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Birke Bull zu TOP 16: Verbesserung der Angebote integrativer Kinderbetreuung und -bildung

Mit der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen aus dem Jahr 2007 wurde der Anspruch formuliert, dass alles, was die Gesellschaft zu bieten hat, alle Bereiche, in denen Menschen, Bürgerinnen und Bürger, unterwegs sind, so zu gestalten sind, dass Teilhabe von Menschen Normalität und Vielfalt erlebbar wird. Das bedeutet einen grundsätzlichen Abschied von Sondereinrichtungen. Es geht um Inklusion, vielleicht am besten übersetzbar mit dem Wort „Dazugehörigkeit“.  

Um gleich mit einem Missverständnis aufzuräumen: Der Gedanke der Inklusion kommt zwar in der Tat aus der Behindertenbewegung, meint aber die Dazugehörigkeit aller Menschen und eben nicht nur der Menschen mit vermeintlichen Behinderungen. Es geht um Geschlecht, um ethnische Herkunft, um Religiosität und um Gesundheit. Das Prinzip heißt: Wir sortieren nicht mehr, sondern wir wollen Gemeinsamkeiten und Miteinander organisieren sowie Teilhabe sichern.  

Nun liegt ein Antrag vor, der diesen Anspruch aus der Perspektive oder am Beispiel der frühkindlichen Bildung für die Inklusion von Kindern mit und ohne Behinderung etwas konkreter beleuchtet und entsprechende Vorschläge macht.

Es stellt sich die Frage, wie es uns künftig gelingen kann, den Gedanken und das pädagogische Konzept der Inklusion perspektivisch in allen Kindertagesstätten zu entwickeln.  

Mir liegt ein Papier aus Rheinland Pfalz vor, in dem mit dem Begriff „inklusive Regeleinrichtungen“ hantiert wird. Ich finde das sehr treffend. Genau darum geht es.

Alrun Schastok, Medienwissenschaftlerin und langjährige Leiterin einer integrativen Kindertagesstätte, hat es einmal so formuliert: „Kinder mit und ohne Behinderungen brauchen Kinder mit und ohne Behinderungen.“

Was ist der Ausgangspunkt? Wo beginnt unsere Kritik? Sachsen-Anhalt ist vor einigen Jahren schwer in die Kritik geraten, und zwar deshalb, weil der Anteil der
Schülerinnen in gemeinsamem Unterricht viel zu niedrig ist. Wir waren damals bundesweit das Schlusslicht.  
Um bei dem Gedanken der Inklusion zu bleiben, müsste die Kritik eigentlich umgekehrt lauten: Viel zu wenig Kinder ohne Behinderungen können gemeinsam mit Kindern mit Behinderungen lernen. Das heißt Inklusion: Das Leben mit Behinderungen erleben, Einfühlsamkeit erleben, Toleranz und zugleich Durchsetzungsfähigkeit entwickeln, für beide Seiten, wenn man es denn schon in Seiten einteilt.

Wie sieht es nun im Bereich der frühkindlichen Bildung aus? Es gibt in Sachsen-Anhalt fast 2 000 Kindertagestätten. Bei genauerer Betrachtung muss man konstatieren, dass nur 145 Kindertagesstätten integrativ arbeiten, sich also ein Stück weit dem Gedanken der Inklusion nähern - 145 von 2 000, 7 bis 8 %.
Von den Kindern erleben nur knapp mehr als 11 % integratives Arbeiten. Für 11 % der Kita-Plätze besteht die Chance, Kinder mit und ohne Behinderung zu erleben. Rund 88 % der Kinder bleibt dies verwehrt.
Es geht nicht um die Integration von Kindern mit Behinderungen. Es geht nicht darum, Kinder mit Behinderungen „zuzuführen“. Kinder mit und ohne Behinderungen brauchen Kinder mit und ohne Behinderungen. Das heißt Inklusion.  

Die Frage ist nun, welche Schritte taugen, um die Entwicklung ein Stück nach vorn zu bringen. Ich will gleich vorweg sagen: Es sind viele schwierige Fragen zu beantworten, die auch in unserer Fraktion zu sehr vielen Diskussionen geführt haben, auf die uns im Moment auch noch keine eindeutigen Antworten möglich sind und die uns garantiert nicht nur Beifall einbringen, weder bei den Eltern noch bei den Trägern und Akteuren. Auf einige der Spannungsfelder will ich zu sprechen kommen.
Unser Antrag ist bewusst genau in dieser Art formuliert, weil wir den Stein der Weisen nicht gefunden haben.

