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Gudrun Tiedge zu TOP 02: Entwicklung des Rechtsextremismus in Sachsen-Anhalt sowie Handlungsstrategien und Gegenmaßnahmen der Landesregierung

Zunächst möchte ich meinen Dank an die Landesregierung, an den Innenminister sowie an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Innenministeriums voranschicken, die an der Beantwortung der vorliegenden, doch sehr umfangreichen Großen Anfrage beteiligt waren.

Wie definiert sich Rechtsextremismus?

Wir teilen die Auffassung von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die Rechtsextremismus als die Gesamtheit von Einstellungen, Verhaltensweisen und Aktionen, organisiert oder nicht, bezeichnen, die von der rassisch oder ethnisch bedingten Ungleichheit der Menschen ausgehen, nach ethnischer Homogenität von Völkern verlangen und das Gleichheitsgebot der Menschenrechtsdeklarationen ablehnen und Demokratisierung rückgängig machen wollen. Dabei muss davon ausgegangen werden, dass Rechtsextremismus mitnichten ein Randphänomen darstellt, sondern einzelne Einstellungsmuster bis weit in die Gesellschaft zu finden sind. Dies gilt insbesondere für Fremdenfeindlichkeit, die als „Einstiegsdroge“ in den Rechtsextremismus bezeichnet wird. So haben laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2006 39,7 % der Bevölkerung von Sachsen-Anhalt fremdenfeindliche Einstellungen.

Der Rechtsextremismus ist eine zu nehmende Bedrohung für die verfassungsrechtliche Grundordnung sowie das demokratische Gemeinwesen der Bundesrepublik. Eine zunehmende Zahl von Straf- und Gewalttaten, Wahlerfolge rechtsextremistischer Parteien bei Landtags- und Kommunalwahlen, die Bindungskraft einer rechtsgerichteten Jugendkultur sowie die schleichende Toleranz und zunehmende Akzeptanz rechtsextremen Gedankenguts einschließlich undemokratischer und intoleranter Einstellungsmuster in weiten Teilen der Bevölkerung machen deutlich, dass Gesellschaft und Politik vor einer ernstzunehmenden Herausforderung stehen.

Menschenwürde und Menschenrechte sind nicht einfach „gegeben“, sondern sie sind stets gefährdet und bedürfen, sollen sie mehr als leere Versprechungen sein, der dauerhaften Anstrengungen aller - der Bürgerinnen und Bürger, aber auch der Politik.

Massive Gefahren für Menschenwürde und Menschenrechte gehen heute von rechtsextremen Kräften im Land aus. Sie lehnen diese Grundnormen nicht nur ideologisch ab, sondern handeln auch danach. Die Angriffe der Rechtsextremen höhlen nicht nur das staatliche Schutz- und Sicherheitsversprechen aus und beschädigen damit die Institutionen des Rechtsstaates, sondern gelten in erster Linie sozialen Gruppen, die ohnehin gesellschaftliche Ausgrenzung erfahren und des besonderen staatlichen Schutzes wie der aktiven Solidarität der Bürgerschaft bedürfen. Fast täglich werden Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres religiösen Bekenntnisses, ihrer Weltanschauung, ihrer politischen Überzeugung oder ihres schlichten Anderssein, ihres Andersleben zu Opfern von Angriffen. So versuchen immer unverblümter, Rechtsextreme Einfluss auf das soziale, kulturelle, sportliche und politische Leben in den Städten und Gemeinden zu erlangen.

Das belegt auch die Einleitung einer Broschüre des NPD-Bundesvorstandes. Hier heißt es: „Tatsache ist, dass wir uns auch in einem uns überwiegend feindlich gegenüberstehenden Umfeld um eine Beeinflussung der öffentlichen Meinung im Rahmen unserer Möglichkeiten bemühen müssen.“

Und in einer entsprechenden Handreichung empfiehlt man den Landes- und Kreisverbänden, sich in ihrer Öffentlichkeitsarbeit auf die kontinuierliche Kontaktpflege zu Lokaljournalisten zu konzentrieren. Diese seien aufgrund ihres Aufgabenzuschnittes als Vor-Ort-Berichterstatter geeignet, Ansprechpartner zu sein, um die Politikangebote der NPD lokal zu verankern. Und dass dies nicht unmöglich ist, zeigt die Tatsache, dass es dem NPD- Kreisverband Nordsachsen im August 2008 gelang, eine ihrer Presseerklärungen ungekürzt im redaktionellen Teil des Lokalblattes „Torgauer Zeitung“ unterzubringen.

