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Sabine Dirlich zu TOP 17: 10 Jahre Hartz IV – Arbeitsmarktpolitik und gesellschaftlicher Umbruch

Lassen Sie mich mit einem Zitat aus einem Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ beginnen: „Die spärlichen Wege in ihrem Leben sind durch den Hartz-IV-Satz von derzeit 391 Euro für Alleinstehende programmiert: der Gang zu den Behörden, zum Discounter um die Ecke, zum Second-Hand-Laden. Abweichungen davon sind meist unbezahlbar. Das Geld vom Staat reicht fürs bloße Überleben. Ein Mehr, eine Teilhabe am Leben, gibt es nicht mehr. Als ihr Freunde zu Weihnachten Geld aufs Konto überweisen, nimmt es der Staat ihr weg.“ Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Dass die Hartz-IV-Reformen die Republik drastisch verändert haben, darüber sind sich nahezu alle einig. Bei ihrer Bewertung gehen die Ansichten weit auseinander. Die CDU im Bundestag feiert sie als großen Erfolg für den Arbeitsmarkt, die SPD konstatiert, dass immerhin nicht alles schlecht gewesen sei. Ich möchte keinen platten Allgemeinvorwurf erheben, sondern die Hartz-IV-Reformen an ihrem eigenen Anspruch messen.

Die Reform stand unter der Überschrift der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. Dabei war es erklärter Anspruch und auch Versprechen, dass die Leistungen im neuen System deutlich über der Sozialhilfe liegen sollten, und das vor dem Hintergrund, dass das Arbeitslosengeld meist weit über der Sozialhilfe lag. Die Hartz-IV-Kommission hatte in ihrem Bericht im August 2002 einen Regelsatz von 511 Euro vorgeschlagen. Nach mehreren Anhebungen liegt er - ich habe es bereits gesagt - zurzeit bei 399 Euro. Armut per Gesetz, haben wir gesagt. Zu Unrecht?

Die Reform hatte den Anspruch, Menschen aus der Sozialhilfe herauszuholen. Tatsächlich gelten nahezu alle Grundsätze der Sozialhilfe weiter. Vor allem gilt das Prinzip der Nachrangigkeit weiter, was bei der Berechnung des Hartz-IV-Anspruchs für einzelne Betroffene ziemlich groteske Blüten treiben kann. Die Regeln für die Angemessenheit von Wohnraum gelten weiter, Quadratmeterpreise, für die Angemessenheit von Heizung und Warmwasser, besondere Hilfen, Erstausstattungen für Neugeborene usw. usf.

Die Reform hatte den Anspruch, allen Arbeitslosen die Instrumente des Arbeitsmarktes in gleichem Maße zugänglich zu machen. Tatsächlich waren den SGB-II-Empfängerinnen von Anfang an nicht alle Instrumente der Arbeitsförderung aus dem SGB III, dem Sozialgesetzbuch Arbeitsförderung, zugänglich. Von Anfang an gab es für Hartz-IV-Empfängerinnen Sonderinstrumente. Wir kennen sie alle, sie werden Ein-Euro-Jobs genannt. Hinzu kommt die Entwicklung, die zum Beispiel geprägt war von der Abschaffung von ABM oder von der Abschaffung der Arbeitsgelegenheit mit Entgeltvariante, also einem Ein-Euro-Job, der wenigstens noch so ausgesehen hat wie ein Arbeitsplatz. Gleichzeitig wurde auch der Zugang zu Maßnahmen erschwert. Innerhalb von fünf Jahren dürfen Betroffenen jetzt noch für zwei Jahre Maßnahmen zugewiesen werden.

Die Eingliederungsmittel wurden mit dem Hinweis auf den Rückgang der Arbeitslosenquote drastisch verringert. Zwischen 2012 und 2014 verringerte sich die Arbeitslosenquote in Sachsen-Anhalt von etwas über 10 % auf ein wenig unter 10 % - die Eingliederungsmittel gingen im gleichen Zeitraum um mehr als 50 % zurück.

Die Reform wollte Leistungen aus einer Hand anbieten. Mir bleibt hier wirklich nicht die Zeit, mich mit dem ganzen Hin und Her von getrennter und gemeinsamer Aufgabenwahrnehmung zu beschäftigen oder gar mit dem Gezerre um die Option. Leistungen aus einer Hand gibt es jedenfalls an keiner Stelle, übrigens auch deshalb nicht, weil die Nachrangigkeit der Hartz-IV-Leistungen viele Betroffene zur Antragstellung an allen möglichen Stellen zwingt. Von dem Bürokratiemonster Bildungs- und Teilhabepaket will ich erst gar nicht sprechen.

Muss ich oder sollte ich etwas zu dem hehren Anspruch von fördern und fordern sagen? Nichts Positives jedenfalls. Was bleibt nun von der ganzen großen, großartig angekündigten größten Arbeitsmarktreform aller Zeiten übrig, wohl gemerkt, vor dem Hintergrund ihres eigenen Anspruches? Übrig bleibt die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, in der Qualifikation und langjährige Tätigkeit immerhin noch eine Rolle gespielt haben. Übrig bleibt, dass die Armutsquote unter den Erwerbslosen massiv gestiegen ist. Sie betrug im Jahr 2008 schon drei Viertel, im Jahr 2003 lag sie noch bei etwa der Hälfte. Übrig bleibt, dass sich an der Kinderarmut nichts geändert hat. Die „MZ“ hat am Mittwoch noch getitelt - und sie hat sich geirrt - „Weniger arme Kinder“. Das trifft in Wirklichkeit nicht zu. Kurz nach dem Inkrafttreten von Hartz IV waren 26,7 % der Kinder betroffen. Zwei Jahre später - da war die Reform in Kraft, wenn ich mich nicht irre - waren es 31,5 % und heute sind wir wieder bei dem Niveau von 2005, nämlich bei etwa 26 %. Es hat sich nichts geändert. Das ist strukturell bedingt.

