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Wulf Gallert zu TOP 05: Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Herrn Dr. Reiner Haseloff zum Thema: „25 Jahre Sachsen-Anhalt: Unser Land auf gutem Weg“

25 Jahre Sachsen-Anhalt sind ein viertel Jahrhundert, in dem wir die gesellschaftliche Entwicklung unseres Landes demokratisch gestalten konnten. Diesen Unterschied zum vorhergehenden politischen System gilt es festzuhalten, und er dürfte in diesem Parlament auch Konsens sein, selbst dann, wenn wir in diesen Wochen und Monaten in Internet-Foren und bei AfD- und Pegida-Veranstaltungen das Gegenteil behauptet bekommen. Und es ist natürlich ein Gewinn und keine Selbstverständlichkeit, dass wir an einem solchen Tag Gemeinsames betonen können, genauso aber auch Kontroversen offen führen müssen.

Dieses Land Sachsen-Anhalt hat in seiner 25jährigen Geschichte viele Höhen und Tiefen erlebt, aber das bleibt auch für uns unterm Strich stehen: Es hat sich in diesen 25 Jahren sehr viel getan. Es gab große Fortschritte im Bereich der wirtschaftlichen Entwicklung, der Infrastruktur und sehr wohl auch in der realen Lebenssituation der Menschen, die hier leben. Alles andere zu behaupten, würde bedeuten, die Leistung der Menschen in diesem Land zu schmälern und Pessimismus zu verbreiten, wo er nicht angebracht ist.

Allerdings - und auch das gehört zur Wahrheit - ist die Geschichte Sachsen-Anhalts wohl die Schwierigste aller fünf neuen Bundesländer. Dazu will ich nur zwei Faktoren herausgreifen. Einerseits tun wir uns bis heute noch mit einer Landesidentität außerordentlich schwer. Alle vergleichenden Analysen besagen, dass für die Menschen hier das Land Sachsen-Anhalt hinter der Gemeinde, in der sie leben, der Region oder dem Osten Deutschlands als Bezugsebene zurückfällt.

Schon der historische Vorläufer hatte als  preußische Provinz Sachsen einen alles andere als schmeichelhaften Namen, und die Unterschiede zwischen dem Norden, dem Süden und dem Osten unseres Landes sind uns allen bekannt. Aber auch das möchte ich sagen: Inzwischen ist eine ganze Generation in Sachsen-Anhalt groß geworden, und auch bei der Landesidentität gibt es so etwas wie die Macht des Faktischen. Und vielleicht trägt zur eigenen Landesidentität auch bei, dass wir gerade jetzt sehen, dass in anderen ostdeutschen Bundesländern wie Sachsen, die uns immer als Vorbild gezeigt werden, bei weitem nicht alles erstrebenswert ist. Und ich weiß, hier wage ich eine mutige These, aber wenn ich mir die letzten Umfragen zum Abwehrverhalten gegenüber Flüchtlingen in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt anschaue, kann eine zu starke landsmannschaftliche Identität vielleicht sogar eine Aufgeschlossenheit gegenüber den Fremden entgegenstehen. Unterm Strich meine ich, dass mit der Sachsen-Anhalt-Identität „das wird schon“ vielleicht noch nicht in Form von überschwänglicher Begeisterung, die wahrscheinlich ohnehin nicht unserer Mentalität entspricht, aber zumindest schon einmal eine trotzige Haltung nach dem Motto „woanders ist es auch nicht besser“ erwächst.

Mindestens ebenso schwierig wie die Landesidentität war die ökonomische Entwicklung unseres Landes. Kein anderes ostdeutsches Land war so stark wie Sachsen-Anhalt von großen Industriekombinaten geprägt, die mit dem Wirtschaftsraum des RGW so existenziell verbunden waren. Sowohl die Metallindustrie im ehemaligen Bezirk Magdeburg als auch die Chemieindustrie im Bezirk Halle hatten nicht nur das übliche Problem zu geringer Produktivität, sie hatten ganz massiv auch den Zusammenbruch der östlichen Absatzmärkte Anfang der 90er Jahre zu verkraften.

