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Eva von Angern zu TOP 18: Wirksame Präventionsangebote vermeiden Jugenddeliquenz

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

der vorliegende Antrag meiner Fraktion stellt in seinen Mittelpunkt ausdrücklich die Frage nach einer wirksamen Prävention zur Vorbeugung von Jugendgewalt.

Es geht uns um notwendige Präventionsangebote für Kinder und Jugendliche, um von vornherein Jugenddelinquenz möglichst auszuschließen und verhindern zu können.

Denn wenn „ein Fall“ bei der Polizei oder Justiz landet, ist es meist schon zu spät.

Das bedeutet, nur eine frühe und vor allem erfolgreiche Prävention kann Fehlverhalten, Straftaten und damit Jugendkriminalität verhindern beziehungsweise eindämmen.

Präventive Maßnahmen und ein System der frühen Hilfe eröffnen die Chance, Gefährdungspotenziale gar nicht erst aufkommen zu lassen beziehungsweise so rechtzeitig zu erkennen und anzugehen, dass etwaige Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen vermieden oder abgeschwächt werden können.

Das alles kann jedoch nur gelingen, wenn alle beteiligten Kräfte (wie beispielsweise Eltern, Familie, Kinder- und Jugendhilfe, Jugendämter, Schulen, Polizei, Justiz) miteinander kooperieren und versuchen, diesen Prozess gemeinsam zu tragen.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

die Ursachen für eine zunehmende Jugenddelinquenz sind vielfältig. Niemand kommt kriminell auf die Welt. Mit Blick auf etliche Studien lässt sich sagen: Jugendgewalt und -kriminalität haben vor allem soziale Ursachen.

Unsere Gesellschaft selbst schafft den Boden und die Rahmenbedingungen für ein derartiges Verhalten. Verschiedene Faktoren wie

 

  • Perspektivlosigkeit,
  • Vernachlässigung durch das Elternhaus,
  • Schwierigkeiten im sozialen Umfeld,
  • Leistungsdruck,
  • fehlende Frustrationstoleranz,
  • schlechte Zukunftsperspektiven oder
  • eine unzureichende Prävention

können zu einem kriminellen Verhalten von Kindern und Jugendlichen führen.

Aufgrund dieser diversen Ursachen müssen Präventionsmaßnahmen vielfältig ausgestaltet sein und frühzeitig ansetzen. Neben Elternhaus und Schule ist insbesondere die Kinder- und Jugendhilfe in der Pflicht, einem auffälligen oder auch gewalttätigen Verhalten von Kindern und Jugendlichen präventiv und regulierend gegenüberzutreten. Die Bereitstellung von (Jugend-)Freizeitangeboten, eines verlässlichen Bildungsangebotes sowie von attraktiven Ausbildungs- und Arbeitsplätzen sind daher die beste Prävention zur Verhinderung von Jugendkriminalität.

Ebenso gehören hierzu die Stärkung und Nachhaltigkeit der Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe. Nicht nur in den urbanen, sondern auch im ländlichen Raum, die eben nicht überall Bullerbü gleichen.

Wir alle wissen, dass die Anzahl von Inobhutnahmen gerade nach der Pandemie in ganz Sachsen-Anhalt steigen, dass die Ausgaben im Bereich HzE explodieren und immer weniger Geld für präventive, niedrigschwellige Angebote, wie bspw. Jugendclubs, übrig ist. Die Jugendhilfe steht in einigen Kommunen finanziell und personell mit dem Rücken an der Wand.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

seit Monaten wird in Sachsen-Anhalt, vor allem in Halle über steigende Jugendkriminalität diskutiert. Allerdings: Die Jugendkriminalität in Gänze betrachtet ist in den letzten 20 Jahren in Sachsen-Anhalt auf einem konstanten, eher rückläufigen Niveau geblieben, die Fallzahlen der Jugendkriminalität unterlagen seit dem Jahr 2013 insgesamt nur leichten Schwankungen.

Es ist jedoch festzustellen, dass gerade die Zahl der Gewalt-Straftaten (insbesondere hier Raubstraftaten und Körperverletzungsdelikte) von Jugendlichen seit Beginn der Corona-Pandemie deutlich zugenommen hat; insbesondere in den Städten Halle, aber auch Magdeburg.

