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Wulf Gallert zu TOP 15 b): Reformationsjubiläum im Interesse aller Menschen in Sachsen-Anhalt gestalten

Die von meiner Fraktion eingereichte Aktuelle Debatte befasst sich entgegen der Bezeichnung dieses Tagesordnungspunktes mit historischen Zeitabläufen: dem berühmte Thesenanschlag von Martin Luther an die Schlosskirche Wittenberg vor 500 Jahren, der Reformationsdekade und dem nun beginnenden Reformationsjubiläum.
Wer sich mit diesem Thema schon intensiver beschäftigt hat weiß, dass es sich hierbei eben nicht um ausschließlich kirchengeschichtliche Ereignisse handelt. Historiker bewerten diese Zeitenwende als Ende des Mittelalters und Beginn der Neuzeit, eine Zeitenwende geprägt durch massive Krisen, aber ebenso durch hoffnungsvolle Aufbrüche. Diese Zeit des Umbruchs hat aber inzwischen auch eine 500-jährige Reflexionsgeschichte. Mit einer Reformationsdekade diese Zeit zu reflektieren und Antworten auf unsere jetzigen Herausforderungen darin zu suchen, war ein mutiger und durchaus umstrittener Schritt, wie die diesbezüglichen Wertungen Friedrich Schorlemmers bereits aus dem Jahr 2007/08 belegen.

Worum es uns heute hier allerdings gehen soll, ist nicht so sehr die innerkirchliche Debatte, auch nicht das Verhältnis der beiden christlichen Kirchen, sondern die Rolle der Öffentlichkeit, insbesondere des Landes und der Kommunen in diesem Kontext. Dass die beiden Letztgenannten eine wichtige Rolle in der Debatte spielen sollen, war von Anfang an weitgehender Konsens, deutlich ablesbar zum Beispiel an der Vielzahl von Finanzierungsvereinbarungen der öffentlichen Hand im Kontext des Jubiläums. Mehr als 120 Mio. Euro werden oder wurden aus öffentlichen Kassen hierfür zur Verfügung gestellt und nicht nur Insider wissen, dass diese Summe noch lange nicht die Obergrenze ist.
Nur ein Beispiel: Der Landkreis Wittenberg wird allein 1,3 Mio. Euro für die Sicherstellung des Kirchentages zu erbringen haben, ohne dass es irgendeine Refinanzierung für dieses Defizit gibt. Ein Großteil der Gesamtsumme aber wird aus der Landeskasse aufgebracht.

Die Hoffnungen auf Finanzierungen des Bundes haben sich nur zum Teil erfüllt. Die Fraktion DIE LINKE im Landtag von Sachsen-Anhalt hat diesem Projekt immer wohlwollend gegenübergestanden. Im entscheidenden Zeitraum hat Frau Dr. Angelika Klein als Finanzausschussvorsitzende der letzten Legislaturperiode erheblich an der Sicherstellung der Finanzierung mitgewirkt, ohne dass sie zu diesem Zeitpunkt schon wusste, dass sie danach Landrätin von Mansfeld-Südharz werden würde.
Und ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, um es klar vorwegzusagen, meine Fraktion hat erhebliche Kritik am Engagement, insbesondere der Landesregierung, des Ministerpräsidenten und des letzten Kultusministers, was die Ausgestaltung des Reformationsjubiläums anbelangt. Die bezieht sich allerdings nicht darauf, dass öffentliche Mittel bereitgestellt werden, sondern darauf, welche Ziele mit dieser Mittelbereitstellung verfolgt werden.

Aus unserer Perspektive gibt es hier eine Reihe von Versäumnissen, die sich allerdings, und das dürfen Sie durchaus als Selbstkritik verstehen, auch auf den Landtag beziehen. Es gibt stapelweise Vorlagen zum Reformationsjubiläum, allerdings fast ausschließlich für den Finanzausschuss, mit detaillierten Regelungen zu Kostenübernahmen, Bauprojekten und Leistungen der öffentlichen Hand. Relativ wenig wurde darüber diskutiert, welche inhaltlichen Erwartungen wir eigentlich mit diesem massiven öffentlichen Ressourceneinsatz verbinden. Denn die Umsetzung des Reformationsjubiläums ist wiederum mehr oder weniger als eine innerkirchliche Veranstaltung behandelt worden. Deshalb ist auch nicht sonderlich verwunderlich, wenn die zur Verfügung gestellten Gelder fälschlicherweise als staatlicher Zuschuss für die Kirchen bewertet werden.

Welches sind aber zum Beispiel die drängenden Fragen, die wir eigentlich diskutieren müssten in unserem Land?

Erstens, 80 % der Einwohner dieses Landes sind konfessionell nicht gebunden. Natürlich wissen wir alle, dass kulturelle Traditionen und Wertvorstellungen auch für diese Menschen ihre Wurzeln im kirchlichen Glauben haben. Trotzdem sehen wir die Frage weitgehend unbeantwortet, wie diese Menschen genau in eine solche dringend notwendige Wertedebatte einbezogen werden sollen. Faktisch findet das bisher nicht statt. Dies ist jedoch nicht zuerst ein Vorwurf an die EKD. Dies ist ein Vorwurf an diejenigen, die die Rahmenvereinbarung zum Reformationsjubiläum seitens des Landes unterschrieben haben.