Dazu kamen natürlich alle Probleme, die die anderen ostdeutschen Bundesländer auch hatten. Der faktisch vollständige Zusammenbruch dieser Strukturen bewirkte eine im Vergleich sehr hohe Arbeitslosigkeit mit allen sozialen Folgen, die wir inzwischen kennen. Dies war die zweite große Hypothek bei der Entwicklung unseres Landes, die faktisch die gesamten 90er Jahre bestimmte. An der Stelle sei auch noch einmal betont, dass sich die sozialen Folgen der daraus resultierenden wirtschaftlichen Stagnation und der hohen Zahl von Arbeitslosen auch auf die Verschuldung des Landes Sachsen-Anhalt auswirkten. Zum einen war es unmittelbar nötig, die Folgen von Massenarbeitslosigkeit mittels sozialpolitischer Maßnahmen zumindest abzumildern, zum anderen war die öffentliche Hand immer wieder als Auftraggeberin gefragt, um bspw. Arbeitsplätze im Bausektor zu erhalten. In diesem Zusammenhang möchte ich an die während der Tolerierung aufgelegte und in dieser Größenordnung einzigartige kommunale Investitionspauschale erinnern. Und, um auch das noch einmal zu betonen, natürlich war in diesem Zeitraum auch das Land als Arbeitgeber gefragt.

Schauen wir uns heute die Rahmendaten zur wirtschaftlichen Entwicklung an, sehen wir, dass auch auf Grund der großen Investitionen im Chemiedreieck Anfang der Jahre 2000 in Sachsen-Anhalt eine wirtschaftliche Dynamik einsetzte, die zumindest den Anschluss an die Wirtschaftskraft der anderen ostdeutschen Bundesländer herstellen konnte. Ab dem Jahr 2001 war Sachsen-Anhalt das Land mit der höchsten Arbeitsproduktivität der ostdeutschen Bundesländer, wurde dann allerdings relativ schnell von Brandenburg überholt. Allerdings resultierte diese hohe Arbeitsproduktivität aus wenigen tausend Arbeitsverhältnissen. Die Arbeitslosigkeit blieb trotzdem hoch, was die CDU im Wahlkampf 2002 zu ihrer legendären „Rote Laterne-Kampagne“ nutzte. In den darauffolgenden Jahren bis 2005 hielt Sachsen-Anhalt zumindest bei der Entwicklung der ostdeutschen Bundesländer mit. Seit dieser Zeit stellen wir jedoch fest, dass sich die wirtschaftliche Entwicklung unseres Bundeslandes wieder in negativer Art und Weise nicht nur von der Gesamtentwicklung in der Bundesrepublik, sondern auch von der der anderen ostdeutschen Länder abkoppelt. Die Zahlen dazu liegen auf dem Tisch. Während alle anderen ostdeutschen Flächenländer in den letzten zehn Jahren ein reales Wirtschaftswachstum von über 10 % erreichten, kamen wir in Sachsen-Anhalt nicht mehr über eine Stagnation hinaus. Ganze 2,5 % stehen hier zu Buche. Sachsen-Anhalt ist das einzige Bundesland, das zum heutigen Zeitpunkt noch immer nicht wieder die Wirtschaftskraft des Jahres 2008 erreichen konnte. Erfreulich war aber, dass die Arbeitslosigkeit trotzdem sank, zum einen auf Grund der demografischen Situation des Landes, zum anderen aber, weil Sachsen-Anhalt bis zum letzten Jahr immer noch das negativste Wanderungssaldo aller Bundesländer besaß. Erst seit 2014 kippt das Saldo ins Positive, weil die Zahl der zu uns kommenden Flüchtlinge größer ist als das Defizit zwischen Zu- und Abwanderung.

Über die Ursachen der Entwicklungsschwäche unseres Landes in den letzten zehn Jahren ist hier und in der Öffentlichkeit leider erst in diesem Jahr ernsthaft geredet worden, und ich will klar sagen, dies werden wir auch in den nächsten Monaten tun, und diesbezüglich wird es hier im Haus keinen Konsens geben. Was allerdings Politik leisten muss und kann, ist, wenigstens die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen. Und unser größter Vorwurf besteht darin, dass diese Landesregierung nicht in der Lage ist, diese Realitäten anzuerkennen. Die Analyse der Ursachen für diese Entwicklungsschwäche ist aber vielschichtiger, als manch einer bereit ist anzuerkennen.