So wurden im Jahr 2022 insgesamt in Sachsen-Anhalt 1.295 Fälle von Jugendgewalt registriert. Das entspricht einem Anstieg von gut 23 Prozent im Vergleich zum Jahr 2021.

Natürlich müssen wir da handeln! Die Frage ist nur, wie? Was ist wirksam?

Eine schnelle Lösung gibt es nicht. Wir brauchen Geduld.

Hier den Fokus auf Strafverfolgung und schärfere Strafen oder gar eine Herabsenkung der Strafmündigkeit zu setzen, ist aus unserer ein fataler Fehler!

Freiheitsentziehende Strafen sind in einem Rechtsstaat nicht ohne Grund die ultima ration – gerade bei jugendlichen Täter:innen.

Denn zu guter letzt führen freiheitsentziehende Maßnahmen in der Regel dazu, dass Betroffene - im konkreten Fall Kinder und Jugendliche - sozial ausgegrenzt werden und das auch nach dem Freiheitsentzug.

Das hat nicht nur gravierende Auswirkungen auf das künftige Leben und die Biographien der betroffenen Kinder und Jugendlichen, sondern kann auch dazu führen, dass diese wiederholt straffällig werden. Jungen Menschen brauchen Rahmenbedingungen, damit Straftaten gar nicht erst zur Handlungsoption für das künftige Tun oder Verhalten und sie damit gar nicht erst straffällig werden.

Dies kann jedoch nur dann gelingen, wenn die Strukturen, in denen sie sich bewegen, wie die Schule, das Wohnquartier oder der Jugendclub bestmöglich ausgestattet sind:

sprich Kinder und Jugendliche benötigen Räume, Freiräume, die aber gleichzeitig mit ausreichend pädagogischen Fachkräften ausgestattet sind.

Junge Menschen brauchen unser aller Unterstützung und nicht härtere Strafen.

Jugenddelinquenz braucht Jugendhilfe - im wahrsten Sinne des Wortes -, für Täter*innen genauso wie für die Opfer.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

im Fokus müssen pädagogische, erzieherische Antworten stehen.

Denn Kinder wie Jugendliche befinden sich in der Entwicklung, d. h. sie
sind noch auf dem Weg, ihren Platz in der Gemeinschaft zu finden und - im Prozess des Aufwachsens - auch ihre Grenzen auszutesten.

 

Auf der Suche nach der eigenen Identität setzen sich Jugendliche oft auch sehr provozierend mit ihren Eltern, mit Lehrkräften, mit ihrer Umwelt, der Gesellschaft beziehungsweise der staatlichen Autorität auseinander.

Dabei brauchen sie unterschiedliche Formen der Begleitung, aber auch konkrete Hilfe und Unterstützung - durch Familie, Freundeskreis, ihrem informellen Umfeld, Schule, Kinder- und Jugendhilfe etc., um nur einige zu nennen.

 

Wir erinnern uns: all das ist zum größten Teil wegen der Pandemie von einem Tag auf den anderen weggebrochen.

Insofern ist die derzeitige Situation nicht überraschend. Kinder und Jugendliche brauchen Vertrauen und Anerkennung und Erziehung braucht Zeit und Geduld.

Wer Sorgen junger Menschen ernst nimmt und sie dabei unterstützt und Voraussetzungen schafft, eigene Perspektiven und Pläne zu entwickeln, leistet Präventionsarbeit. Es kann nicht sein, dass wir einerseits über Jugendgewalt und Perspektivlosigkeit von Kindern und Jugendlichen reden und andererseits jedes Jahr feststellen müssen, dass nicht ausreichend und bedarfsgerecht Schulsozialarbeit an allen Schulformen angeboten wird, Bildungsangebote sich verschlechtern und die Belastung für Lehrer:innen sich erhöht.

Sachsen-Anhalt hat deutschlandweit die höchste Schulabbrecherquote (9,4 %) und fördert damit diese Perspektivlosigkeit.