Übrig bleibt vor allem eine weitere Ausweitung des Niedriglohnsektors in Deutschland. Deutschland hat übrigens nach den USA den weltweit größten Niedriglohnsektor. Dieser wurde durch Hartz IV nicht geschaffen, aber doch gefördert. Für Sachsen-Anhalt heißt das laut DGB, dass 285.000 Beschäftigte vom Mindestlohn profitieren werden. Das sind 34 % aller Beschäftigten, vor allem auch aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Und das sind hier in Sachsen-Anhalt 15 % mehr als im Bundesdurchschnitt.

Eine Sonderauswertung von Statistikern hat laut „Welt“ - sie ist nicht verschrien, eine kommunistische Zeitung zu sein - ergeben, dass 380.000 armutsgefährdete Erwerbstätige - jetzt bin ich bei denen - im Jahr 2013 ihre Miete nicht bezahlen konnten. 417.000 Erwerbstätige haben auf angemessenes Heizen verzichtet. 538.000 Erwerbstätige haben am Essen gespart und 1,5 Millionen Erwerbstätige konnten sich nicht einmal einen einwöchigen Urlaub leisten.

Das hat damit zu tun, dass die Angst vor dem Fall in das Hartz-IV-System die Menschen dazu gebracht hat, jede Arbeit anzunehmen, und das zu nahezu jedem Preis. Zwar haben die Beschäftigungsverhältnisse zu- und die Arbeitslosigkeit abgenommen, aber das Gesamtvolumen der Arbeitsstunden ist seit dem Jahr 2000 nahezu konstant geblieben. Das ist nichts, was wir uns ausdenken. Das Arbeitsvolumen wurde lediglich auf mehr Erwerbstätige umverteilt.

In Sachsen-Anhalt gingen seit dem Jahr 2002 ca. 30.000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren, gleichzeitig gingen aber auch 300.000 Einwohnerinnen verloren. Ist das vielleicht das Geheimnis des Rückgangs der Arbeitslosigkeit, das Geheimnis der Arbeitsmarkterfolge Ihrer Landesregierung? Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn die alle hiergeblieben wären.

Übrig bleibt, dass heute Menschen Arbeitslosengeld II bekommen, die überhaupt nicht arbeitslos sind. Sie können den Bedarf ihrer Familie nicht aus eigener Kraft decken. Das Prinzip der Bedarfsgemeinschaft macht sie zu Hilfeempfängerinnen und damit zur Zielscheibe von Diskriminierung.

Übrig bleibt nämlich vor allem die Angst vor diesem System, die Angst davor, selbst abhängig zu werden, die Angst, arbeitslos zu werden und dann schnell als Hilfeempfängerin dazustehen. Die „Süddeutsche Zeitung“ kommentiert: Die Geschwindigkeit, mit der Menschen selbst aus gut situierten Verhältnissen aus der Gesellschaft geschleudert werden können, erklärt die große Verunsicherung.

Jede und jeder, die bzw. der das System am eigenen Leib erlebt hat weiß, wie schnell man stigmatisiert werden kann. Das weiß die Studentin, die nur deshalb in Hartz IV fällt, weil sie Mutter geworden ist, ebenso wie der junge Familienvater, der nicht arbeitslos ist und es auch nie war, dessen Familie aber durch zwei kleine Kinder und eine Frau komplettiert wird, die ihre Ausbildung noch nicht beendet hat. Das weiß auch die ehemalige Arbeitslose, die es als größten Gewinn ihres jetzt erhaltenen Arbeitsplatzes empfindet, dass sie vom Amt weg ist. - Sie alle berichten von Begegnungen im Jobcenter, die von Verachtung geprägt waren, von Druck oder bestenfalls von Gleichgültigkeit.

Übrig bleibt die Spaltung der Gesellschaft. Es entstehen Parallelgesellschaften, sagt Butterwegge, in der die einen auf Tafeln, auf Sozialkaufhäuser oder Kleider- und Möbelbörsen angewiesen sind und die anderen sich von privaten Sicherheitsfirmen ihren Wohlstand bewachen lassen. Das Vorhandensein von Parallelgesellschaften schlägt sich zum Beispiel in der Wahlbeteiligung in Halle nieder, diese unterscheidet sich signifikant zwischen dem Stadtteil Silberhöhe und dem Paulusviertel. Schauen Sie sich das an. Das ist keine gute Entwicklung für das Funktionieren der Demokratie.

DIE LINKE bekräftigt auch in diesem Hohen Haus noch einmal Ihre Forderung: Hartz IV muss weg! An seine Stelle muss eine bedarfsdeckende, sanktionsfreie Mindestsicherung treten.