Man mag den Vorwurf des Kollegen Richter vom Deutschlandfunk als etwas überzogen ansehen, aber die Einschätzung, dass sich hier die Elite aus Kirche und Staat bei netten Häppchen selbst feiert, garniert mit ein paar Spaziergängen des Ministerpräsidenten mit gekrönten Häuptern durch Wittenberg, deutet eine ernst zu nehmende Gefahr an. Und dieser Eindruck wird sich verfestigen, wenn innerhalb der nächsten Monate nicht öffentlich und engagiert darüber gestritten wird, wie wir in unserer jetzigen Zeit des Umbruchs mit dem Erbe der Reformation umgehen.

Lassen Sie mich da nur ein Beispiel nennen. Luther und mit ihm andere Reformatoren des 16. Jahrhunderts beklagten zu Recht die Intoleranz der Papstkirche, dies allerdings in Kombination mit der eigenen Intoleranz, eine Traditionslinie, die u. a. zum 30-jährigen Krieg führte. Ja, und sicher konnte man sich in unserer Region ab 1555 aussuchen, ob man protestantisch oder katholisch ist, allerdings verbunden mit der Konsequenz, dass man sich dafür im Herrschaftsgebiet eines katholischen oder protestantischen Fürsten aufzuhalten hatte. Und wer meint, dass diese Auseinandersetzung heute keine Bedeutung mehr hat, muss sich nur die letzten Äußerungen unseres Innenministers vor Augen führen, der meint, dass der Islam eben nicht zu Deutschland gehöre.

Zweitens, zurzeit findet kaum eine kritische Auseinandersetzung mit Luther statt, sondern eine Lutherverehrung. Etwas, was er übrigens selbst immer abgelehnt hat. Mit etwas Schmunzeln habe ich zur Kenntnis genommen, dass Frau Käßmann anlässlich der Wiedereinweihung der Schlosskirche gemeint hat, dass niemand davor Angst haben müsse, dass dies eintreten wird. Wer sich so lange wie ich in der politischen Auseinandersetzung befindet weiß, dass solche Sätze immer gesagt werden, wenn es eigentlich schon zu spät ist.

Lassen Sie mich auf zwei Probleme der aktuellen Lutherreflexion eingehen. Natürlich ist klar, dass historische Persönlichkeiten immer in ihrem historischen Kontext betrachtet werden müssen. Diese Erkenntnis schützt davor, sie aus unserer heutigen Zeit ungerecht zu beurteilen, sollte uns aber auch davor bewahren, sie unreflektiert zu verehren. Unser Problem scheint jedoch zu sein, dass die wilhelminische Heldenverehrung für Luther des 19. Jahrhunderts an vielen Stellen weitgehend unreflektiert übernommen wird. Diese Kritik übte vor einigen Jahren nicht nur Jochen Tschiche, sondern auch Friedrich Schorlemmer, der zu Recht beklagt, dass die Rekonstruktion der Wittenberger Schlosskirche genau diese Tradition ablichtet.

Und dann müssen wir uns auch nicht wundern, wenn uns von außen Ignoranz gegenüber dem Antisemitismus eines Martin Luthers vorgeworfen wird. Der Streit um die sogenannte „Wittenberger Judensau“ führt uns dies allen deutlich vor Augen. Ja, wir wissen, dass die Synode der EKD sich ausdrücklich vom Antisemitismus Martin Luthers distanziert hat. Allerdings fehlt diese Distanz weitgehend in der öffentlichen Reflektion. Bei der Wiedereinweihung der Schlosskirche hätte man sich zwingend mit diesem dunklen Kapitel der Reformation auseinandersetzen müssen. Keiner der Akteure hat dazu auch nur ein Wort verloren.

Während allerdings über diesen Konflikt in der letzten Zeit häufiger geredet wird, spielt eine andere Kritik an Luther heutzutage überhaupt keine Rolle. So entschieden er sich für die Befreiung der Menschen aus der geistigen Umklammerung der Papstkirche einsetzte, so distanziert stand er den sozialen Befreiungsbewegungen seiner Zeit gegenüber. Es gab hier in Sachsen-Anhalt eben nicht nur Martin Luther und Melanchthon. Es gab hier auch einen Thomas Müntzer, mit dem sich die Bewegung der Bauern gegen die Unterdrückung der Fürsten, egal ob katholisch oder protestantisch, verband. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, auch Müntzer eignet sich nicht zur Heldenverehrung, wie sie in der DDR zelebriert worden ist. Aber ihn in eine kleine Nische abzustellen, wird weder der historischen Situation vor 500 Jahren noch der heutigen Bedeutung sozialer Auseinandersetzungen gerecht. Das macht unser südliches Nachbarland Thüringen wirklich besser. Und wenn manche Thomas Müntzer auch lieber vergessen machen möchten, die unbarmherzige Position gegenüber den Bauern und ihrer sozialen Bewegung von Martin Luther, seine regelrechten Aufrufe zur Gewalt und Mord, dürfen nicht unreflektiert bleiben. Sie verdienen eine historische Einordnung. Sie sollen nicht zur Verurteilung der Person Martin Luthers führen, aber der Konflikt darf nicht verschwiegen werden.

Wir werden in einem Jahr Bilanz ziehen und müssen dann einschätzen, welchen gesellschaftlichen Mehrwert das öffentliche Engagement der Reformationsdekade den Menschen hier in Sachsen-Anhalt brachte. Ich hoffe nicht, dass sich dieser dann auf die Freude über gestiegene Übernachtungszahlen und die freundliche Erinnerung an nette Empfänge beschränkt. Dieses letzte Jahr der Reformationsdekade muss ein Jahr der intensiven Debatte über die Grundwerte unserer Gesellschaft sein. Ansonsten haben wir die Hoffnung, die sich mit diesem Jubiläum verbindet, enttäuscht.