Umso nachdenklicher macht mich dann eine solche Nachricht (u. a. mdr Sachsen-Anhalt vom 26.05.2023), die Pläne der Landesregierung offenbart, nach der lt. einer neuen Förderrichtlinie zur Anpassung der Projektauswahlkriterien ab dem Jahr 2024 grundsätzlich nur noch Schulsozialarbeiterstellen an den Schulen gefördert werden sollen, die eine hohe Schulabbrecherquote haben oder an den besonders viele Schüler:innen ihren Abschluss nicht schaffen – das heißt an sogenannten Brennpunktschulen.

 

Nein, wir brauchen Schulsozialarbeit an allen Schulformen.

Bsp GS Hettstedt: „Auch kleine Menschen können große Probleme haben.“

Wir müssen nicht nur um den Erhalt, sondern dringend auch um die Erweiterung der Schulsozialarbeit in LSA ringen.

Denn durch die Reduzierung notwendiger Unterstützungs- und Bildungsangebote bleiben wieder Kinder und Jugendliche auf der Strecke, infolge aber auch Eltern und Lehrkräfte.

…und nein, nicht alle Elternhäuser können die Defizite an den Schulen – damit meine ich auch infolge des Lehrermangels – kompensieren.

Wir haben hier eine gesellschaftliche Verantwortung und können es nicht auf die Familien allein abschieben.

 

Tatsache ist, dass es trotz aller Bemühungen dennoch zu Straffälligkeiten - wie auch in allen anderen Altersgruppen im Übrigen auch - kommen kann.

 

Mehrere Studienergebnisse haben in der Vergangenheit gezeigt: Je schneller die Strafe auf die Tat folgt, desto stärker ist der Erziehungseffekt, speziell bei jungen Täter:innen.

Die Wahrscheinlichkeit von Wiederholungstaten, gerade von sogenannten einfachen Delikten, sinkt immer dann, wenn man eine zeitnahe Konsequenz auf die Tat folgen lässt. Eine schnelle Reaktion auf die Tat ist deshalb erzieherisch besonders wirksam und erfolgreich, um künftigen Straftaten vorzubeugen.

Denn es ist für den Lebensweg eines jungen Menschen durchaus schädlich, wenn eine Straftat erst deutlich später sanktioniert wird und der junge Mensch
sich mittlerweile in einem anderen, möglicherweise stabileren Lebensumfeld befindet und aus diesem wieder herausgerissen wird.

Um also nach begangener Tätlichkeit einem Folgedelikt vorbeugen zu können, bedarf es neuer Konzepte unseres Justizapparates.

Wichtig ist, dass dabei der individuelle junge Mensch im Mittelpunkt der Betrachtungen steht.

Im Gegensatz zum Erwachsenenstrafrecht steht beim Jugendstrafrecht der Erziehungsgedanke im Vordergrund.

Der oder die Jugendliche soll aus seinen oder ihren Taten lernen, um möglichst nicht erneut straffällig zu werden.

Wichtig dabei ist aber, dass kein System neben dem anderen arbeitet, sondern dass an dieser Stelle Justiz und Jugendhilfe kooperativ im Sinne der jungen Menschen zusammenwirken, interventiv, aber vor allen Dingen schon präventiv.

Wir müssen dahin kommen, dass Prävention vor Intervention gedacht wird.

Hier könnte das sogenannte „Neukölner Modell“ einen wichtigen Beitrag leisten.

Es sieht die direkte Zusammenarbeit zwischen Polizei, Jugendamt, Staatsanwaltschaft und Jugendgerichten vor, um jugendliche Straftäter:innen möglichst rasch nach einer Tat mit deren rechtlichen Folgen zu konfrontieren.

Es ist damit ein Verfahren, das darauf abzielt, die Verfahrensdauer von Jugendstrafverfahren (kleinere und mittlere Delikte) in solchen Fällen zu verkürzen, bei denen eine schnelle Reaktion geboten erscheint.

