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Wulf Gallert zu TOP 2b: Aktuelle Debatte - Die Zukunft der EU 60 Jahre nach Unterzeichnung der römischen Verträge

Es ist zwar im Landtag von Sachsen-Anhalt nicht unüblich, Aktuelle Debatten zu Jahrestagen anzumelden, trotzdem könnte ein interessierter Beobachter regelmäßig die Frage stellen, was denn so sonderlich aktuell an Jahrestagen sei, die man im Gegensatz zu fast allen anderen politischen Ereignissen mit einer gewissen Sicherheit voraussagen kann.

Wahrscheinlicher aber ist, dass auf diese Frage bei der Anmeldung dieser Aktuellen Debatte zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge, der vor 10 Tagen stattgefunden hat, niemand gekommen ist.

Der Grund dafür ist so einfach wie nachvollziehbar. Die Diskussion um die Perspektive der EU, ja möglicherweise auch ihre Existenz, wird 60 Jahre nach ihrer Gründung mit großer Emotionalität und zum Teil harten Bandagen geführt. Die Debatte hat längst den Kreis der Insider verlassen und wird zurzeit an Stammtischen diskutiert wie der letzte Spieltag der Bundesliga. Allerdings wird diese Debatte europaweit nicht nur den Ausgang einer Saison, man könnte auch Legislaturperiode sagen, bestimmen, sondern das Schicksal der Menschen, die hier in Europa leben, für die nächsten Jahrzehnte, möglicherweise für das gesamte 21. Jahrhundert.

Bevor wir aber zu solchen pathetischen Schlussfolgerungen kommen, schauen wir uns noch einmal an, wie die Motivlage vor 60 Jahren wirklich aussah. Natürlich waren die Römischen Verträge zuallererst auf die Einrichtung einer Zollunion und eines gemeinsamen europäischen Marktes ausgerichtet. Allerdings waren sie darauf nicht beschränkt. Bereits 1957 waren darüber hinausgehende politische Implikationen ausschlaggebend. Da war zum einen das Interesse der Bundesrepublik Deutschland, nach dem Zweiten Weltkrieg gleichberechtigt dazuzugehören und ihre Außenseiterrolle nach den Verbrechen des Nationalsozialismus abzulegen. Da war das Interesse Frankreichs, einen gewissen Einfluss auf das Wirtschaftswunderland BRD zu haben. Da war das Interesse des gesamten Westens, dem seit 1949 existierenden Experiment einer transnationalen Planwirtschaft etwas entgegenzusetzen und natürlich auch die Hoffnung, die mörderischen Konflikte zwischen den europäischen Nationalstaaten präventiv zu verhindern, statt auf dem Schlachtfeld auszutragen.

Wenn trotzdem heute jemand behauptet, dass der EWG-Vertrag von 1957 ausschließlich auf die Einrichtung einer Freihandelszone ausgerichtet war, dann irrt er massiv. Denn schon in diesem ersten Vertrag gab es den europäischen Sozialfonds als ersten und einzigen Haushaltsposten der EWG. Die Forderung „gleicher Lohn für gleiche Arbeit für Mann und Frau“ findet sich erstaunlicherweise auch bereits im Text von 1957.

Wichtiger aber als die Motivlagen im Jahr 1957 waren die Ergebnisse der Entwicklung der europäischen Integration. Und kaum jemand wird bestreiten wollen, dass die EU dazu beigetragen hat, dass es seit ihrer Gründung keinen Krieg mehr zwischen den Mitgliedsländern gegeben hat, dass die Union geholfen hat, nationale Schranken in Politik, Wirtschaft und Kultur zu überschreiten und dass sich, zumindest partiell, bei den Bürgerinnen und Bürgern ein europäisches Bewusstsein, ja sogar eine europäische Verantwortung herausbildet.

Mag man vielleicht über den aktuellen Zustand der EU sehr geteilter Meinung sein, die Vorteile einer europäischen Integration liegen zumindest für uns deutlich auf der Hand. Es gilt, sie mit Vehemenz und Herzblut zu verteidigen.

Dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, gilt übrigens im Großen wie im Kleinen. Denn gerade für uns hier in Sachsen-Anhalt sind die Vorteile der europäischen Integration, insbesondere der Kohäsionspolitik, nahezu überall greifbar.

Und liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, wir halten es für ausgesprochen kontraproduktiv, wenn man bei Planung und Umsetzung von EU-Mitteln, die sicherlich nicht einfach sind, eigene Versäumnisse demjenigen anlastet, der das Geld für sinnvolle Projekte und Programme bereitstellt, vor allem dann, wenn der Mittelabfluss und der Einsatz dieser Mittel in den Nachbarländern Brandenburg und Thüringen deutlich erfolgreicher gestaltet wird als hier in Sachsen-Anhalt.

Und diejenigen, die mit dem permanenten Verweis auf eine angeblich ausufernde Brüsseler Bürokratie die Hilfe der EU in Misskredit bringen, denen sei gesagt, dass die Verwendungsbreite der europäischen Mittel für uns häufig viel größer und günstiger war als die Bereitstellung von Mitteln aus dem Bundeshaushalt.

Und trotz all dieser Fakten haben wir es in der EU, teilweise auch in Deutschland, mit einem massiven Vertrauensverlust gegenüber der EU zu tun und der Nationalismus, diese gefährliche Quelle von Hass, Leid und Verbrechen, feiert heute wieder fröhliche Urstände, nicht nur auf der anderen Seite des Atlantiks. Nationale Egoismen und völkische Beschränktheit sind hof- und teilweise wieder mehrheitsfähig geworden, egal, ob sie sich gegen die angeblich faulen Griechen, gegen polnische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Großbritannien, gegen Roma aus Südosteuropa oder generell gegen Flüchtlinge und Migranten richtet. Und ich stelle hier die These auf, dass das Wiederauferstehen der Gespenster der Vergangenheit sehr viel mit den heutigen Realitäten in der EU zu tun hat.

Wie kann es aber sein, dass eine Institution, die in ihrem Artikel 2 die Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, der Demokratie, der Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte festschreibt und neben dem Binnenmarkt soziale Gerechtigkeit und die Beseitigung der Armut als Ziele formuliert, in vielen Teilen Europas einen solchen Akzeptanzverlust erleidet?

Unsere Analyse, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eben nicht, dass diese Ziele falsch wären. Unsere Analyse ist, dass die Menschen leider viel zu häufig erlebten, dass die Institution der Europäischen Union genau das Gegenteil dieser proklamierten Ziele umsetzten.

Vor einigen Wochen veranstaltete der DGB in Berlin eine Konferenz zur Perspektive der EU. Auf die eben von mir genannten Probleme angesprochen, meinte ein Vertreter der EU-Kommission, dass die Kommission zuallererst der Hüter des freien Marktes und des Wettbewerbes sei. Sozialpolitik ist Sache der Nationalstaaten. Nun könnte man sich nach einer solchen Einschätzung verwundert die Augen reiben und fragen, ob der Mann den Lissabon-Vertrag nicht kennt. Das eigentliche Problem ist aber, dass er so ziemlich treffend die Realitäten in Europa beschrieben hat. Immer dann, wenn es darum geht, soziale Errungenschaften in einzelnen Ländern infrage zu stellen, weil sie angeblich den freien Markt behindern, handeln die EU-Institutionen ziemlich konsequent, z B. der Europäische Gerichtshof, der die Tarifbindung im Niedersächsischen Vergabegesetz für nichtig erklärt. Es waren Brüsseler Institutionen, die die Angriffe auf das deutsche Sparkassensystem fuhren. Es waren EU-Richtlinien, die auf die Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge, z. B. der Wasserversorgung, gedrungen haben und die nur mit großem Bürgerengagement gestoppt werden konnten. Es sind europäische Institutionen, die die deutsche Austeritätsideologie in Europa mit verheerenden Folgen durchsetzten und ohnehin stagnierende Volkswirtschaften in eine Abwärtsspirale hineindrückten. Und es sind europäische Institutionen, die die Abwehr von Flüchtlingen koordinieren und damit auch die Universalität von Menschenrechten infrage stellen. Diese Ambivalenz der EU ist ihr zentrales Problem. Viele Menschen können von den Vorteilen einer Institution nicht überzeugt werden, wenn es für sie diese Vorteile nicht gibt.

