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Dr. Detlef Eckert zu TOP 01: Teilhabe behinderter Menschen ermöglichen - Paradigmenwechsel real umsetzen

Anlass für die beinahe zeitnahe Beratung der Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage  ist der in dieser Woche in vielfältigen Formen durchgeführte Europaweite Protesttag zur Gleichstellung behinderter Menschen. An diesem Tag – so die Intention im Jahre 1993 – sollen behinderte Menschen und ihrer Organisationen auf Fortschritte aber auch Hemmnisse und Probleme bei der Gleichstellung behinderter Menschen aufmerksam machen. Die nun vorliegende Antwort der Landesregierung auf unsere Große Anfrage gibt uns hierzu im Landtag Gelegenheit.

Vorweg: Ein Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die auf 78 Textseiten und einem etwa gleichstarkem Anhang die vielen Zahlen und Fakten zu den neun Fragekomplexen zusammengetragen haben. Zusammen mit der Antwort auf die Große Anfrage unserer Fraktion zur integrativen Beschulung verfügen wir damit seit 2001 erstmals wieder über  umfangreiche, konkrete Fakten und Entwicklungstendenzen im Bereich der Teilhabe – oder besser der Nichtteilhabe – behinderter Menschen an der Gesellschaft.  In anderen Bundesländern ist es Tradition – auch Ausdruck der damit politisch bekundeten  Bedeutsamkeit dieses Politikfeldes – einmal in jeder Legislatur einen Teilhabebericht oder einen Bericht zur Lebenssituation behinderter Menschen zu geben. In unserem Land ist es Aufgabe der Opposition, die entsprechenden Fakten und Entwicklungslinien mit Großen Anfragen öffentlich zu machen!

Wie sind wir an die Fragestellung herangegangen?

Wir haben aus dem letzten Bericht der Landesregierung zur Lebenssituation behinderter Menschen aus dem Jahre 2001 die von der Landesregierung selbst formulierten Aufgabenstellungen für wichtige Bereiche aufgegriffen und als Ausgangspunkt genommen – also nicht unsere Ansprüche oder Aufgabenstellungen! Im Ergebnis ist festzustellen:

  1. In sehr vielen Bereichen hat die Landesregierung ihre eigenen Aufgabenstellungen nicht oder nur sehr ungenügend umgesetzt.
  2. Wichtige Fragen sind nicht – z.B. Vergleiche mit anderen Bundesländern – andere sehr tendenziös beantwortet worden. Insbesondere die Fragen nach Hemmnissen in Form von Gesetzes und VO lassen sehr zu wünschen übrig!
  3. Eine Reihe von Daten und Fakten die wir nachfragten, sind – natürlich in anderen Zusammenhängen – in der Konsensstudie enthalten. An dieser beteiligt sich nach meiner Kenntnis auch Sachsen-Anhalt. Das die Landesregierung öffentlich bekundet, diese Studie nicht zu kennen, ist schon verwunderlich. Und die Heimaufsicht hat, denke ich, beste Verbindungen zur  Landesregierung, so dass ich davon ausgehe, dass – natürlich anonymisiert – Aussagen zum Personal in den Einrichtungen möglich gewesen wären! Wenn die Landesregierung gewollt hätte.

Zu einigen Grundaussagen: Paradigmenwechsel

Die Landesregierung wollte, so 2001 formuliert, die traditionelle von Fürsorge und Fremdbestimmung geprägte Behindertenpolitik durch eine Politik, die Menschen mit Behinderung vollständig und chancengleich in alle Bereiche des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens einbezieht, ablösen. Oder anders gesagt: Die Landesregierung wollte sich von der Fremdbestimmung auf Selbstbestimmung umorientieren.

Behauptet wird nun in der Antwort, dass die Grundsätze von Selbstbestimmung und Teilhabe in den Mittelpunkt der Fachpolitik getreten seien. Angeführt wird als Nachweis

  • die Landesbauordnung von 2005,
  • der Rechtsanspruch auf ein TPB,
  • die Zusammenführung der Zuständigkeit für alle Maßnahmen der Eingliederungshilfe in der Sozialagentur,
  • die Übernahme der Zuständigkeit für die Frühförderung durch das Land sowie
  • der Ausbau des gemeinsamen Unterrichts angeführt.

Das ist sehr mager! Nicht dazu gehören demnach Fragen der gesundheitlichen Versorgung, der Kommunikation und Information, Freizeit und Tourismus – um nur Einiges zu benennen.

Anmerken möchte ich: Barrierefreies Bauen gilt in der Landesbauordnung seit 2001. Im Jahre 2005 wurden die Ausnahmetatbestände, um nicht barrierefrei Bauen zu müssen,  wesentlich erweitert – aus meiner Sicht und mit Blick auf künftige Erfordernisse wurde die LBO also verschlechtert.

