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Sabine Dirlich zu TOP 29: Sanktionen im SGB II und SGB XII abschaffen

Die Würde des Menschen  ist unantastbar – das ist die erste Aussage unseres Grundgesetzes. Die Würde des Menschen ist antastbar – so der Inhalt des SGB II in seinen Sanktionsparagrafen. Das Bundesverfassungsgericht hat im Februar 2010 bestätigt, dass das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum dem Grunde nach unverfügbar ist, also im Grunde nicht angetastet werden darf. Eine gesetzliche Regelung, die es möglich macht dieses Existenzminimum zu unterschreiten, ist mit dem Grundrecht auf ein existenzsicherndes Existenzminimum unvereinbar.

Auffassungen zur Höhe dieses menschenwürdigen Existenzminimums sind umstritten, von Existenzsicherung will ich hier noch gar nicht reden. Fakt ist: In Bundesrepublik ist das Existenzminimum festgelegt und zwar mit dem Regelsatz in der Grundsicherung für Arbeitssuchende zu dem die Kosten der Unterkunft und Heizung hinzukommen.

Das Bundesverfassungsgericht hat 2012 hier noch einmal nachgelegt und festgestellt, dass Leistungen, die erheblich unter dem Hartz IV-Niveau liegen, zur Deckung des lebensnotwendigen Bedarfs evident unzureichend und damit verfassungswidrig sind. Und genau dieses Existenzminimum wird dann unterschritten, wenn durch Sanktionen nach SGB II oder durch Leistungseinschränkungen im SGB XII Abstriche aus welchem Grund auch immer und in welcher Höhe auch immer gemacht werden. Begründet wird die Sanktionspraxis mit dem Grundsatz des Forderns und Förderns im Grundsicherungsgesetz. Sanktionen werden verhängt wegen sehr verschiedener Gründe. Darunter vor allem die Weigerung, die Pflichten aus den Eingliederungsvereinbarungen zu erfüllen, die Weigerung eine Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit oder eine Maßnahme aufzunehmen oder fortzuführen, eine Maßnahme abzubrechen oder Anlass dafür zu bieten und Meldeversäumnisse beim Träger oder beim ärztlichen oder psychologischen Dienst.

Der Eindruck, der mit dieser Praxis vermittelt wird ist, dass Arbeitslose nur unter Strafandrohung dazu zu bewegen sind, ihre Arbeitslosigkeit wieder zu überwinden. Schaut man sich die Statistik etwas genauer an, so stellt man allerdings fest, dass 70 % der Sanktionen allein auf Meldeversäumnisse zurückzuführen sind. Die Betroffenen haben einen Termin verpasst. Und wenn man dann mal genauer hinschaut wird man feststellen, dass solche Versäumnisse viele Ursachen haben können, von den Betroffenen aber eben eine ständige und sofortige Verfügbarkeit erwartet wird, die keinerlei Rücksicht nimmt auf familiäre Planungen oder individuelle Probleme.

Bundesweit waren es 2012 ganze 10,8 % der Sanktionen, die einer Weigerung zur Aufnahme einer Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit oder Maßnahme geschuldet waren. Fragen nach der der Qualität der Arbeitsangebote oder der Sinnhaftigkeit von Maßnahmen werden natürlich nicht gestellt. Übrigens sind die Sanktionen aus besagten Gründen zwischen 2007 und 2012 um rund 20 % zurückgegangen, während die Sanktionen wegen Meldeversäumnissen sich nahezu verdoppelt haben.

In Sachsen-Anhalt zeigt sich das gleiche Bild. 71,1 % aller Leistungsminderungen erfolgten auf Grund von Meldeversäumnissen. Übrigens zeichnen die Steigerungszahlen auch aus anderen Gründen ein ganz falsches Bild. Sanktionen treffen nur einen verschwindend kleinen Personenkreis. Es sind ganze drei Prozent der Leistungsberechtigten – vier Prozent der Männer und zwei Prozent der Frauen – die mit Sanktionen belegt werden. Bei Jugendlichen sind es fast sechs Prozent, was von den Expertinnen auf die Tatsache zurückgeführt wird, dass den Jugendlichen vergleichsweise zahlreiche Angebote unterbreitet werden, die zu Sanktionen führen können.

