opferentschädigungsanspruch soll sicherstellen, dass Opfer von Straftaten den Folgen nicht mehr hilflos gegenüber stehen und besser sozial abgesichert sind.

Ein sehr wichtiger und erst recht richtiger Anspruch, der aber - wie so oft - an der Realität vorbeigeht, da die lange Dauer der Bearbeitung der Anträge und die Ausgestaltung der Verfahren in der Regel dazu führen, dass die Betroffenen nicht zeitnah die dringend benötigten Leistungen erhalten.

Am 11. und 12. Oktober 2010 fand das 21. Mainzer Opferforum   unter dem Motto „Moderne Opferentschädigung, Betrachtungen aus interdisziplinärer Perspektive“ statt. In einer Resolution forderten die Teilnehmer und Teilnehmerinnen folgendes: „ ...wer Gewalt erlebt hat, muss bei Bedarf sofortige Hilfe durch fachkundige Therapeuten erhalten.
Wichtig dabei ist:

  • eine schnelle Leistungsgewährung. Dazu gehören auch vorläufige Leistungen und Vorschusszahlungen.
  • dass das Opferentschädigungsrecht auch neue Formen der Kriminalität berücksichtigen muss, wie z.B. Stalking.
  • eine auf die Bedürfnisse der Opfer abgestellte Verwaltung als Voraussetzung für zügige Verfahrensabläufe sowie
  • die Möglichkeit der Wahrnahme der Rechte durch die Opfer, wenn sie ihre Rechte auch selbst kennen. Informationsoffensiven sind notwendig.“

Und in einem waren sich die Teilnehmer ebenfalls alle einig, dass eine Modernisierung nicht zu Rückschritten im Opferentschädigungsrecht führen darf und dass nicht auf Kosten der Opfer gespart wird.

Die moderne Technik macht es notwendig, auch über die Thematik der Internetkriminalität zu reden. Da sind zum einen die Internetnutzer, die zu Opfern von Internetkriminalität werden, und da ist das Internet als Plattform für Kriminalität, wie z.B. der Kinderpornografie.

Einer aktuellen Studie nach sind weltweit bislang 65 Prozent aller Internetnutzer Opfer von Internetkriminalität geworden, wie z.B. durch Computerviren, Kreditkartenmissbrauch oder Identitätsdiebstahl. Und die meisten fühlen sich hilflos, weil sie nicht wissen, wie sie sich wehren können.

Eines der schlimmsten Verbrechen, dem Kindesmissbrauch und dessen Verbreitung im Internet, muss mit aller Entschiedenheit entgegengetreten werden. Das Zugangserschwerungsgesetz ist dabei wenig hilfreich.

Die Bundestagsfraktion DIE LINKE. hat in ihrem Entschließungsantrag zum Gesetz zur Bekämpfung der Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen folgendes gefordert:

  • die Personal- und Sachmittel der Strafverfolgungsbehörden mit dem Ziel zu erhöhen, Kinderpornografie an der Quelle - durch Identifizierung der Opfer und Suche nach den missbrauchenden Tätern - zu bekämpfen;
  • in Abstimmung mit den Bundesländern die Strafverfolgungsbehörden zu veranlassen, gegen die ihnen bekannten Anbieter von Kinderpornografie unverzüglich vorzugehen und behördenbekannte Angebote auf Host-Servern sofort stilllegen zu lassen;
  • die Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden im Ausland weiter zu intensivieren und im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit stets eindringlich auf eine Kooperation bei der Verfolgung des Missbrauchs von Kindern hinzuwirken;
  • Prävention und Opferschutz zu stärken und unter Einbindung von Jugendhilfeeinrichtungen, Schulen, Kindertagesstätten, Kinderärzten und gemeinnützigen Initiativen und Einrichtungen ein breites Netz von Beratungs- und Aufklärungsangeboten sowie von Hilfs- und Therapieangeboten zu etablieren und zu finanzieren;
  • gezielt öffentliche Aufklärungsarbeit zu leisten, die – auch um die Qualität von Hinweisen aus der Bevölkerung an die Strafverfolgungsbehörden zu erhöhen – bewusst auf eine emotionale Dramatisierung verzichtet und die den Focus auf die eigentliche Problematik legt, und zwar so, dass der Herstellung von Kinderpornografie in aller Regel ein oft jahrelanger sexueller Missbrauch der Opfer vorausgeht und das oft im unmittelbaren familiären Umfeld;
  • ausreichend finanzielle Mittel bereitzustellen, um eine unabhängige wissenschaftliche Erforschung des Ausmaßes, der Ursachen und Folgen von Kinderpornografie im Internet, ebenso wie auf anderen neuen und klassischen Trägermedien zu ermöglichen und um zeitnah Evaluierungen von eingeschlagenen Maßnahmen zu deren Bekämpfung vorzunehmen.