Lassen Sie mich an dieser Stelle auf ein zweites Problem hinweisen. Die Entscheidungsfindung in der EU wird nach wie vor durch die Dominanz nationaler Regierungen und nicht durch die Willensbildung im EU-Parlament bestimmt. Im Ergebnis sind EU-Entscheidungen viel zu häufig das Produkt eines Tauschhandels nationaler Egoismen statt der Formulierung eines gemeinsamen europäischen Interesses. Übrigens hat Großbritannien dieses System mit deutscher Unterstützung für sich weitestgehend perfektioniert und trotzdem im eigenen Land keine Akzeptanz mehr gehabt.

Und die EU hat drittens ein weiteres Glaubwürdigkeitsproblem. Während die Interessen des freien Marktes und auch der Finanzwirtschaft konsequent umgesetzt werden, nimmt man es bei Menschenrechten und der Armutsbekämpfung nicht so genau. Das betrifft nicht nur den Umgang mit Migranten und Flüchtlingen, sondern auch die faktische Akzeptanz der Einschränkung der Pressefreiheit in Ungarn und des Abbaus bürgerlicher Grundrechte in Polen.

Aber, werte Kolleginnen und Kollegen, als dies ist veränderbar. Und die EU ist ein Feld der politischen Auseinandersetzung, auf dem man die Dinge auch zum Guten wenden kann. Und es gibt auch Entwicklungen in der EU, die die von mir genannte substanzielle Kritik relativieren. Zwar ist mit Jean-Claude Juncker jemand Chef der EU-Kommission, der vorher als Ministerpräsident alles dafür getan hat, legale oder halblegale Steuersparmodelle auf Kosten öffentlicher Haushalte der EU-Mitgliedstaaten umzusetzen. Gleichzeitig ist es aber diese Kommission, die in der Auseinandersetzung mit Irland und Apple eines der Grundprobleme der EU, nämlich das Steuerdumping, zulasten der sozialen Gerechtigkeit angeht. Es ist die EU, in der zwar bis jetzt nur zaghaft und lustlos über eine neue soziale Säule geredet wird, die aber sehr wohl in der Lage wäre, Armut und soziales Gerechtigkeit zum Gegenstand eigenen politischen Handelns zu machen. Und es ist auch die Europäische Kommission, die der Bundesrepublik Deutschland völlig zu Recht vorwirft, die Polarisierung von Arm und Reich in den letzten 15 Jahren massiv vorangetrieben zu haben.

Es sind gerade auch diese positiven Entwicklungen, die Mut machen, den Kampf um soziale Gerechtigkeit und öffentliche Daseinsvorsorge in und mit der EU und nicht gegen sie zu führen. Es macht Mut, wenn jedes Wochenende in vielen Städten zehntausende von Menschen für die europäische Integration auf die Straße gehen. Es lässt aber gleichzeitig aufhorchen, wenn die Initiatoren dieser Kampagne sagen, dass sie Politikern das Mikro abdrehen, weil es eben auch und gerade Politiker sind, die ihrer Meinung nach die europäische Idee gefährden.

Lassen Sie mich am Ende noch einmal festhalten: Für uns als Linke ist die Auseinandersetzung für eine sozialgerechte, friedliche und humane EU im wahrsten Sinne des Wortes alternativlos. Eine EU, die sich nur als Garant des freien Marktes und des Mauerbaus versteht, verliert die Akzeptanz der Menschen in ihren Mitgliedsländern und bei den Nachbarn. Aber ein Zurück zu konkurrierenden und sich dann irgendwann bekämpfenden Nationalstaaten in Europa darf es nicht geben. Das lehrt uns die Vernunft und die Geschichte dieses Kontinents.