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Wulf Gallert zu TOP 01: Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Herrn Dr. Reiner Haseloff zum Thema: „Zukunft gibt es nur gemeinsam - Hilfe geben, Verantwortung wahrnehmen, Menschlichkeit bewahren“

Ich begrüße ausdrücklich, dass wir heute eine Regierungserklärung diskutieren, in der es um die Grundlagen unserer gesellschaftlichen Verfasstheit, um die Grundlagen unseres Zusammenlebens geht. Diese Debatte ist hier und heute notwendig, allerdings kommt sie jetzt schon zu spät. Ich hatte bereits Anfang des Jahres angemahnt, dass ich eine solche Regierungserklärung vom Ministerpräsidenten erwarte, und meine feste Überzeugung ist es übrigens, dass wir die Schärfe der Auseinandersetzung, mit der wir es jetzt zu tun haben, dann hätten beeinflussen können, wenn wir auf der politischen Bühne offensiver für die Grundwerte von Menschlichkeit und Solidarität gestritten hätten, als wir es jetzt versuchen zu tun.

Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, worum es heute eigentlich geht, sind nicht nur die Fragen von Migration und das Bewältigen der Herausforderungen, die damit im Zusammenhang stehen - es geht um die Frage, wie wir uns den Charakter unserer Gesellschaft vorstellen. Und da ist vielleicht ein Blick in das Grundgesetz durchaus angebracht, das mit der Aussage beginnt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist.

Da steht nicht, „die Würde des deutschen Staatsbürgers“, da steht übrigens auch nicht „die Würde des Menschen in den Grenzen der Bundesrepublik“, sondern da steht dieser einfache Satz: Die Würde des Menschen, also jedes Menschen, ist unantastbar. Oder anders gesagt: Es ist unser gemeinsamer grundgesetzlicher Auftrag, die Würde eines jeden Menschen zu wahren und zu schützen.

Warum erinnere ich heute an diesen politischen Auftrag des Grundgesetzes, der ja nun wirklich keinen Neuigkeitswert hat? Ich erinnere genau deshalb daran, weil dieser vermeintlich politische Konsens für alle sichtbar kein Konsens mehr ist. Er wird in den Debatten mal offen, mal verklausuliert, angegriffen. Man erklärt sich  als Deutschland für nicht zuständig, obwohl man sehr wohl Fluchtursachen selbst gefördert hat, oder man stuft die Würde des Menschen danach ein, ob er sich für unseren Arbeitsmarkt eignet und wie stark er sich einer deutschen Leitkultur unterordnet.

Und an dieser Stelle geht es eigentlich tatsächlich nicht nur um die Fragen von Zuwanderung, es geht darum, ob man die Universalität von Menschenrechten, die sich mit dem grundgesetzlichen Auftrag verbindet, abstufen kann. Wenn man diese Frage erst einmal mit Ja beantwortet, können die Grenzen einer solchen Abstufung variabel verändert werden. Die Politikwissenschaft nennt das gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, und wer bei den Argumenten von Fremdenfeindlichkeit genau hingehört hat, hat vieles wiedererkannt, was bis vor kurzem noch an Vorwürfen z. B. gegen Hartz IV-Empfänger artikuliert worden ist. Und es ist auch kein Wunder, dass bei Rechtsextremisten und Rechtspopulisten wie der AfD Ausländerhass einhergeht mit der Abwertung von Arbeitslosen, von Frauen, von Homosexuellen, von all denjenigen, die nicht dem Idealbild einer konservativen deutschen Leitkultur entsprechen.

Auch deshalb ist es wichtig, in der Gesellschaft die Abwertung der Würde von Flüchtlingen zu bekämpfen, denn wenn wir dies einmal akzeptierten, würde das zu einer Abwertung beliebiger Menschengruppen führen, bei der letztlich jeder betroffen sein kann. Und wenn ich sage, jeder betroffen sein kann, dann hat in den letzten Wochen und Monaten insbesondere der eine oder andere, die eine oder andere erfahren, dass das auch die Gruppe der PolitikerInnen sein kann.