Nun haben wir uns im letzten Jahr entschieden, neben den regelmäßig gestellten Kleinen Anfragen eine umfangreiche Große Anfrage zu stellen, um dadurch das gesamte Ausmaß rechtsextremer Bestrebungen in Sachsen-Anhalt aufzuzeigen. Und da freut es uns um so mehr, wenn die Landesregierung in ihren Vorbemerkungen davon spricht: „ ...dass für sie das Thema der Bekämpfung des Rechtsextremismus einen besonderen Arbeitsschwerpunkt im Bereich der Inneren Sicherheit darstellt.“ Sie schreibt weiter: „Der Landesregierung ist sich bewusst, dass dieser Gefahr für die Demokratie stets und ständig durch alle Akteure in Politik, Medien und Bildungsbereich Einhalt geboten werden muss. Dabei wird der Aufklärung und Information durch die Landesregierung eine herausragende Bedeutung beigemessen.“

Nun ist der Rechtsextremismus kein alleiniges Problem für Sachsen-Anhalt. Das Bundeskriminalamt (BKA) schätzte diesbezüglich ein, dass die Zahl der rechtsextremistischen Straftaten deutschlandweit auf Rekordniveau bleibt. Im Jahr 2008 wurde mit mehr als 20.000 Delikten der höchste Wert seit Einführung der neuen Zählweise erreicht. Für 2009 wird man ähnliche Zahlen registrieren. Alle 26 Minuten passierte 2009 in Deutschland eine rechtsmotivierte Straftat, davon waren 768 Gewalttaten, bei denen mindestens 658 Menschen verletzt wurden, wobei sich pro Monat etwa drei antisemitisch motivierte Gewalttaten ereignen. Nach Einschätzung des BKA zeichnet sich rechte Gewalt durch eine besondere Brutalität aus. So sind seit 1990 47 Mordopfer rechter Gewalt zu beklagen. Eine erschreckende Zahl.

Nun geht die kürzlich vorgestellte Statistik hinsichtlich rechtsextremistisch motivierter Straftaten davon aus, dass ein leichter Rückgang zu verzeichnen ist. Grund für Entwarnung kann dies jedoch überhaupt nicht sein, zumal eine erhebliche Diskrepanz zwischen den Zahlen des Innenministeriums und denen der Mobilen Beratung für die Opfer rechter Gewalt vorliegt. Das ist zwar in jedem Jahr so, in diesem aber besonders drastisch. So hat das Innenministerium 83 politisch rechts motivierte Gewalttaten für 2009 bekannt gegeben. Die Mobile Opferberatung hat für den gleichen Zeitraum 111 politisch rechts motivierte Angriffe dokumentiert, mit mindestens 209 direkt Betroffenen, darunter 96 Körperverletzungen und zwei Brandstiftungen.

Dabei wurde z.B. der Angriff lokaler Rechter auf nichtrechte Jugendliche in einem Jugendclub in Alleringersleben vom 21. Mai 2009 nicht mitgezählt. Hier hatten sich die Betroffenen gegen das Abspielen rechter Musik ausgesprochen.

Ebenso ist der Angriff auf zwei alternative Jugendliche am 31. Juli in Halberstadt nicht vermerkt, bei dem der Täter sich den Betroffenen als einer der Führenden des „Nationalen Widerstandes“ bezeichnet hatte.

Nun gehen wir mal davon aus, dass dies nichts mit der neuen Zählweise zu tun hat. Denn das wäre dann nur Augenwischerei. Allerdings muss resignierend festgestellt werden, dass sich rechte und rassistische Angriffe zu einer alarmierenden „Normalität“ entwickelt haben, die für alternative Jugendliche und MigrantInnen schon fast zum Alltag gehören und deshalb nur schwere Straftaten zur Anzeige gebracht werden.

Eine besondere Gewichtung in der großen Anfrage nimmt die Rolle rechtsextremistischer Parteien, insbesondere der NPD in den Kommunalen Vertretungen ein. Und da ist erschreckend festzustellen, dass die NPD zu den Kommunalwahlen 2007 mit 115 Bewerbern in 7 der 10 Kreise bzw. kreisfreien Städten antrat. Wobei sie mit einem Alterdurchschnitt von 37,1 Jahren die jüngsten Kandidaten aufgestellt hatte. Insgesamt sind 30 Vertreter der NPD in den Kommunalparlamenten in Sachsen-Anhalt vertreten. Dabei lässt sich feststellen, dass die NPD grundsätzlich dort hohe Zustimmung erzielte, wo ihr Kandidat Präsenz zeigte und im Gemeinwesen verankert war - in Sportvereinen, der Freiwilligen Feuerwehr und ähnlichen Einrichtungen.