Das Kultusministerium hat in Sachen schulische Integration von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf einiges auf den Weg gebracht.  
Nun bin ich weit davon entfernt zu sagen: Vom Kultusministerium zu lernen, heißt siegen lernen, aber ich finde schon, dass sich ein Blick über den Tellerrand lohnt.
Zum Beispiel die Förderzentren: Die Förderzentren in Sachsen-Anhalt haben hinsichtlich des gemeinsamen Unterrichts eine ganze Menge bewegt. Das sind kleine erste Schritte in Richtung Inklusion. Es gibt eine Reihe von Kitas, die in diesen Förderzentren schon mitarbeiten. Dort passiert Kompetenztransfer. Erzieherinnen, die schon seit fast 20 Jahren - solange gibt es in Sachsen-Anhalt keine Sonderkindergärten mehr - integrativ arbeiten, haben eine ganze Menge in den Erfahrungsaustausch mit Grundschullehrerinnen und Grundschullehrern einzubringen. Auf den Tisch gehören die Probleme genauso wie die Erfolge. Die Förderzentren sind gute Plattformen, um Erfahrungen auszutauschen.
Man kann gemeinsam überlegen, wie man Elternarbeit organisieren muss, um Ängste und Vorbehalte, die wir ernst nehmen müssen, abzubauen und die Elternarbeit zu unterstützen.

Wir sollten über die Frage diskutieren, wie es gelingen kann, die Mitarbeit über die jetzt schon integrativ arbeitenden Kitas hinaus zu entwickeln. In die Förderzentren gehören nicht nur die integrativen Kitas, sondern die Regelkindergärten, die so genannten Regelkindertagesstätten.

Die Förderzentren, die als solche anerkannt werden, müssen ihr pädagogisches Konzept verteidigen. Auch das ist eine gute Idee, über die man durchaus diskutieren könnte. Das ist eine gute Sache, dass man eben nicht nur das Konzept beim Landesverwaltungsamt abgibt, sondern sich mit den eigenen pädagogischen Ideen auseinandersetzt. Das mussten die einzelnen Förderzentren tun, bevor sie Förderzentren geworden sind. Das ist eine Idee, um auch miteinander ins Gespräch zu kommen, um Pädagogik voranzutreiben.

Ein anderer Vorschlag im Antrag thematisiert die Frage der Standards für inklusive Kitas. Momentan existieren die Standards aus der Kinderbetreuungsverordnung informell weiter. Die damals beklagte Zusatzpauschale wird weiter gewährt. Die förderbaren Berufsqualifikationen gelten informell weiter. Das Problem ist aber, dass zehn Jahre vergangen sind. Die Entwicklung ist vorangeschritten. Wir haben eine UN-Konvention, die einen Unterschied zwischen Integration und Inklusion macht. Es müsste also neu darüber diskutiert werden, wie wir alle Kindertagesstätten so gestalten können, dass sie auf den Weg der Inklusion kommen.
Man müsste beispielsweise über die Frage der räumlichen und materiellen Grundstandards neu diskutieren, die unabhängig von der Anwesenheit von Kindern mit dem so genannten Grundanerkenntnis zu erfüllen sind. Dabei handelt es sich institutionenbezogene Standards, die jede Kindertagesstätte, die das Markenzeichen Inklusion haben will, vorweisen muss.

Bevor Sie jetzt gleich in einen Kostenberechnungsreflex zurückfallen: Man muss natürlich genau überlegen. Ich habe in Kindertagesstätten erlebt, dass Pädagogen, also Erzieherinnen, mit Kindern auch durchaus selbst etwas gebaut haben. Das ist ein riesiger Effekt. Es geht nicht darum, über die Maßen räumliche und materielle Standards zu entwickeln, die keiner erfüllen kann. Es geht um die Frage, was Grundstandards sind. Darüber muss einmal diskutiert werden.

Was nach unserer Auffassung aber gegeben sein muss, ist die räumliche Barrierefreiheit. Die ist in den Standards bisher nicht enthalten. Das ruft ganz problematische Entwicklungen hervor, nämlich dass man innerhalb von Kindern mit Grundanerkenntnis sortiert: Dort, wo keine Barrierefreiheit gegeben ist, kommen die so genannten leichten Fälle hin und dort, wo Barrierefreiheit realisiert worden ist, kommen die so genannten schweren Fälle hin. Das kann keine Lösung sein.

Wir müssen miteinander darüber diskutieren, was Grundstandards sind, die platzbezogen ausgestaltet werden müssen. Das betrifft zum Beispiel die Relation zwischen Kindern und Erzieherinnen. Das Ministerium gibt an, dass der momentane Standard eine Gruppengröße von 15 : 4 sei. Ich kann Ihnen mindestens zehn Kindertagesstätten nennen, die das bei Weitem und schon lange nicht erfüllen. Das kann nicht wirklich der Grundstandard sein.
Ich sage damit nicht, dass das richtig ist. Aber ich denke, man muss fragen: Taugt das noch? Was wollen wir eigentlich?

