Diese Website verwendet Cookies. Warum wir Cookies einsetzen und wie Sie diese deaktivieren können, erfahren Sie unter Datenschutz.
Zum Hauptinhalt springen

Wulf Gallert zu TOP 28

Werte Kolleginnen und Kollegen!

Nachdem ich zum ersten Tagesordnungspunkt des heutigen Tages bereits mehr auf die Bedingungen für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum des Landes Sachsen-Anhalt, insbesondere der notwendigen Attraktivität für Arbeitnehmer, eingegangen bin, will ich jetzt stärker auf die gesellschaftspolitische Bedeutung des 1. Mai eingehen.

Lassen Sie mich dazu kurz einige geschichtliche Aspekte nennen. Eine der wichtigen historischen Quellen des Feiertages, der bei uns nur Tag der Arbeit heißt, ist die nordamerikanische Arbeiterbewegung, die 1886 einen Generalstreik am 1. Mai nicht etwa zur Durchsetzung höherer Löhne, sondern zur Verkürzung der Arbeitszeit von 12 auf 8 Stunden aufgerufen hat. Insbesondere in Chicago kam es darauf in den nächsten Tagen zu einer Reihe von Versammlungen, die von der Polizei niedergeknüppelt wurden mit mehreren toten Arbeitern. Während der Erstürmung einer friedlichen Versammlung durch die Polizei am 3. Mai wurde eine Bombe geworfen. Durch diese und die darauf folgenden Auseinandersetzungen wurden 200 Arbeiter verletzt, 7 Polizisten und mehr als 20 Arbeiter getötet. Daraufhin wurden die Organisatoren, der wohlgemerkt ursprünglich friedlichen Versammlung, angeklagt, 4 von ihnen wurden hingerichtet, einer nahm sich das Leben. In Erinnerung an diese sogenannte „Haymarket-Affaire“ hat der Gründungskongress der 2. Internationalen 3 Jahre später den 1. Mai als Kampftag der Arbeiterbewegung ausgerufen. Ich habe deswegen hier auf diese geschichtliche Quelle hingewiesen, weil möglicherweise bei manchen Unkundigen der Eindruck entstehen könnte, dass die Bezeichnung des 1. Mais als Kampftag vielleicht eine DDR-Erfindung gewesen ist. Das war sie auch nicht. Der Begriff „Kampftag“ ist international seit mehr als über 130 Jahren mit dem Blut von Arbeiterinnen und Arbeitern geschrieben worden, die sich für faire Löhne, eine Beschränkung der Arbeitszeit und für Arbeiternehmer*innenrechte insgesamt eingesetzt haben, damals in den USA, später weltweit und natürlich auch in Deutschland, insbesondere in der Weimarer-Republik. Erinnert sei hier nur an den Blut-Mai von 1929 in Berlin, bei dem 33 Demonstranten getötet wurden, übrigens auf Befehl eines sozialdemokratischen Polizeipräsidenten von Berlin. Allerdings hat der 1. Mai in Deutschland auch eine besondere Geschichte. Der 1. Mai 1933 wurde durch die Nationalsozialisten zum „Tag der nationalen Arbeit“ umbenannt. Mit der Umbenennung des Tages erfolgte eine vollständige Umdefinition des Inhalts. Die Nationalsozialisten versuchten, den 1. Mai zum „Tag der selbstlosen Aufopferung der Arbeiter und Arbeiterinnen“ für die deutsche Volksgemeinschaft umzudefinieren, was letztlich nichts anderes als die Aufopferung für ein Terrorregime und den Zweiten Weltkrieg vorbereitenden Staat bedeute. Die logische Konsequenz war, dass am 2. Mai 1933 faschistische Schlägertrupps die Gewerkschaftshäuser stürmten, das Eigentum der Gewerkschaften beschlagnahmten und aktive Gewerkschafter folterten, gefangenennahmen und später zum Teil umbrachten. In diesem Jahr jährt sich dieses Verbrechen zum 90. Mal und ich bin froh darauf verweisen zu können, dass Gewerkschaften auch in Sachsen-Anhalt sowohl in Magdeburg als auch in Halle dazu Gedenkveranstaltungen organisieren.    