Aber nun zu dem Thema, das uns zurzeit alle umtreibt: Wie können wir Zuwanderung in unserem Land so gestalten, dass wir die Chance, die damit verbunden ist, ergreifen, statt das, was jetzt geschieht, zu einem Problem zu diskreditieren?  Und da will ich am Anfang doch noch einmal sagen, dass wir gerade aus der Perspektive unseres Landes die Absurdität der jetzigen Debatte offenkundig werden lassen. Da diskutieren wir seit langer Zeit den demografischen Wandel, den Verlust von jungen Menschen, die abwandern, jammern völlig zu Recht über die geringen Geburtenraten in unserem Land - und dann kommen vor allem junge Menschen und Familien hierher, und plötzlich wird es zu einem riesigen Problem stilisiert.

Deshalb ist es das Wichtigste, in dieser Diskussion darauf hinzuweisen, dass es zum einen ganz unterschiedliche Fluchtgründe geben kann, die die Menschen aus ihrer Heimat vertrieben haben, übrigens ein Schicksal, das gerade hier in Sachsen-Anhalt in den letzten 70 Jahren fast jede Familie irgendwie erlebt hat, dass zum anderen aber alle diese Menschen bei uns eine Entwicklungsmöglichkeit brauchen und diese auch nutzen können. Das kann ein Kind, das hier geboren ist, genauso sein wie das Kind aus einer rumänischen Roma-Familie, der Jugendliche aus Mali oder der Bürgerkriegsflüchtling aus Syrien. Letztlich entscheiden wir hier darüber, ob die Menschen die Chance zur Entwicklung bekommen und damit eine Bereicherung für uns alle sein können oder ob wir sie an den Rand der Gesellschaft drängen mit der klaren Ansage, sie möglichst schnell loswerden zu wollen, um uns dann darüber zu wundern, dass sie sich dann genauso uns gegenüber verhalten.

Welche Hürden allerdings müssen wir überwinden, um Zuwanderung wirklich als Chance für alle zu gestalten?

Wir brauchen einen neuen Ansatz in der Politik. Noch immer begreift die Politik in Deutschland Zuwanderung als zu verwaltendes und zu begrenzendes Problem, statt als Chance. Die Zuständigkeiten bündeln sich beim Innenminister. Nicht bei einem Integrationsminister, nicht beim Sozial- oder Kultusminister. Manchmal sagt schon das eine ganze Menge über unser Herangehen aus. Auch hier müssen wir in Sachsen-Anhalt umdenken.

Die Politik muss selbst aufhören, Ressentiments und Ängste zu bedienen. Damit meine ich diesmal nicht rechtsextreme Parteien oder die AfD, deren Kernidentität das Schüren von Angst und Hass ist, sondern damit meine ich auch uns alle. Es ist der Parteivorsitzende der CSU Herr Seehofer, Teil dieser Bundesregierung, der in der aufgeheizten Atmosphäre am Aschermittwoch genau wie AfD und NPD den Spruch in die Welt hinausbläst, dass Deutschland nicht das Sozialamt der Welt sein dürfe. Ein Spruch, der allein schon deshalb völlig absurd ist, weil es viele ärmere Länder gibt, die eine viel höhere Zahl von Flüchtlingen aufnehmen.

Zu den politischen Hürden, die wir überwinden müssen, gehört aber auch die administrierte Abstufung zwischen Flüchtlingen und Zuwanderung. Ob EU-Bürger oder Nicht-EU-Bürger, ob Roma oder Nicht-Roma, ob Flüchtling vor einem heißen oder kalten Krieg, Naturkatastrophe oder normalem Elend, religiöser, politischer  oder ethnischer  Diskriminierung, eingereist über einen sogenannten sicheren Drittstaat - all das führt hier zu völlig unterschiedlichen Behandlungen, die weder für die Betroffenen noch für uns irgendwie nachvollziehbar erscheinen. Wie sagte so kurz und bündig eine Mitarbeiterin in einer Flüchtlingsunterkunft, die ich in dieser Woche besucht habe, als ich sie nach der Dauer von Verfahren gefragt habe: „Syrien geht ganz schnell, Irak dauert ewig, obwohl die Schicksale sehr häufig faktisch identisch sind.“ Und dann wundern wir uns, dass jemand aus dem Irak dann angibt, dass er aus Syrien wäre. Und wir verurteilen diesen Menschen dafür, obwohl er das nur tut, weil eine Abschiebung mit der er immer rechnen muss, mit Todesgefahr verbunden ist.

