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Birke Bull zu TOP 15: Neuberechnung der Regelsätze im SGB II

Die Bundesregierung hat ihre Vorstellungen für eine Neuberechnung der Regelsätze vorgelegt, hat also ihre Hausaufgaben nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vorgelegt. Das Ergebnis ist, wie ich finde, zu Recht auf scharfe Kritik gestoßen. Eine Erhöhung um 5 Euro muss man schlichtweg als Provokation empfinden. Es ist ja auch eine. Ich finde es ein Stück weit grenzwertig, sich dann auch noch mit Zynismus hinzustellen und es groß zu bedauern, dass die Kinderregelsätze nach dieser Rechnung eigentlich noch sinken müssten. Ich glaube, um 12 Euro, wenn ich es richtig in Erinnerung habe.

Meiner Auffassung nach gehört nicht die Rechnung, allenfalls noch die Transparenz, aber eben nicht die Rechnung unter die Kritik. Denn ich denke schon, hinter jeder Rechnung steht vor allen Dingen eine politische Absicht. Damit muss man sich auseinandersetzen, denn diese 5 € sind politisch gewollt.

Was soll nun Menschen zugestanden werden, die keine Arbeit haben oder die keine Arbeit finden? Um es einmal ganz klar zu sagen: Hier geht es nicht um anstrengungslosen Wohlstand. Wer sich die IAB-Studien gerade aus dem Jahr 2010 anschaut, der findet darin ganz eindeutige Forschungsergebnisse, ganz eindeutige Botschaften, dass Menschen im SGB-II-Bezug genauso aktiv und genauso faul sind wie ihre Mitstreiter oder ihre Zeitgenossen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Es ist also Unsinn, wenn jemand immer wieder behauptet, die seien besonders faul.

Es geht um ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben, und das eben nicht verglichen mit den Menschen, die in Afrika leben. Die Menschen erleben hier, was eine Gesellschaft zu bieten hat, und sie erleben hier, dass sie davon ausgeschlossen werden. Sie leben am Rande dieser Gesellschaft und nicht am Rande der afrikanischen Gesellschaft. Sie müssen hier die Kosten für Energie, für das Internet, für Nahrungsmittel und für Bücher bezahlen.  

Das Problem an dieser Debatte ist, dass auf diese Art und Weise die Botschaft versandt wird: Ihr, liebe Leute, habt gar keinen Grund, zu jammern. Liebe Leute, euch geht es vergleichsweise gut. Wer diese Argumentation bemüht, diskreditiert damit Armutslagen in Deutschland.

Das bekommt uns allen nicht gut. Das Funktionieren einer Demokratie ist davon abhängig, ob und inwiefern Menschen ihr Land als sozial gerecht empfinden.
Wenn sie aber erleben, dass auf der einen Seite der Reichtum steigt und auf der anderen Seite immer mehr Menschen ausgegrenzt werden bzw. daran nicht teilhaben können, dann empfinden sie das nicht als sozial gerecht. Erwerbslosen wird die Daumenschraube angesetzt. Sie dürfen Autofahren, dürfen aber nicht tanken. Sie sollen sich für 1,39 Euro Bildung kaufen. Sie sollen nicht rauchen und nicht trinken.
Wie das wirkt, werden Sie verstehen, wenn Sie sich einmal den „Tagesspiegel“ durchlesen. Darin wird berichtet, dass ein Herr Kauder „Botschafter des Bieres 2010“ ist. Dieser sagt dazu: „Zwei, drei Weizenbier am Tag gehören dazu. Die müssen einfach sein.“
Wie das auf jemanden wirkt, der die hunderttausendste Bewerbung geschrieben hat, das hunderttausendste Mal an Lehrgängen zum Thema „Wie bewerbe ich mich richtig?“ teilgenommen hat, das ist substanziell. So erleben Erwerbslose das, was hierzulande unter „sozial gerecht“ verstanden wird.

Darüber hinaus ist anzumerken, auch die vermeintliche Erhöhung ist eine Milchbubenrechnung. Wir haben gestiegene Verbraucherausgaben, und zwar seit dem Jahr 2003 um 20 %.

In dem Zusammenhang möchte ich nur kurz sagen: In einer Großen Anfrage zum Thema Hartz IV haben wir die Landesregierung gefragt: Wie ist für Verbraucher das Preisniveau in Sachsen-Anhalt gestiegen und wie verhalten sich dazu die Regelsätze?
Die Landesregierung antwortete darauf, dass der Verbraucherindex um, ich glaube, 7,5 % und die Regelsätze um mehr als 8 % gestiegen sind. Nun könnte man sich eigentlich zurücklehnen und sagen: Gut. Wenn man aber genauer hinguckt, dann kann man sehen, dass zum Beispiel die Ost-West-Angleichung dort mit hineingerechnet worden ist. Die war nun garantiert nicht dazu gedacht, die Preissteigerung auszugleichen. Sie war dazu gedacht, lediglich das Niveau zwischen Ost und West anzugleichen.
Gleichzeitig werden das Elterngeld für Hartz-IV-Empfängerinnen und der gerade erst eingeführte Heizkostenanteil gestrichen.  