Bei uns wurde in diesem Zusammenhang zum Beispiel diese Frage heiß diskutiert: Sollen diese Standards, wenn sie denn zu Standards erhoben werden, nur gelten, wenn Kinder mit diesem Grundanerkenntnis, mit Behinderungen in die Kitas gehen? Oder fordern wir: Jede Regeleinrichtung soll das vorweisen?  

Dahinter verbirgt sich auch das Problem der Einzelintegration. Momentan gibt es in den integrativen Kitas einen sehr hohen Anteil von Kindern mit Behinderungen. Soll das so bleiben? Wenn wir sagen, Inklusion ist angesagt, dann ist auch die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass es zur Einzelintegration kommt. Das alles sind Probleme, die man spätestens seit 2007 bereden muss.

Des Weiteren geht es natürlich um Wohnortnähe. Die Fahrzeiten, die Kinder mit Behinderungen zu integrativen Kitas derzeit absolvieren, sind manchmal recht groß. Eigentlich haben auch Kinder mit Behinderungen das Recht auf Wohnortnähe.
Wir sind uns darüber im Klaren, dass nicht alle freien Träger dazu Beifall klatschen werden. Immerhin führt das auch zu einer immensen Konkurrenz. Es ist momentan das Alleinstellungsmerkmal von manchen Trägern, integrative Kitas vorzuhalten.  
Aber wenn wir uns auf den Weg begeben wollen, dann müssen es alle Kindertagesstätteneinrichtungen sein, eben auch die um die Ecke. Das wird nicht gleich und sofort möglich sein. Außerdem schafft es Konkurrenz, aber die belebt auch das pädagogische Geschäft.
Die schwierigste Frage, die wir diskutieren und beantworten müssen, lautet: Wie sind solche Standards momentan überhaupt durchsetzbar? Wie verhält sich das Land nach der Kommunalisierung der Aufgabe? Welche Möglichkeiten haben wir hierbei als Land anzuregen oder zu steuern? Haben wir Möglichkeiten und, wenn ja, welche gibt es?

Das dritte Beispiel, es ist auch im Antrag finden, bezieht sich auf die Zukunft des Bildungsprogramms „Bildung elementar“. Wir haben dafür Mittel in den Haushaltsplan eingestellt. Die Autorin des Programms Frau Professorin Rabe-Kleeberg ist in Bezug auf die Frage Inklusion sehr sensibel. Sie ist derzeit schon sehr viel in integrativ arbeitenden Einrichtungen unterwegs. Hier muss diskutiert und entschieden werden: Welche Ansprüche haben wir an die Überarbeitung des Bildungsprogramms „Bildung elementar“?

Ich sage es noch einmal klar: Sie finden in unserem Antrag nicht den Stein der Weisen, nicht nur, weil wir ihn nicht kennen, sondern weil es ihn nicht gibt. Einige Spannungsfelder habe ich genannt. Auch bei uns gibt es noch viele offene Fragen, die man mitunter nur mit einer engagierten Verwaltung beantworten kann. Dazu reichen Ressourcen einer Fraktion nicht aus. Es gibt Fragen, die man überhaupt erst beim Erfahrungsaustausch mit den Beteiligten bereden kann.

Aus diesem Grunde beantragen wir die Überweisung in den Ausschuss für Soziales. Ich denke eigentlich, dass es spätestens nach der UN-Konvention Anliegen aller Fraktionen ist. Die Frage des „ob“ steht für uns nicht mehr, es geht nur noch um die Frage des „wie“.

Ich habe gesagt, das ist kein einfacher Weg. Aber es ist ein guter Anlass, darüber kontrovers, aber konstruktiv zu diskutieren. Nach meiner Einschätzung sind wir im Bildungssystem möglicherweise weit auseinander, aber in der Frage der frühkindlichen Bildung so weit nicht.

Ich habe noch eine kleine Änderung des vorliegenden Antrags vorzuschlagen. In der zweiten Zeile gehört nach „Kinder mit Behinderung“ der Einschub „und ohne“. Ich habe am Anfang versucht, es zu erläutern. Es geht hierbei nicht darum, Kinder mit Behinderungen zuzuführen. Das ist nicht unser Anspruch. Es geht darum, flächendeckend perspektivisch Möglichkeiten zu eröffnen, damit Kinder mit und ohne Behinderung miteinander lernen, deshalb der Einschub „und ohne“ vor.