Parlamente sind für die NPD Propagandatribünen zur Propagierung ihres völkischen und autoritären Gesellschafts- und Staatsverständnisses. Wie sie jedoch wirklich zum Parlamentarismus stehen, belegt ein Zitat von Udo Pastörs (seit 2006 Abgeordneter der NPD im Landtag von Mecklenburg/Vorpommern), abgedruckt im Spiegel 37/2006: „Ich bin kein großer Anhänger dieser Form des Parlamentarismus. Aber das macht man so, dass man da rein geht und provoziert mit Präzision. Dann werden sie sehen, wie diese ganzen Viren, diese Parasiten, wach werden, dann sehen sie, dass die Axt kommt, dass man bis aufs Gesunde herausseziert. Das ist die Aufgabe eines nationalen Menschen“.

Ich habe dieses Zitat aus der Studie „Staatsfeind NPD - Dokument eines Kampfes gegen die Demokratie“. Diese Studie wurde von den Innenministern mehrerer Länder, darunter auch von Sachsen-Anhalt, in Auftrag geben. Ich kann nur empfehlen, diese Studie genau zu lesen. Sie bringt die ganze menschenverachtende Ideologie der NPD zum Ausdruck, ihre von Hass und Rassenwahn geprägten Inhalte.

In vielen kommunalen Vertretungen herrschte zunächst eine große Unsicherheit, wie mit den Vertretern der rechtsextremen Parteien umgegangen werden soll. Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe von Orientierungshilfen, die es ihnen erleichtern sollen, souverän mit diesem Problem umzugehen. So sollten sich die demokratischen Parteien über ein gemeinsames Vorgehen verständigen, sie sollten sich über die Inhalte und Aktivitäten der NPD sachkundig machen und sie sollten der NPD keine Bühne für die Verbreitung ihrer Ideologie bieten, um nur einiges zu nennen. Und sie sollten sich immer vergegenwärtigen, dass jeder noch so harmlos verpackte Antrag der rechtsextremen Parteien nur ihre menschenverachtende Ideologie zum Inhalt hat.

So beantwortete die Landesregierung die Frage nach der Entwicklung der NPD in Sachsen-Anhalt insoweit, dass die Mehrheit der Mitglieder des Landesvorstandes die Ideologie des Nationalsozialismus als historisches Referenzmodell befürwortet. Der offene Kampf der NPD gegen die universelle Geltung der Menschenrechte und die Propagierung einer Ideologie der rassistisch begründeten Volksgemeinschaft belegen diese Entwicklung. Ein Zitat aus der von mir vorhin erwähnten Studie belegt dies sehr eindringlich. Dort wird verwiesen auf einen Artikel in der „Deutschen Stimme“ aus dem Jahre 2005: „Menschrechts-Lüge. Objektive Menschenrechte gibt es nicht, vielmehr sind die so genannten Menschenrechte ein ideologisches Konstrukt, das im Gefolge der französischen Revolution und verstärkt im Zuge der Weltanschauungskonflikte des 20. Jahrhunderts formuliert wurde und das am Beginn des 21. Jahrhunderts als universelles Rechtfertigungsvehikel einer globalen Interventions- und Einmischungspolitik zur Aushebelung nationaler Souveränitätsrechte dient.“

Immer mal wieder wird in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, dass Rechtsextremismus ein ostdeutsches Phänomen sei. Dazu gibt es in der Antwort der Landesregierung eine eindeutige Aussage: „Die vorliegenden Studien machen deutlich, dass Rechtsextremismus kein „ostdeutsches“, sondern ein gesamtdeutsches Phänomen ist. Gleichzeitig sind Unterschiede sowohl im Hinblick auf die rechtsextremen Akteure und Strategien als auch im Hinblick auf unterschiedliche Ausprägungen verschiedener Indikatoren rechtsextremer Deutungsmuster erkennbar. Rechtsextreme Deutungsmuster sind zudem keine Erscheinungen an den Rändern der Gesellschaft, sondern finden sich im Wesentlichen in allen Gruppen, wobei soziodemografische Schwerpunkte erkennbar sind. Diese sind bei der Entwicklung von Gegenstrategien insbesondere im Bereich der Präventions- und Bildungsarbeit zu berücksichtigen.“

Und gerade im Bereich der Präventions- und Bildungsarbeit hat - das muss an dieser Stelle anerkennend festgestellt werden - die Landesregierung durch die Landeszentrale für politische Bildung ein breites Angebot für Jugendliche und junge Erwachsene geschaffen. Besonders hervorheben möchte ich hier, das z.B. am 1.10.2009 die 40. Schule mit dem Titel „Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage“ ausgezeichnet wurde. Schüler werden auf diesem Weg angeregt, sich kritisch mit Rechtsextremismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit auseinander zu setzen. Besonders hervorheben möchte ich auch das Angebot, welches sich an Eltern richtet, die sich mit der Situation konfrontiert sehen, dass ihr Kind -rechtsextrem- wurde. Eine für viele Eltern sicher sehr schwierige Situation.