Immer wieder wird das Lohnabstandsgebot bemüht. Wer arbeiten geht, muss mehr in der Tasche haben als der, der zu Hause ist. Logisch. Das klingt sehr eingängig. Es ist völlig klar: Arbeit muss sich lohnen. Es wäre auch logisch, wenn die Realität dem standhalten würde, wenn der so Motivierte nämlich losgehen könnte, um sich eine Arbeit zu nehmen, von der er halbwegs leben könnte. Das ist aber nicht so.

Stattdessen funktioniert eben dieses Lohnabstandsgebot in der Realität ganz anders.  
Mit Hartz IV ist ein riesiger Niedriglohnsektor entstanden. Wenn etwas boomt, dann ist es tatsächlich der Niedriglohnsektor. Wir haben derzeit ca. 1,3 Millionen Menschen, die trotz Berufstätigkeit auf Hartz IV angewiesen sind. Das ist ein Zuwachs von 1 %. Das sind so viele Fälle wie nie zuvor. In Sachsen-Anhalt sind es 77.000 Menschen. Die Zahl der Mini-Jobs ist um 7 % angestiegen. Demgegenüber sind die Jobs mit mehr als 800 Euro monatlich um 13 % gesunken. Das heißt, die Löhne im Niedriglohnsektor sinken.

Genau das benutzt die Bundesregierung logischerweise. Zu der Referenzgruppe gehören nämlich mittlerweile nicht mehr 20 % derjenigen, die ein Einkommen erhalten, sondern nur noch 15 %.
Nicht herausgerechnet werden dabei die Fälle versteckter Armut, also Menschen, die de facto arbeiten gehen, aber nicht von ihren Leistungsansprüchen Gebrauch machen. Auch Aufstocker und ehemalige Elterngeldbezieher werden nicht herausgerechnet.

Um die Wirkung einmal ganz konkret zu machen, möchte ich kurz Folgendes darlegen: Gerade Familien, die in diesem Bereich unterwegs sind, die in schwierigen finanziellen Lebenslagen sind, die können sich mitunter kein Internet leisten. Meinethalben weil sie in die Situation geraten, für ihr Kind ein Fahrrad kaufen zu müssen. Das heißt, sie kaufen auch keinen Internetanschluss. Dieses Verbraucherverhalten fließt dann in die Rechnung ein. Das ist ein klassischer Zirkelschluss. Da ist es auch ganz klar oder verwundert es nicht, dass man dann bei 18-Jährigen bei der Position Nachrichtenübermittlung, um nur eine Position zu nennen, bei 15 Euro bleibt.

Unter diesen Umständen auf das Lohnabstandsgebot zu pochen und gleichzeitig einen Mindestlohn zu verweigern, das heißt ganz klar, das Existenzminimum immer weiter nach unten zu schrauben. Das muss man dann auch so sagen. Das genau verbirgt sich hinter der Losung „Sozial ist, was Arbeit schafft“. Da muss man nämlich mal ein bisschen genauer gucken, welche Arbeit hier geschaffen wird.

Es wird gern argumentiert, Steuerzahlerinnen und Steuerzahler dürfe man nicht ausplündern. Auch das ist eine recht eingängige Argumentation, abgesehen davon, dass sich der Leidensdruck für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler bei der Absenkung der Steuern für die Möwenpicks doch arg in Grenzen gehalten hat. Dabei ging es um deutlich mehr.
Das ist in der Tat richtig. Steuerzahlerinnen und Steuerzahler müssen für soziale Sicherungssysteme aufkommen. Sie müssen das sogar in zunehmendem Maße, und zwar deshalb, weil eben Bestverdiener nicht entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit besteuert werden. Sie können sich deshalb immer weiter aus den gesellschaftlichen Leistungen und zum Beispiel auch aus den sozialen Sicherungssystemen heraushalten.

Und nicht nur das, sehen wir uns einmal die Leistungen für Aufstocker an. Diese kosten den Steuerzahler und die Steuerzahlerin jährlich eine riesige Summe, 8,1 Milliarden Euro. Das ist Geld, für das keine Arbeitsleistung erbracht werden musste, das der Steuerzahler aufbringen muss, und zwar in zunehmendem Maße. Hierbei wird geplündert - das ist wohl wahr -, aber es würde nicht so geplündert, wenn es eine gerechte Steuerpolitik gäbe.