Beim persönlichen Budget gibt es auf den ersten Blick eine positive Entwicklung, beim zweiten Blick wird deutlich: nach wie vor lange Bearbeitungszeiten und eine hohe Zahl von Ablehnungen!  In Sachsen-Anhalt wurden zwei  trägerübergreifende Budgets bewilligt. Fast klagend wird festgestellt, dass nur Menschen mit einem relativ geringen Hilfebedarf das persönliche Budget beantragen. Gleichzeitig kennen wir einige wenige mutige schwerstbehinderte Menschen, die sich über Gerichte in das persönliche Budget einklagen müssen. Meine Damen und Herren: Hier sind Sie sehr unehrlich! Bedauern Sie nicht, was Sie selbst verursacht haben!

Mit Verweis auf die - aus meiner Sicht absolut bescheidenen Fortschritte - meint die Landesregierung, dass das Ziel einer allumfassenden Integration und Teilhabe noch lange nicht erreicht ist. Dieser Bewertung  können wir uneingeschränkt zustimmen.

Dazu gehört aber auch die Feststellung unsererseits, dass Selbstbestimmung und Teilhabe noch lange nicht in den Mittelpunkt der Fachpolitik getreten ist. Die Entscheidungen und Argumentationen der Exekutive – in Form der Sozialagentur – laufen dieser anzustrebenden Grundhaltung entgegen. Unsere Auffassung wird außerdem gestützt durch die beinahe generelle Verweigerung der Landesregierung darzulegen, wie diese Ziele durch die Landesregierung erreicht werden sollen.

Als Aufgabe wurde 2001 formuliert, die Aus- und Fortbildungsangebote in den WfbM sowie Erschwernisse, die den Übergang aus den WfbM in den 1. Arbeitsmarkt behindern, zu beseitigen. Zugleich wurde in der Vergangenheit mehrfach seitens der Landesregierung behauptet, dass ca. 30 % der in den WfbM beschäftigten Menschen fehlplaziert seien. Seitens der Werkstattträger wird jedoch nur eine mögliche Vermittlungsquote von ca. 5 % angenommen. Die reale Vermittlungsquote liegt seit Jahrzehnten – obwohl gesetzlicher Auftrag der WfbM – unter 1%. Unterstellt, dass tatsächlich eine nennenswerte Anzahl von WfbM-Beschäftigten auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Chance hätten, sind so meine Überzeugung, besondere Fortbildungsmaßnahmen in der WfbM  Voraussetzung. Aber unsere Frage, nach diesen Aus- und Fortbildungsangeboten in WfbM wurde nicht beantwortet. Dagegen wurde erklärt, welche Fortbildungsmaßnahmen für die Angestellten/ Betreuer der Werkstatt durchgeführt wurden.

Andere wichtige Hemmnisse für den Übergang aus einer WfbM auf den ersten Arbeitsmarkt wurden benannt: Beschäftigungsbereitschaft der Unternehmer, das Fehlen vorrangiger beruflicher Eingliederungsmaßnahmen, mangelnde Alternativen für „Grenzfälle“ sowie die rentenrechtliche „Bevorzugung“ der WfbM-Beschäftigten. (Angemerkt: die rentenrechtlichen Regelungen als Hemmnis und Bevorzugung zu charakterisieren und nicht als notwendigen Nachteilsausgleich ist ein Skandal und Indiz für das noch immer dominierende „fürsorgliche“ Menschenbild)!.

Aufschlussreich und für das Verantwortungsbewusstsein der Träger spricht die Angabe, dass seit 2005 in jedem Jahr mehr als 700 Menschen neu in die WfbM aufgenommen wurden – ohne das das Land investive Unterstützung zur  Schaffung neuer Plätze gewährte. Zugleich wird deutlich: In diesem wichtigen Lebensbereich hat die Landesregierung keine eigenen Anstrengungen oder Initiativen entwickelt. Anstöße gaben die Bundesregierung mit der Aktion Job 4000 und mit der Unterstützten Beschäftigung (seit 1.1.09) sowie meine Fraktion hier im Landtag! Aber: In Sachsen-Anhalt gibt es kein Budget für Arbeit (wie in Rheinland/Pfalz),  mögliche Integrationsbetriebe oder CAP-Märkte sind im Land Marginalien und  Aktivitäten auf Bundesebene, um für neue Formen wie Außenarbeitsgruppen bessere Rahmenbedingungen zu schaffen, unterblieben.

Für die Landesregierung bestehen bei der Umsetzung der Prinzipien von Gleichstellung und Selbstbestimmung keinerlei Hemmnisse. Geradezu ängstlich vermeidet sie jegliche Analyse in dieser Richtung. Hemmnisse werden „eher nicht gesehen“ – sagt sie! Vielmehr steht“ – so die Landesregierung - mit der Eingliederungshilfe ein Instrument zur Verfügung, um die Einbeziehung der Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft wesentlich zu unterstützen.“ (S.12) Werden Hemmnisse benannt, so sind diese in jedem Fall nur außerhalb der Verwaltung/ Landesregierung zu identifizieren. Großes Lob erhält in jedem Fall die Bildung und das Wirken der Sozialagentur im Jahre 2004. Dabei muß klar gesagt werden, dass die Richtlinien für die Arbeit der Sozialagentur die Landesregierung vorgibt. Eine einzige Tabelle in der Großen Anfrage soll belegen, dass ambulante Angebote rasch angewachsen sind (S. 13) So wuchs die Zahl der Leistungsberechtigten im stationären Bereich von 8.719 (2001) auf 9.222 (2008) moderat, während im ambulanten Bereich im gleichen Zeitraum die Zahl von um etwa 2500 Personen auf 3.338 anstieg. Wenn ich – und das ist sicherlich richtig – die Angaben zur Frühförderung als ambulanter Hilfe einbeziehe, so ist sicher, dass der Fortschritt dann doch nicht so überragend ist. Diese Entwicklung wird mehrfach auf das Wirken der Sozialagentur zurückgeführt.