Um das ganz klar zu sagen: Ein unambitioniert wirkender Wirtschaftsminister, der hier seit knapp zwei Jahren im Amt ist, mag das Problem symbolisieren, verursacht hat er es nicht.
Ich will mich an dieser Stelle auch gar nicht weiter an Zahlen aufhalten, sondern mich diesem Problem unter der Überschrift „mindestens die Hälfte von Wirtschaft ist Psychologie“ nähern. Aus unserer Sicht ist eine der wesentlichen Ursachen für die Entwicklungsschwäche die Erfahrung gerade junger Menschen, die gut ausgebildet sind, dass es hier für sie keine gute Perspektive gibt. Und wir werfen dieser Landesregierung vor, dass die Signale des permanenten Reduzierens, Kürzens und Streichens vor allem des öffentlichen Bereiches, der ja unbedingt noch schneller schrumpfen sollte als die Bevölkerung, von vielen hier im Land als das verstanden wurde, was es im Kern auch war, nämlich als Aufgabe einer positiven Vision für das Land Sachsen-Anhalt durch die Landesregierung.

Und die Argumentationsschiene, man müsse jetzt noch ein bisschen abbauen, um später irgendwann eine leuchtende Perspektive zu haben, hat sich in den letzten Jahren verschlissen. Lassen Sie mich dafür nur ein Beispiel nennen: Bei der langfristigen Entwicklung des Lehrerbedarfs ging diese Landesregierung sehr wohl davon aus, dass sich nach jeder Generation die Schülerzahlen mehr oder weniger halbieren würden. Noch vor anderthalb Jahren verkündete die Landesregierung, dass man zwar wisse, dass bis 2021 die Schülerzahlen sogar leicht steigen würden, aber danach gäbe es ja wieder einen radikalen Rückgang, und deshalb dürfe man jetzt auf keinen Fall zu viele Lehrer einstellen. Wir erleben gerade, wieviel solche Prognosen wirklich wert sind. Wir erleben gerade, wie uns die Schrumpfung des öffentlichen Sektors der letzten Jahre die Bewältigung der neuen Herausforderung des Zuzugs von Flüchtlingen außerordentlich erschwert. Es betrifft Schule, öffentliche Sicherheit, teilweise die Infrastruktur, aber auch öffentlichen Wohnraum.

Und wie wir gestern beim Nachtragshaushalt gehört haben, setzt die Landesregierung noch immer auf den Abbau von Lehrkräften und Polizisten, verschärft dadurch die Situation und sendet die falschen Signale ins Land.

Ein weiteres Problem in diesem Land, das in den letzten Jahren deutlich geworden ist, ist das autoritäre Selbstverständnis von Landespolitik. Das betrifft das Verhältnis zwischen Land und Kommunen in der Form der Reduzierung der allgemeinen Finanzzuweisungen zu Gunsten von Sonderprogrammen, die nicht mehr in der kommunalen Vertretung, sondern in der Landesverwaltung entschieden werden. Das betrifft aber auch den Umgang mit Protest, z.B. in der Hochschulpolitik oder mit kreativen Köpfen im Bereich von Kunst und Kultur, die sich dem Prinzip des Durchregierens und des Durchstellens widersetzt haben.

Und das betraf eben auch eine hoch angesehene CDU-Wissenschafts- und Wirtschaftsministerin, die die Illusion hatte, sie könne zu Problemen argumentieren statt Meinungen anderer zu exekutieren. Dies betraf übrigens auch eine Ministerin, deren zentrale Position in der Wirtschaftsförderung die Unterstützung von Innovationsmöglichkeiten unserer hiesigen kleinteiligen Unternehmen war - ein Ansatz, der weder von ihrem Nachfolger fortgeführt wurde noch sonderlich viel Freunde im Bereich der hiesigen Wirtschaftsvertreter fand. Und trotzdem umso nötiger war und umso nötiger ist.  