Zur kritischen Geschichtsreflektion gehört allerdings auch, dass der 1. Mai in der DDR zwar „Kampf- und Feiertag der Arbeiter“ genannt wurde, aber mit diesem Inhalt sehr wenig zu tun hatte. Im Vordergrund stand die im wahrsten Sinne des Wortes Demonstration der Verbundenheit mit Partei und Staatsführung, die in ihrer eigenen Wahrnehmung ja die Vertreter der Arbeiterklasse waren. Heute wissen wir, dass diese Selbstwahrnehmung mit der Realität genauso wenig zu tun hatte, wie der 1. Mai mit dem Begriff „Kampftag“.

Auch in diesem Jahr wird es wieder eine Reihe von Veranstaltungen von Gewerkschaften am 1. Mai geben. In diesem Jahr unter dem Motto „ungebrochen solidarisch“. Damit verweist der DGB auf das zentrale Element der Arbeiterbewegung auch in diesem Jahr. Die Solidarität der Beschäftigten untereinander, ihre Fähigkeit sich gemeinsam zu organisieren und durch gemeinsames Handeln ihre Interessen durchzusetzen. Immer dann, wenn diese Solidarität und diese Gemeinsamkeit nicht hergestellt worden, gab es Reallohnverluste, sind Arbeiternehmer*innenrechte abgebaut worden, ist die Spaltung der Gesellschaft vorangeschritten. Genau deshalb sind starke Gewerkschaften, die die gesellschaftlichen Interessen der Mehrheit der Bevölkerung, nämlich der abhängig Beschäftigten, organisieren, für uns alle wichtig. Sie bilden den Kitt dieser Gesellschaft, und ein Angriff auf gewerkschaftliche Rechte ist auch immer ein Angriff auf gesellschaftlichen Zusammenhalt und den Sozialstaat. Natürlich haben wir es hier gerade in Ostdeutschland nach wie vor mit besonders schwierigen Bedingungen für gewerkschaftliche Tätigkeit zu tun. Die Massenarbeitslosigkeit der 90er und nuller Jahre führe bei vielen Beschäftigten zu Angst davor, sich zu organisieren, wenn man einen der viel zu wenigen Arbeitsplätze bekommen hat. Ich kann mich noch selbst erinnern, wie in den nuller Jahren ein hochgeehrter Familienunternehmer, der aus dem Westen zurückkommend, seinen ehemaligen Betrieb übernommen und aufgebaut hat, zu mir sagte, dass er bei den Neueinstellungen genausten darauf achtet, dass ja kein Gewerkschaftsmitglied in seinem Betrieb eingestellt wird, die würden ihm sein gesamtes Geschäftsmodell kaputt machen.  Dazu kam die Kleinteiligkeit hiesiger Unternehmen, die es Gewerkschaften schwergemacht haben, Organisationen aufzubauen sowie die schon in den 90er Jahren einsetzende Privatisierungswelle im Bereich öffentlicher Dienstleistungen, die mit der Agenda 2010 noch einmal massiv forciert worden ist. Gerade im Gesundheitsbereich, der vorher durch einen hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad ausgezeichnet war, sprossen nun private Kleinunternehmen, insbesondere im Bereich der Pflege, aus dem Boden, in denen es fast überhaupt keine gewerkschaftliche Vertretung mehr gegeben hat. Infolgedessen gab es gerade in diesem Bereich einen so massiven Reallohnverlust, der mit sinkender Qualität und dem heute bekannten Pflegenotstand einhergeht. Flankiert wurde diese Entwicklung noch bei der Agenda 2010 durch die Deregulierung des Arbeitsmarktes. Die Forcierung von Midi- und Minijobs führten zu einer weiteren Aufspaltung der Belegschaften und der Reduzierung tarifgebundener Arbeitsplätze. Bis zur Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes gab es über eine 10 Jahre andauernde Phase des permanenten Reallohnverlustes mit all seinen sozialen, aber auch politischen Folgen. Das Wort Reform verbanden viele nicht mehr mit Zukunftssicherung, sondern mit dem Angriff auf soziale Garantien und den eigenen Lebensstandard. Damit verbunden