Dennoch wurde Ende 2012 der Anstieg der Sanktionen als Indiz dafür gewertet, dass es immer mehr und immer härterer Strafen bedarf, wenn die Arbeitslosigkeit erfolgreich bekämpft werden soll. Auf diese Weise wird versucht, die Arbeitslosigkeit als Ergebnis individuellen Fehlverhaltens und fehlender Motivation darzustellen. Die Gesellschaft versucht so, sich von der Verantwortung für die Arbeitslosigkeit aber vor allem für die Arbeitslosen freizusprechen.  Das Sanktionsrecht untergräbt die Würde der Menschen und verbreitet Existenzangst unter den Hartz IV-Betroffenen.
Und noch ein weiterer gesellschaftlicher Effekt wird erreicht, den wir immer wieder als beabsichtigt kritisieren und den die Erfinderinnen von Hartz IV als nicht voraussehbaren Nebeneffekt darstellen: die Leistungsberechtigten werden wehrlos gemacht gegenüber den Zumutungen prekärer Arbeitsverhältnisse. Die Politik hat mit Hartz IV solche Arbeitsverhältnisse gefördert und maßgeblich zur Etablierung des Niedriglohnsektors beigetragen.

Die Zahlen in der Antwort auf die Große Anfrage der SPD, die erst kürzlich auf der Tagesordnung stand, sprechen eine interessante Sprache. 137.000 Niedrig- oder Armutslöhne, 155.000 Leiharbeiterinnen bzw. Mini- und Midijoberinnen, 70.000 Aufstockerinnen. Es ist zwar richtig,  dass man diese Zahlen nicht addieren kann. Aber Fakt ist, dass von der etwa 1 Million Beschäftigungsverhältnissen in Sachsen-Anhalt nur ca. 760.000 sozialversicherungspflichtig sind. Rechnen Sie selbst!
Betroffenenverbände haben die Versuche, den Anstieg der Sanktionen zur Erzeugung von Ressentiments gegen die Betroffenen einzusetzen, erfolgreich abgewehrt und aktuell wird ein deutlicher Rückgang der Sanktionen vermeldet.  Auch die Zahlen erfolgreicher Widersprüche und Klagen gegen Sanktionsauflagen sprechen für sich.

Selbst Verbände, die anerkennen, dass es leistungsrechtliche Reaktionen der Jobcenter geben soll, wie der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge, beklagen, dass fördernde Pflichten der Leistungsträger in deutlich geringerem Maße im Grundsicherungsgesetz geregelt sind, als die fordernden Aspekte.  Er macht darauf aufmerksam, dass die Leistungskürzungen innerhalb eines existenzsichernden Leistungssystems stattfinden und entsprechend verantwortungsbewusst damit umgegangen werden muss.  Und er moniert, dass kompliziert aufgebaute Tatbestände und eine umfangreiche, von den Leistungserbringern zu beachtende Rechtsprechung einen hohen Verwaltungsaufwand verursachen, weil sie fehleranfällig sind und ein hohes Widerspruchs- und Prozessrisiko enthalten.

Die Forderungen des Deutschen Vereins sind hochinteressant und lassen spannende Schlussfolgerungen zu. Wenn zum Beispiel gefordert wird, nur Pflichten in die Eingliederungsvereinbarungen aufzunehmen, die individuell für den jeweiligen Betroffenen geeignet sind, oder wenn gefordert wird, dass Leistungen für Unterkunft und Heizung in keinem Fall zu verweigern sind.
Dazu passt, dass die Landesregierung nicht sagen kann, welche Auswirkungen solche Sanktionen für die Betroffenen haben. Wie aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen aus dem Mai des vergangenen Jahres hervorgeht, liegen der Landesregierung zu vielen Fragen keine belastbaren Erkenntnisse vor.  Nicht zu der Frage, ob Sanktionen zu Wohnungslosigkeit geführt haben. Nicht zu der Frage, wie sich die Lebenslage von Betroffenen gestaltet. Nicht zu der Frage, ob sich Betroffene ganz aus dem System zurückziehen und welche Folgen das hat.
Die Vorschläge, das Sanktionssystem zu reformieren lösen allerdings das Problem nicht. Nicht das verfassungsrechtliche Problem und nicht die gesellschaftlichen Probleme, die ich skizziert habe.

Deshalb haben wir die Landesregierung aufgefordert sich dafür einzusetzen, dass Sanktionen nicht mehr zur Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums führen dürfen, nicht mehr in prekäre Arbeitsverhältnisse zwingen dürfen, nicht mehr die berufliche Qualifikation ignorieren dürfen, nicht mehr in Niedriglöhne oder gar in Armutslöhne führen dürfen.