All diese Signale führen dazu, dass gute Entwicklungen in unserem Land eher behindert als gefördert werden. Aber es gibt sie, diese guten Entwicklungen. Die IT-Branche hat sich hier wohl eher trotz statt wegen der Wirtschaftspolitik des Landes außerordentlich gut entwickelt. Aber wie wir erst in dieser Woche lesen konnten, stößt ihre Entwicklung massiv an Grenzen.
Und diese Grenzen bestehen nicht in zu geringen Aufträgen oder mangelnden Gewerbeflächen, sie bestehen im Mangel an gut qualifizierten Fachkräften, die zum Teil noch in Sachsen-Anhalt ausgebildet werden, dann aber das Land verlassen, u.a. auch deshalb, weil nach der letzten Hochschulreform über die Schließung des entsprechenden Institutes an der Uni Halle diskutiert wurde. Und für die Entscheidung, hier zu bleiben oder nach Berlin gehen zu wollen, dem bundesweiten HotSpot junger Start-up-Unternehmen, reicht schon die Debatte um die Schließung aus.

Natürlich ist es auch die Höhe des Arbeitseinkommens, die solche Entscheidungen beeinflusst. Und natürlich ist das Image von Sachsen-Anhalt als Land der Niedriglöhne in diesem Zusammenhang noch immer außerordentlich schädlich. Da hilft es auch nichts, wenn man sich aus den Statistiken die Rosinen der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigen heraussucht, um in der Statistik besser da zu stehen und dabei die vor allem von Frauen ausgeübten und schlecht bezahlten Teilzeitjobs einfach unter den Tisch fallen lässt. Und auch bei dieser Frage der Qualität von Beschäftigungsverhältnissen spielt die Wirtschaftspolitik des Landes keine sonderlich gute Rolle.

Schauen wir uns nur einmal zwei 10-Millionen-Schecks aus dem Wirtschaftsministerium der letzten Monate an: Zum einen Enercon, bekannt für seinen rüden Umgang mit Betriebsräten, der hohen Zahl von Leiharbeitern in der Vergangenheit und der Weigerung, den IG Metall-Tarif anzuerkennen, zum anderen Hermes in Haldensleben, einem Unternehmen, das Beschäftigungsverhältnisse so gestaltet, dass die Zahl der so genannten Aufstocker in Haldensleben in den letzten Jahren besonders hoch war und bei dem man auch darüber nachdenken muss, ob die öffentliche Förderung solcher Unternehmen, die in direkter Konkurrenz zum regionalen Einzelhandel praktiziert wird, nicht zu einer Wettbewerbsverzerrung führt, die letztlich mehr Arbeitsplätze kostet als sie erbringt.

Dass Sachsen-Anhalt, anders als es die Landesregierung darstellt, immer noch bei Arbeitseinkommen und verfügbarem Familieneinkommen sehr weit hinten steht, ist eben auch Ausdruck einer falschen Politik und kein unabänderliches Schicksal dieses Landes.

Wenn wir junge Menschen, wenn wir Frauen, wenn wir gut ausgebildete Menschen in diesem Land halten wollen, wenn wir kreative Köpfe und Widerspruchsgeister hier willkommen heißen wollen, brauchen wir endlich Aufbruchs- und keine Abwicklungssignale in diesem Land, brauchen wir gute Einkommens- und Lebensbedingungen statt Stilllegungs- und Schließungsdebatten, die wir jahrelang geführt haben und die viel zu oft den Menschen den Optimismus geraubt haben.

Aber all diese Fehler der Vergangenheit können behoben werden. Sachsen-Anhalt kann tatsächlich einen besseren Weg einschlagen, und die Menschen in diesem Land haben es auch verdient.    

Natürlich kann man in diesen Wochen nicht über die Entwicklung unseres Landes reden und die aktuelle Herausforderung, die Integration einer größeren Zahl von Flüchtlingen, unerwähnt lassen.