erodierte das Vertrauen in staatliche Institutionen und demokratische Willensbildungsprozesse. Aus der sozialen Verunsicherung wurde eine gesamtgesellschaftliche Verunsicherung, deren Profiteure auch hier im Landtag am rechten Rand sitzen. Und genau um diesen Prozess wieder zurückzudrehen, um soziale Sicherheit wiederherzustellen und im gesellschaftlichen Bewusstsein zu verankern und damit auch ein Klima zu schaffen, in dem solche gesellschaftlichen Herausforderungen, wie die Bekämpfung des Klimawandels zu meistern, sind die Gewerkschaften als Arbeitnehmer*innenvertretung, die die Solidarität unter den Beschäftigten organisieren, so extrem wichtig. Ohne starke Gewerkschaften funktioniert ein demokratisches Gesellschaftssystem nicht. Deswegen ist es auch kein Wunder, wenn diejenigen, die am meisten vom Verfall der Gesellschaft profitieren, nämlich die AfD, auch die schärfsten Gegner der Gewerkschaften in diesem Haus sind. Andererseits gibt es, vor allem in diesem Jahr, wieder stärkere Hoffnungszeichen. Nach den letzten Zahlen steigt die tarifliche Bindung der abhängig Beschäftigten in Sachsen-Anhalt wieder leicht an und ist mit knappem Vorsprung mit 48 % sogar die höchste in Ostdeutschland. Bundesweit, aber eben auch in Sachsen-Anhalt, hat gerade die letzte Tarifrunde eine höhere Kampfbereitschaft der Beschäftigten gezeigt. Ziel ist es im Wesentlichen, einen Inflationsausgleich bei Löhnen und Gehältern zu erreichen, zum Teil auch die Arbeitszeit zu reduzieren, zumindest aber hier keinen Rollback zuzulassen, der die Arbeitszeit wieder verlängert, wie es die Landesregierung bei den Lehrern gerade mit einer Verordnung durchgesetzt hat. Dabei ist das Streikgeschehen in Deutschland nach wie vor noch im Bereich der homöopathischen Dosis verglichen beispielsweise im Verhältnis zu Frankreich, Spanien oder Dänemark. Durchschnittlich kamen im letzten Jahrzehnt pro 1000 Beschäftigten in Deutschland pro Jahr 18 Streiktage zusammen. Rechnet man also mit 180 Arbeitstagen pro Beschäftigten, kommt auf 10.000 Arbeitstage in Deutschland 1 Streiktag. Das macht vielleicht die Dimension deutlich, über die wir hier reden. In Belgien, Frankreich oder Kanada sind es übrigens 4- bis 5-mal so viele. Und trotzdem gibt es schon wieder Stimmen, die versuchen, dass ohnehin schon stark reglementierte Streikrecht noch weiter einzuschränken. So fordert die Präsidentin der Mittelstandsunion von CDU und CDU eine Pflicht zur Ankündigung von Warnstreiks von mindesten 4 Tagen und im Bereich von öffentlichen Dienstleistungen, dass es Streiks überhaupt nur noch nach einer Zwangsschlichtung geben dürfte. Natürlich ist das eine weitere Einschränkung des Streikrechts, das tendenziell immer zu einer Schwächung der Gewerkschaften führt. Und der Bundesgeschäftsführer der Deutschen Arbeitgeberverbände fordert eine gesetzliche Einschränkung der Möglichkeiten von Streiks, die sollen nur die Ausnahme sein. Was bitte, Kolleginnen und Kollegen, ist aber 1 Streiktag pro 10.000 Arbeitstagen? Und ja, wir wissen alle, Streiks führen zu einer Belastung und sie tun weh auch Unbeteiligten, aber langfristig garantieren sie eine faire Verteilung des Reichtums dieser Gesellschaft, soziale Sicherheit und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Deshalb sind letztlich starke Gewerkschaften, ein starkes Streikrecht, eine hohe Tarifbindung und gute Tarifabschlüsse im Interesse von uns allen. So und nur so kann Sachsen-Anhalt attraktiv für Fachkräfte werden und Menschen eine Perspektive bieten, die Herausforderungen, die vor uns stehen, gemeinsam zu meistern.