Alles das sind Forderungen, die man für selbstverständlich halten müsste, die aber in dieser Form kaum realisiert werden.

Und da gibt es in Sachsen-Anhalt, das erkennen wir ohne Zweifel an, gute Ansätze, z.B. in Form von Informationsblättern. So gibt es vom Ministerium des Inneren Verhaltensempfehlungen beim Verdacht von Kindesmisshandlungen und Kindesvernachlässigungen mit Erläuterungen, was Kindesmisshandlungen aber auch Kindesmissbrauch bedeuten und wie Eltern oder LehrerInnen und ErzieherInnen Anzeichen für derartige Straftaten bei den Kindern feststellen und an wen sie sich wenden können.

Für viele Menschen mit Sicherheit ein ganz schwerer Schritt mit für sie fast unüberbrückbaren Hürden. Was, wenn man sich geirrt hat, was, wenn jemand gänzlich unschuldig unter einen so schwerwiegenden Verdacht gerät? Aber dieser Verantwortung muss sich jeder und jede stellen.

Es gibt Verhaltensempfehlungen zu der Problematik Gewalt in Paarbeziehungen.

Es gibt vom Landeskriminalamt ein Informationsblatt für Opfer von Straftaten mit Adressen von Ansprechpartnern des Weißen Ringes, der Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt, dem Sozialen Dienst der Justiz, dem Kinder -und Jugendtelefon, den Frauenhäusern, dem Kinderschutzbund, dem Deutschen Familienverband Beratungsstelle Pro Mann - gegen Männergewalt, der Sekteninformation und Beratung, Vera und viele, viele mehr.

Es gibt ein umfangreiches gemeinsames Material des Ministeriums für Gesundheit und Soziales, des Verbandes Der Paritätische - Landesintervention und -koordination bei häuslicher Gewalt und Stalking.

Es gibt nebenamtliche Opferschutzbeauftragte in einigen Polizeirevieren.

Und es gibt noch viele andere Einrichtungen und Institutionen, welche ich hier nicht alle aufzählen kann. Und die Betreffenden mögen es mir verzeihen, die Erwähnung sowie Reihenfolge haben nichts mit einer Wertung zu tun. Denn jedem und jeder, wer sich dieser schwierigen und so äußerst wichtigen Aufgabe widmet, gilt unser ausdrücklicher Dank.

Aber mit dieser Vielzahl beginnt für die Opfer das Problem. Wie soll sich jemand, der sich in einer für ihn oder sie extremen Ausnahmesituation befindet, da zurechtfinden?
Wir müssen dabei berücksichtigen, dass  bei den Opfern auch ein Vertrauensverlust in den Rechtsstaat eingetreten ist, weil dieser ihn nicht vor der erlittenen Straftat schützen konnte. Und nun soll er oder sie sich aber teilweise genau an diesen wenden und sieht sich dabei einer Flut von Informationen und Ansprechpartnern ausgesetzt, die ihn oder sie einfach überfordert.

Ich habe mich letztendlich gefragt, ob all diese wirklich sehr guten Bemühungen nicht mehr vernetzt werden können, ohne die Eigenständigkeit der einzelnen Organisationen, Vereine und Institutionen zu verletzen. Ich kann die Frage heute auch nicht bzw. nicht abschließend beantworten. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass im Interesse der Opfer von Kriminalität sehr ernsthaft darüber nachgedacht und entsprechende Maßnahmen ergriffen werden sollten.

Und noch ein Problem möchte ich ansprechen, das ist die Frage der Finanzierung.
Nicht alles ist leistbar mit ehrenamtlichen Kräften. Alle mit dieser Problematik befassten, müssen auf eine verlässliche Finanzierung bauen können. Ohne diese ist eine kontinuierliche Arbeit einfach nicht leistbar.

Nicht der Ruf nach härteren Gesetzen wird den Opfern gerecht. Sie erwarten zeitnah ein für sie als gerecht empfundenes Urteil sowie unbürokratische Entschädigungsleistungen. Aber auch die Resozialisierung der Straftäter, inner- und außerhalb des Strafvollzugs - und davon bin ich überzeugt -, gehört unbedingt zur Frage des Opferschutzes, um zu verhindern, dass diese wieder straffällig werden.

Und diese Binsenwahrheit kann ich Ihnen am Schluss auch nicht ersparen: Prävention ist und bleibt immer noch der beste Opferschutz.