Um billigen Klischees zu widersprechen und ihnen nicht noch Vorschub zu leisten, ist es zunächst wichtig, die wirkliche Dimension der jetzigen Aufgabe darzustellen. Wenn in diesem Jahr ca. 30.000 Menschen als Flüchtlinge in unser Land kommen, ist das in etwa die Zahl, die wir in den letzten 25 Jahren im Schnitt in Sachsen-Anhalt jährlich an Bevölkerung verloren haben.
Insofern gibt es überhaupt keinen Grund, hier von einer elementaren strukturellen Überforderung des Landes zu sprechen. Dass es aktuell an vielen Stellen aber eine Überforderung gibt, liegt vor allem daran, dass niemand von uns diese Entwicklung voraus gesehen hat und unsere Ressourcen in den letzten Jahren soweit reduziert wurden, dass wir jetzt sehr schnell an unsere Belastungsgrenze kommen. Allerdings, und das möchte ich noch einmal betonen, war diese Belastungsgrenze bei Lehrern und Polizisten auch ohne einen einzigen Flüchtling bereits überschritten. Und ich warne uns alle davor, Engpässe bei Polizei und in Schulen, die jetzt deutlich werden, auf dem Rücken von Flüchtlingen, die in unser Land kommen, zu diskutieren. Dieses Problem ist und bleibt hausgemacht, und ich erwarte von jedem, dass er hier nicht mit falschen Schuldzuweisungen Ressentiments und Hass schürt.

Bevor ich aber etwas zu den wirklichen Herausforderungen sage, noch etwas zur Debatte um die zu erwartenden Flüchtlinge in diesem und den nächsten Jahren. Niemand von uns kann heute einigermaßen plausibel erklären, ob wir im nächsten Jahr vielleicht 15.000 oder 50.000 Flüchtlinge nach Sachsen-Anhalt bekommen werden. Und natürlich ist es vernünftig, jetzt Vorbereitungen dafür zu treffen, eine größere Aufnahmekapazität zu schaffen. Diese wiederum ist die allererste Voraussetzung  für eine gelingende Integration. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade in dieser Frage ist eine Menge Populismus unterwegs. Jeder, der sich ein bisschen mit den Realitäten an den Außengrenzen der EU auseinandergesetzt hat, weiß, dass die Masse derjenigen, die jetzt zu uns kommen, eben nicht Arbeitsmigranten sind, die man mit den üblichen bürokratischen Hindernissen aufhalten könnte. Es sind vor allen Dingen Kriegsflüchtlinge, es sind auch Menschen, die vor den Klimafolgen und tödlichem Elend fliehen. Meine Kollegin Henriette Quade und ich haben uns vor 14 Tagen ein Bild über die immer noch tödlichste Flucht-Route nach Europa gemacht, die von Nordafrika nach Italien führt. Anlässlich des zweiten Jahrestages der Lampedusa-Katastrophe, bei der fast 400 Menschen starben, sprachen wir in Tunesien und Italien mit Menschen, die sich mit diesem Thema wirklich auskennen.

Deren Darstellung war ebenso plausibel wie eindeutig. Diese Menschen, die versuchen, nach Europa zu kommen, tun das im Wissen darum, dass sie im Mittelmeer ertrinken können, dass sie von kriminellen Banden ausgeraubt werden, möglicherweise auch umgebracht, dass Schlepper ihnen ihr letztes Hab und Gut abnehmen und sie dann trotzdem in höchste Lebensgefahr bringen. Sie wandern zu Fuß durch Europa im Wissen um Stacheldraht und Polizei und Militär, die sie zusammenschlagen oder einsperren. All das wissen sie, und sie wissen übrigens auch in der übergroßen Zahl, dass es viele Menschen gibt, die sie hier nicht willkommen heißen. Aber sie kommen trotzdem, weil dieser Weg für sie, im wahrsten Sinne des Wortes, alternativlos ist. Weil die Alternative häufig nichts anderes ist als warten auf den Tod durch Hunger, Krankheiten oder Krieg. Und wer wie Sie, Herr Ministerpräsident, davon spricht, dass die Aufnahmekapazität Sachsen-Anhalt auf 8.000 bis 11.000 jährlich reduziert werden müsste, der muss glasklar sagen, wie er diese Flüchtlinge von Sachsen-Anhalt und der Bundesrepublik Deutschland fernhalten will. Sie wurden in diesem entsprechenden Interview intensiv dazu befragt. Ihre Antworten dazu waren sehr deutlich: Das sei nicht Ihre Sache, darum sollten sich gefälligst Bund und EU kümmern, damit Hätten Sie doch nichts zu tun. Und diesen Populismus mach ich Ihnen zum Vorwurf. Denn die Konsequenz unter den jetzigen Bedingungen ist doch ganz eindeutig, und die heißt zumindest Stacheldraht an den EU-Außengrenzen oder rings um Deutschland. Aber die Erfahrungen besagen, dass Stacheldraht allein nicht reichen wird. Die Bundeskanzlerin, die aus Ihrer Sicht dafür zuständig ist, benennt doch die Alternative ganz klar, die würde Elektrozaun heißen. Und wer hier heute eine Kappungsgrenze fordert und ein Aufnahmestopp bei etwa 10.000 Flüchtlingen im Jahr, der muss auch diese Konsequenz offen vertreten.
Wer davor aber aus guten Gründen zurückschreckt, von dem erwarte ich, dass er die Debatte um Obergrenzen augenblicklich einstellt, egal, ob er Oberbürgermeister in Magdeburg oder Ministerpräsident in diesem Land ist. Alles andere ist gefährlicher Populismus, der die Menschen, die diese Herausforderungen bewältigen wollen, zutiefst verunsichert und ihnen eine Alternative vorgaukelt, die es nicht gibt.