Nun hatte ich zu Beginn meiner Rede den Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausgesprochen, die an der Beantwortung der Großen Anfrage beteiligt waren. Ich möchte von diesem Dank auch nichts zurücknehmen, auch wenn nicht alle Fragen in gleicher Qualität beantwortet wurden. So hilft der Verweis auf entsprechende Seiten des Internets zwar dem Antwortgeber, aber weniger dem Fragenden.

Positiv hervorheben möchte ich aber die Beantwortung der Fragen, die sich mit der Erfüllung des Bildungsauftrages beschäftigten (Seiten 140 bis 172 der Großen Anfrage).

Bedauerlich ist, dass in Sachsen-Anhalt das Aussteigerprogramm aus der rechtsextremen Szene ausgelaufen ist. Auch wenn aus der Beantwortung hervorgeht, dass nur wenige bisher in Sachsen-Anhalt davon Gebrauch gemacht haben, sollte es diese Möglichkeit für diejenigen geben, die sich herausziehen wollen aus dem braunen Sumpf, es allein aber nicht schaffen. Ein Blick über die Landesgrenze zeigt, dass es in Niedersachsen weitaus besser funktioniert. Das liegt sicher daran, dass dort das Aussteigerprogramm an die sozialen Dienste gebunden ist. Denn ein solches Programm kann nicht nur von der Polizei oder dem Verfassungsschutz betreut werden, dazu bedarf es der Betreuung von Sozialarbeitern, wie es in Niedersachsen geschieht. Wenn man aus der Antwort, dass das Konzept überdenkenswert ist, entnehmen kann bzw. soll, dass genau in diese Richtung eine Überarbeitung erfolgen soll, fände dies unsere volle Unterstützung.

Die Bekämpfung des Rechtsextremismus kann jedoch nicht erfolgreich funktionieren, wenn nicht eine breite gesellschaftliche Akzeptanz dafür vorliegt. Denn Politik und Staat allein können es nicht richten. Eine große Anzahl von landesweiten und regionalen Netzwerken und Bündnissen zeugen von dem Willen der Bürgerinnen und Bürger in Sachsen-Anhalt, sich aktiv in die Bekämpfung des Rechtsextremismus einzubringen.

Ihnen gehört unser uneingeschränkter Dank und unsere Anerkennung. Diese Bündnisse können sich auf eine fachlich fundierte und engagierte Arbeit der Vereine und Institutionen verlassen, wie z.B. dem Multikulturellen Zentrum in Dessau, dem Verein „Miteinander“ e.V. oder den Mobilen Opferberatungsstellen, um nur einige zu nennen.

Wir erwarten an dieser Stelle ausdrücklich, dass deren Arbeit nicht durch weitere Kürzungen in Gefahr gerät. Seit Jahren stehen sie vor dem Problem, immer mehr Aufgaben mit weniger Geld und weniger Personal leisten zu müssen. Eine verlässliche Finanzierung ist unabdingbar.

Ungeheuerlich empfinden wir aber die Pläne der neuen Bundesfamilienministerin, ab dem Jahr 2011 standardmäßig alle Initiativen, die bei ihrem Engagement gegen den Rechtsextremismus gefördert werden, vom Verfassungsschutz überprüfen zu lassen. Das ist eine Diskreditierung all derer, die sich dieser mutigen Aufgabe stellen. Wir hoffen, dass sich die Landesregierung in Sachsen-Anhalt einem solchen Ansinnen vehement verweigern wird.

„Für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit“ muss der gemeinsame Nenner lauten, der es den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land ermöglichen soll, selbst offensiv gegen rechtsextreme Tendenzen vorzugehen. Es erfordert aber auch eine Landespolitik, die dafür die notwendigen Rahmenbedingungen bereitstellt und welche die Bürgerschaft ermutigt, anerkennt und unterstützt in ihrem Kampf gegen Rechts. Und dazu sind wir alle aufgerufen.