Und lassen Sie mich noch ein Wort zu dem so genannten Bildungspaket verlieren. Ich möchte gleich am Anfang sagen, dass man beim Bildungspaket das Kind nicht mit dem Bad ausschütten sollte. Das Bildungspaket enthält tatsächlich Bestandteile, die in Ordnung sind und denen ich durchaus etwas abgewinnen kann. Das betrifft zum Beispiel das kostengünstige Mittagessen. Das knüpft an die Alltagserfahrungen vieler Leute an: Das Geld muss bei den Kindern ankommen. Die Subbotschaft aber, es komme sonst nämlich nicht an, halte ich jedoch für schwierig. Ein bisschen ist das Thema auch noch mit dem schillernden und allgemein akzeptierten Begriff der Bildungsteilhabe versehen.  

Wo liegen jetzt aber die Probleme? Zunächst ist es mir wichtig festzustellen, dass die allermeisten Eltern ihrer Verantwortung für die Entwicklung ihrer Kinder nachkommen. Eine pauschale Stigmatisierung ist von Übel. Ich finde, sie vergiftet das Klima. Sie ist nicht nur verzichtbar; vielmehr sollten wir unbedingt darauf verzichten.  
Die eigentliche Herausforderung besteht darin, wie es uns als Gesellschaft insgesamt und auch den einzelnen Institutionen gelingen kann, jene Familien anzusprechen und einzubinden, die ob ganz unterschiedlicher sozialer Lagen resigniert haben und ihrer Verantwortung nicht mehr in ausreichendem Maße nachkommen. Ich befürchte aber, dass dieses Problem mit diesem Bildungspaket nicht zu lösen ist.

Wir haben funktionierende Strukturen und eine funktionierende Behörde, das Kinder- und Jugendhilferecht und das Jugendamt. Was Sie jetzt tun, ist, dass Sie einer Behörde, die eigentlich für die Arbeitsverwaltung zuständig ist, die also keinerlei sozialpädagogische Kompetenz besitzt, eine zusätzliche Aufgabe übertragen, die sie gar nicht erfüllen kann. Das eine oder andere, was die Bundesregierung im Rahmen des Bildungspakets vorhat, gehört in das Kinder- und Jugendhilferecht. Schaffen Sie ein individuelles Recht und dann geht schon das eine oder andere in Ordnung.

Eines muss ich allerdings noch loswerden: die Frage des Nachhilfeunterrichts. Die Philosophie lautet, die Schule richtet sich an normale Kinder, an die so genannten guten, und wir schauen einmal, wem wir die so genannten schwierigen Fälle zuordnen. So geht es nicht!
Eine der größten Effizienzreserven der Schule liegt in dem mittlerweile installierten gewerblichen Nachhilfesystem, dessen Wert die IHK auf 5 Milliarden Euro beziffert.

Stellen wir uns das einmal so vor: Ein Anteil von 12,1 % der Bescheide, die das Landesverwaltungsamt erlässt, wären falsch und alles, was wir nun tun, ist: Wir schaffen eine zusätzliche Behörde, die sich mit diesen falschen Bescheiden befasst und sie richtig stellt.

Wir müssen die Schule verändern. Auch Kinder in schwierigen Lebenssituationen können wir nicht einfach zu XY schicken, zu gewerblichen Nachhilfeeinrichtungen, damit diese den Kindern am Nachmittag die Formeln, die sie am Vormittag nicht verstanden haben, noch einmal erklären. Das ist eine pädagogische Herausforderung, die in die Schule gehört. Und genau dort muss sie bleiben.

Im Übrigen gehört das gegliederte Schulsystem zu den Lernbarrieren schlechthin. Deswegen muss es Schritt für Schritt umgebaut werden. Die Betonung liegt auf „Schritt für Schritt“ und auf „umgebaut“.

Was tun wir nun mit ihrem Alternativantrag? Ich hätte darauf gewettet, dass die SPD-Fraktion ihren revolutionären Joker zieht und mit der Ausschussüberweisung kommt.
Sie enttäuschen mich.  Jetzt wird uns sozusagen eine Bildungsveranstaltung vorgeschlagen. Sie drücken sich davor, eine klare Entscheidung zu treffen, sich klar politisch zu bekennen oder einfach zu sagen: In dieser Koalition können wir nur schweigen. Das ist etwas anderes, als Verantwortung zu übernehmen. Wir werden Ihren Antrag ablehnen.