Zu dieser völlig falschen Polemik gehört übrigens auch, dass mit solchen Debatten der Eindruck erweckt wird, als würden Flüchtlinge ganz gezielt in die EU oder Deutschland geholt werden, und das könnte man abstellen, indem man den Neuankömmlingen das Taschengeld streicht. Nein, jede Flucht ist ein dramatisches und viel zu oft tragisches Schicksal, und natürlich müssen wir alles daran setzen, Fluchtursachen zu bekämpfen, statt sie durch eine falsche Handelspolitik, zu der übrigens auch ein permanent wachsender Exportüberschuss gehört, noch zu befördern. Aber zur Wahrheit gehört eben auch, dass Waffenexporte und militärische Interventionen - ob von Russland oder NATO-Staaten - Fluchtursachen massenhaft überhaupt erst geschaffen haben in der Absicht, sich vor Ort Einfluss zu sichern.

Heute erleben wir in Syrien faktisch bereits einen Stellvertreter-Krieg von Nato-Staaten wie der USA, der Türkei, Frankreich und in diesem Kontext auch Deutschland sowie Russland. Wer die Zahl menschlicher Schicksale begrenzen will, die zur Flucht keine Alternative mehr haben, muss sich für faire internationale Handelsbeziehungen und für eine Entmilitarisierung der Außenpolitik einsetzen. Es wäre wahrlich besser, Herr Haseloff, Sie hätten über diese zweifellos komplexeren Zusammenhänge zur Bekämpfung der Fluchtursachen gesprochen, statt über die Grenzsicherung gegen Kriegsflüchtlinge.

Möglicherweise entsteht hier und da jetzt die Frage, ob wir denn anlässlich des Themas 25 Jahre Sachsen-Anhalt so ausführlich über die Aufnahme von Flüchtlingen reden müssen. Ich bin ausdrücklich dieser Meinung, weil die Frage, wie wir mit diesem Thema umgehen, nicht nur für die zu uns kommenden Flüchtlinge entscheidend sein wird, sondern auch für die Grundwerte unseres Zusammenlebens hier in Sachsen-Anhalt, egal, ob man hier geboren oder aus welchem auch immer Grund gekommen ist. Es ist eine gefährliche Illusion zu meinen, dass der Umgang mit den menschlichen Schicksalen von Flüchtlingen sich nur auf diese begrenzen lässt. Ausgrenzungsmechanismen, Stigmatisierungen und Abwertungen lassen sich, wenn sie gegenüber einer Gruppe von Menschen akzeptiert werden, ganz schnell auf andere Gruppen übertragen. Und insofern ist es überhaupt nicht verwunderlich, wenn heute Klischees über Kriegsflüchtlinge und Asylbewerber ähnlich klingen wie die bspw. jene über Hartz IV-Empfänger.

Um aber die Möglichkeit zu haben, in unserer Gesellschaft eine Hegemonie für Humanismus und Weltoffenheit zu erreichen, müssen wir analysieren, woher die Motive für Abwertung und Abschottung kommen.