Beachte ich jetzt auch noch, dass die Zahl der Leistungsberechtigten im  stationären Wohnen fast gleich blieb, die Ausgaben pro Leistungsberechtigten – trotz höherer Preise für Energie und Nahrung – um beinahe 10 % sanken, so lässt das auf den ersten Blick mehr Effizienz vermuten. Dem ist aber nicht so, denn die Kostenreduzierung ist zu einem Großteil mit dem Rückgriff auf die Rentenversicherung zurückzuführen. Zu beachten ist weiter: Der Anteil der Leistungsberechtigten im ambulant betreuten Wohnen stieg von 2004 bis 2008 nur um 3,6 %; während bis 2004 genau 478 Leistungsberechtigte mehr im ABW waren, erhöhte sich die Zahl 2005 bis 2008 nur noch um 350 – das Tempo verlangsamte sich.

Interessant sind die Angaben zu den Entgelten im stationären Bereich, die ohne jegliche Analyse oder Wertung erfolgte: Festzustellen ist: Während in den Heimen die Entgelte nach dieser Tabelle (eine Quelle fehlt) um mehr als 10 % stiegen, wurden andere Wohnformen finanziell benachteiligt (Steigerungsrate um 4%). Hier noch eine Anmerkung, die vielleicht erklärt, weshalb die Konsensstudie bei der Landesregierung unbekannt ist: Die durchschnittlichen Ausgaben pro Leistungsberechtigten betrugen in Sachsen-Anhalt im Jahr ca. 26.900 €, in den alten Bundesländern aber 36.000 €. Die Angleichung der östlichen an die westlichen Verhältnisse macht also in der Behindertenhilfe um Sachsen-Anhalt einen großen Bogen. Wenn sich hier nichts ändert, steuern wir auch hier auf einen Fachkräftemangel hin. Und: Möchte ich wirklich Heimeinweisungen vermeiden, sind hier insgesamt Änderungen unumgänglich. Analoge Benachteiligungen sind im Bereich älterer behinderter Menschen darstellbar.

Da die Sozialagentur hier steuernd wirkt – immer im Auftrag der Landesregierung – ist festzustellen: Positive Entwicklungen in Richtungen eines Mehrs an ambulanten Betreuungen liegen im Bundestrend. In Sachsen-Anhalt wurden diese zaghaften Entwicklungen nicht durch sondern trotz der Sozialagentur möglich.

Die Behindertenpolitik wird erhebliche Anstrengungen übernehmen müssen, um die künftigen Aufgaben lösen zu können. Als solche sind unter anderen zu benennen:

  • Umgang und Betreuung mit einer Generation älterer behinderter Menschen
  • Schaffung von Rahmenbedingungen für das Entstehen eine umfänglichen Dienstleistungssektors
  • Schaffung fließender Übergänge von der WfbM in den ersten Arbeitsmarkt

Die Landesregierung hat diese Aufgaben als Herausforderung nicht identifiziert. Die in der GA formulierten Grundsätze sind allgemein und wenig konkret. So erwartet sie bspw. keinen grundsätzlich veränderten Hilfebedarf, sondern nur Verschiebungen in der Nachfrage aufgrund der demografischen Entwicklung. Formuliert wird, das nicht nur eine bedarfsgerechte Umgestaltung der Betreuungsangebote erforderlich ist, sondern auch eine verstärkte Erörterung mit Betroffenen (S. 65). Sie begrüßt die Überlegungen zur Modernisierung der EH auf Bundesebene, aber in der GA findet sich kein Wort zur dort anvisierten personenzentrierten Leistungserbringung etc.

Fasse ich alles zusammen, so ist festzustellen: Konzepte und Umbauszenarien, wie wir in Sachsen-Anhalt von der Fremdbestimmung zu einem selbstbestimmten Leben für alle Menschen mit Behinderungen, die es wünschen, kommen kann, sind nicht dargestellt worden. Hemmnisse und Probleme, die in Gesetzen und Verordnungen ihre Ursache haben werden ignoriert. Der Tenor vieler Antworten der Landesregierung  lautet hingegen: Wir sind gut! Weiter so! Wir fordern die Landesregierung auf, vor den drängenden Problemen nicht weiter die Augen zu verschließen und einen Paradigmenwechsel in der Realität herbeizuführen – die Notwendigkeit hat sie mit ihren Antworten auf unsere Große Anfrage selbst begründet.