Erreicht kann das Ziel werden zum einen durch die Ausschöpfung des Beschleunigungspotenzials des vereinfachten Jugendverfahrens sowie durch frühzeitige Absprachen zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

wir werben darüber hinaus als LINKE seit vielen Jahren für einen Jugendstrafvollzug in freien Formen. Hier soll der Vollzug außerhalb einer Anstalt in einer stationären Einrichtung der Jugendhilfe oder in einer Wohngemeinschaft durchgeführt werden.

Straffällige Jugendliche sollen damit die Möglichkeit erhalten, in Wohngruppen oder in einem Heim der Jugendhilfe außerhalb einer Anstalt an alltäglichen Problemlösungen beteiligt zu werden, um ihre soziale Verantwortung zu stärken und um einer erneuten Straffälligkeit vorzubeugen.

Aktuell werden in vier Bundesländern Einrichtungen für eine derartige alternative Vollzugsform betrieben.

 

  • 2003 initiierte Baden-Württemberg mit dem Projekt „Chance“ den Jugendstrafvollzug in freien Formen.
  • Inspiriert von der Umsetzung und der Entwicklung der Projekte in Baden-Württemberg folgte im Jahr 2006 das Land Brandenburg mit der Einrichtung der Wohngruppe „Leben lernen“.
  • 2012 baute der Verein Seehaus e. V. in Sachsen das „Seehaus Störmthal“ als zweiten Jugendstrafvollzug in freien Formen auf.
  • Im selben Jahr nutzte ebenfalls das Land Nordrhein-Westfalen die Möglichkeit, den Jugendstrafvollzug bestmöglich auszugestalten und beauftragte das „Raphaelshaus“ in Dormagen mit der Ausgestaltung eines Projektes für den Jugendstrafvollzug in freien Formen.

 

In dem mit unserem Antrag geforderten Prüfauftrag hinsichtlich der Etablierung von „Häusern des Jugendrechts“ auch in Sachsen-Anhalt kann die Möglichkeit geschaffen werden, dass mehrere staatliche und städtische Stellen koordiniert zusammenarbeiten, um Jugendkriminalität schnell zu bearbeiten bzw. zu verhindern.

Dabei besteht die Möglichkeit, dass die zuständigen Mitarbeitenden von Polizei, Staatsanwaltschaft und Jugendgerichtshilfe unter einem Dach untergebracht werden, um kurze Ansprechwege zu garantieren. Gerichte und freie Träger sind entsprechend einzubinden.

Diese Häuser garantieren damit kurze Informationswege und befördern eine zielführende Zusammenarbeit zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft, Jugendgerichtshilfe, Gerichten sowie freien Trägern unter einem Dach.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

die vertrauensvolle und kontinuierliche Zusammenarbeit der mit Kindern und Jugendlichen befassten Institutionen und Einrichtungen ist letztendlich wesentliche Voraussetzung für wirksame Präventions- und Interventionsmaßnahmen und für angemessene Maßnahmen im Rahmen von Strafverfahren.

Neben der Vermeidung von Straftaten durch frühzeitige Vermittlung in geeignete Hilfen kommen einer schnellen Aufklärung von Straftaten, der zeitnahen Reaktion auf Straftaten und der Berücksichtigung der berechtigten Ansprüche potentieller und konkreter Opfer eine besondere Bedeutung zu.

Prävention - gerade im Kinder- und Jugendbereich - hat viele Facetten und Formen, die einer Ausgestaltung und Umsetzung bedürfen.

Und auch in Sachsen-Anhalt gibt es diesbezüglich noch viele Baustellen und Fehlstellen, die es zu beseitigen gilt.

Genau aus diesem Grund muss unverzüglich und wirksam bei all den im vorliegenden Antrag meiner Fraktion genannten Themen und aufgezeigten Forderungen angesetzt werden.

Lassen sie es uns gemeinsam (ausschließlich alle demokratischen Fraktionen im hohen Haus!) als gesamtgesellschaftliche Aufgabe angehen – im Interesse der Kinder und Jugendlichen unseres Landes.

Stimmen Sie dem vorliegenden Antrag meiner Fraktion zu, lassen Sie uns gemeinsam ergebnisorientiert in den Fachausschüssen über wirksame Präventionsangebote zur Vermeidung von Jugenddelinquenz diskutieren.