Und natürlich kennen wir auch aus der Geschichte einen Zusammenhang zwischen eigener sozialer und kultureller Unsicherheit und der Anfälligkeit, Sündenböcke zu suchen und die Falschen für das eigene Schicksal verantwortlich zu machen. Um das klar zu stellen, eigene soziale Unsicherheit rechtfertigt keine Fremdenfeindlichkeit und keinen Hass, aber sie macht dafür anfällig, und deswegen muss es auch um dieses Thema gehen. Deswegen Herr Ministerpräsident, bin ich so wütend über eine Debatte, die Sie aktiv betreiben, nämlich die Aussetzung des Mindestlohnes für Flüchtlinge. Mag ja sein, dass es Ihnen um die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt geht, aber die Wirkung dieses Vorschlags ist verheerend.
Zum einen dürfen wir Flüchtlinge nicht schon wieder in eine neu entstehende Billiglohnstrategie hineinpressen, zum anderen befördert ein solcher Vorschlag massiv Ängste bei denjenigen, die jetzt diesen Mindestlohn bekommen. Natürlich werden sie Angst haben, dass ihr oft nur befristeter Arbeitsvertrag demnächst vielleicht nicht verlängert wird, weil die Arbeit von einem deutlich schlechter bezahlten Flüchtling genauso gemacht werden könnte. Dann, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir uns nicht wundern, wenn Pegida und AfD einen immer größeren Zulauf bekommen. Wir müssen den Menschen die Ängste nehmen, ja, und ihnen auch die Vorteile nahe bringen, die die Zuwanderung für unsere sozialen Sicherungssysteme haben kann, um Aufgeschlossenheit zu erreichen. Das ist unsere Aufgabe, und nicht das Schüren neuer Ängste.

Ich hatte vorhin bereits gesagt, dass eigene soziale Unsicherheit auch Unerfahrenheit Ängste gegenüber Flüchtlingen auslösen kann. Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Allerdings dürfen diese Ängste weder Hass noch Arroganz legitimeren. Hass und Arroganz gegenüber Kriegsflüchtlingen sind Ausdruck eines schlechten Charakters, sind Ausdruck von Engstirnigkeit und keine zwingende Konsequenz aus eigenen Problemen.

Aber wir müssen uns in dieser Gesellschaft auch mit einer anderen Quelle von Fremdenfeindlichkeit auseinandersetzen, und die hat nichts mit sozialer Verunsicherung zu tun. Offensichtlich meinen viele, ihren eigenen Wohlstand durch die Abwertung von Menschen, die zu uns kommen, verteidigen zu müssen. Wer Flüchtlinge in der Nachbarschaft deshalb als Bedrohung empfindet, weil evtl. der Wert der eigenen Immobilie sinken würde, wer meint, dass Menschen aus anderen Ländern kommend, keine Grundrechte haben, weil sie keine Deutschen sind, wird entweder selbst Hass und Gewalt verkörpern oder zumindest gut heißen. Und ja, das hat nun sogar der Verfassungsschutz festgestellt, dies hat mit dem oft strapazierten Extremisten-Begriff nun überhaupt nichts zu tun, dies ist ein Phänomen in der Mitte der Gesellschaft. Es sind Teile des Bürgertums, die bei rassistischen Parolen und Gewaltaufrufen Beifall klatschen. Offensichtlich sieht man den eigenen Wohlstand durch Flüchtlinge bedroht. Und da zählen dann keine Menschenrechte mehr. Da zählen dann nur noch die eigene Arroganz und der eigene Egoismus. Und an der Stelle ist auch das Ende einer jeden Argumentation. Solche Haltungen müssen dann nur noch in ihrer Konsequenz entlarvt werden. Und dann muss unsere Gesellschaft entscheiden, welchen Grundwerten und Leitbildern sie folgen möchte. Der Ausgang dieser Auseinandersetzung ist auch in Sachsen-Anhalt offen. Wir haben die Chance, eine Perspektive von Humanismus, Weltoffenheit und Internationalität zu schaffen, oder dieses Land versinkt in Abschottung und Angst, in Hass und Arroganz. Jeder von uns muss sich entscheiden, wofür er eintreten will.

Eine Möglichkeit bleibt uns Politikern allerdings nicht – sich vor dieser Entscheidung zu drücken. Wir als LINKE wollen uns dieser Auseinandersetzung stellen, und wir sind überzeugt davon, dass wir sie gewinnen können, weil die Menschen in Sachsen-Anhalt in der Mehrheit erkennen werden, dass eine lebenswerte Perspektive nur auf der Basis humanistischer Grundwerte und Weltoffenheit zu erreichen ist.