Natürlich benötigen wir in der Politik auch eine Debatte über die Handhabung der EU-Außengrenzen. In dramatischer Art und Weise haben uns die letzten Tage vor Augen geführt, dass das Mittelmeer inzwischen die weltweit tödlichste Grenze ist, und zwar deshalb, weil wir sie dazu machen. Das Seenot-Rettungsprogramm wurde ausdrücklich mit Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland eingestellt, und selbst nach den über 1000 Toten der letzten Wochen ist der Bundesinnenminister immer noch der Meinung, man dürfe es auch nicht wieder auflegen, weil sonst die Abschreckungsgefahr zu klein wird, um Flüchtlinge abzuwehren - was für ein gnadenloser Zynismus dieses Vertreters der sächsischen CDU.

Vor kurzem gab es im Spiegel einen Kommentar unter der Überschrift „Die Heuchelei zu Tröglitz.“ Darin beschrieb der Autor seine Empfindungen über das bundesweite politische Echo von denjenigen, die den Brandanschlag auf das Flüchtlingsheim völlig zu Recht verurteilen, aber gleichzeitig schulterzuckend das Massensterben im Mittelmeer in Kauf nehmen. Wenn ich vorhin über Absurdität geredet habe, dann schlägt sie uns hier ein zweites Mal entgegen.  

Der Bundespräsident hat vor noch nicht allzu langer Zeit mehr deutsche Verantwortung in der Welt angemahnt, und viele verstanden das als Werbung für noch mehr militärische Auslandseinsätze. Er fühlte sich missverstanden. Nehmen wir einmal an, er wurde missverstanden, dann müsste doch sein Appell heute darauf hinauslaufen, erst einmal mehr deutsche Verantwortung an den deutschen EU-Außengrenzen wahrzunehmen. Verantwortung dafür, dass Flüchtlinge nach Europa kommen können und Verantwortung dafür, dass sie hier eine echte Chance bekommen. Wenn wir das unter gestiegener Verantwortung Deutschlands in der Welt verstehen könnten, würde ich dem Bundespräsidenten sogar Recht geben.

In der Verantwortung der Politik liegt es aber auch, Zuwanderung professionell zu gestalten und Integration umzusetzen. Dazu benötigen wir die Umsetzung von Erkenntnissen, die schon lange existieren, angefangen von der dezentralen Unterbringung von Flüchtlingen hin zur professionellen Betreuung, die auch dafür verantwortlich wäre, die vielen, vielen Ehrenamtler, die sich der Aufgabe stellen wollen, zu koordinieren und zu unterstützen. Wir benötigen die Entwicklung und Stärken von Angeboten der Erwachsenenbildung ebenso wie Kompetenzen bei der Beschulung, bei der Ausbildung von minderjährigen MigrantInnen oder Kindern aus Migrationsfamilien. Wir benötigen in den Verwaltungen mehr interkulturelle Kompetenz, auch über die Einstellung von Migranten.

Natürlich kostet all das Geld, aber es ist sehr gut angelegtes Geld. Es ist notwendig, um die Würde derjenigen zu schützen, die zu uns kommen. Es ist aber auch notwendig, um Zuwanderung zum Erfolg werden zu lassen. Deshalb haben wir für diese Landtagssitzung einen Antrag auf die Tagesordnung gebracht, der an ein Versprechen des Ministerpräsidenten und des Innenministers anknüpft, die Kosten der Migration durch das Land zu übernehmen. Dieses Versprechen verlangt nun auch Taten, konkret einen Gesetzentwurf. Denn nur der ist in der Lage, dieses Versprechen umzusetzen. Der muss schnell kommen, um den Kommunen Sicherheit zu geben, dass diese Kosten wirklich vom Land übernommen werden, und zwar vollständig.

Wir haben in den letzten beiden Landtagssitzungen bereits über diese Dinge gesprochen und Anträge gestellt. Deshalb will ich hier nicht weiter ausholen und komme abschließend zu der zweiten wichtigen Hürde, die es zu überwinden gilt, wenn wir den humanistischen Grundcharakter unserer Gesellschaft bewahren wollen, um Zuwanderung als Chance zu begreifen. Hier geht es um die Auseinandersetzung mit Angst, mit Vorurteilen, mit Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Herrenrassen-Ideologie.

Natürlich weiß ich, dass es zwischen Angst vor dem Fremden und Rassismus einen Unterschied gibt. Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass Angst nicht selten das Einfallstor für Rassismus ist, zumindest für dessen Akzeptanz.

Inwieweit Rassismus in unserer Gesellschaft präsent ist,  haben uns viele Studien der letzten Jahre immer wieder belegt. Manche davon wurden ungläubig beäugt, wie z. B. die der Friedrich Ebert-Stiftung, scheinen sich aber jetzt eindrucksvoll zu bewahrheiten. Neu ist aber auf jeden Fall, dass es in der Öffentlichkeit kein Tabu mehr bei Fremdenfeindlichkeit und Rassismus gibt. Deshalb ist es noch einmal wichtig zu schauen, woher dieses Tabu gekommen ist. Es war die Lehre aus der größten zivilisatorischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts, dem deutschen Nationalsozialismus. Eine rassistische Ideologie, die nicht nur den schlimmsten aller Kriege hervorgebracht hat, sondern auch den industriellen Massenmord an all diejenigen, die zum Feind der deutschen Herrenrasse erklärt wurden. Und es ist auch kein Zufall, dass diejenigen, die Rassismus predigen, dies entweder beschönigen oder vergessen lassen wollen.

Aber Geschichte wiederholt sich, wenn man sich ihrer nicht erinnert. Und das ist der Grund, warum wir mit der GRÜNEN-Fraktion morgen an den 8. Mai erinnern wollen. an den Tag der Befreiung, und warum wir als Fraktion dazu ein entsprechendes Feiertagsgesetz einbringen.

Welche katastrophalen Folgen dieses Gemisch aus Angst, Vorurteilen und Rassismus bis hin zur Nazi-Ideologie haben kann, haben wir in den letzten Monaten und Wochen, und viele Migranten schon seit Jahren hautnah erlebt.

Das Entscheidende für uns wird sein, dass wir dem entschlossen entgegentreten, uns mit Sorgen und Ängsten in der Bevölkerung auseinandersetzen, aber nicht durch Hinterherlaufen und Akzeptanz, sondern durch Aufklärung und eigene feste Positionenen für Humanismus, Weltoffenheit und Solidarität. Ja, dies ist unsere gemeinsame Aufgabe, und deshalb fand ich die Reaktion vom Ministerpräsidenten auf den Brandanschlag in Tröglitz auch richtig. Ich fordere aber insbesondere die CDU auf zu prüfen, ob es jetzt nicht höchste Zeit ist, ihr Grundsatzpapier zum Thema Zuwanderung substanziell zu überarbeiten, in dem die islamistische Gefahr mehr Platz einnimmt als die Willkommenskultur.

Wir haben als Fraktion im Februar den Antrag eingebracht „Zuwanderung fördern – Teilhabe möglich machen.“ Wir haben damals bereits auf die Notwendigkeit der grundsätzlichen gesellschaftlichen Auseinandersetzung hingewiesen. Diese Auseinandersetzung müssen wir im Sinne von Weltoffenheit, Humanismus und Solidarität gewinnen, und wir müssen uns als Zuständige der  Gestaltung der Zuwanderung als zu ergreifende Chance stellen. Gelingen wird es dann, wenn die richtige Haltung mit den richtigen politischen Umsetzungen zusammenkommt. Das ist unsere Aufgabe, die bisher unbefriedigend gelöst wurde.
Das ist aber eine Aufgabe, deren Lösung nicht mehr viel Zeit hat. Sie muss für uns gemeinsam eine Priorität in unserem politischen Handeln darstellen, denn wir sind hier zum Erfolg verpflichtet.