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Sabine Dirlich zu TOP 15: Bedarfsorientierte sanktionsfreie Mindestsicherung statt Hartz IV

In der Januarsitzung diesen Jahres haben wir uns mit den Auswirkungen von Hartz IV zehn Jahre nach seiner Einführung kritisch auseinandergesetzt. In diesem Zusammenhang haben wir die Kritik einstecken müssen, dass wir rückwärtsgewandte Vergangenheitsbewältigung betreiben, anstatt uns mit der Zukunft zu beschäftigen. Der Vorwurf hieß: Sie machen keinen einzigen Vorschlag, wie es anders gehen soll.
Und der hat gestimmt! Und das aus zwei Gründen. Erstens reichen zehn Minuten – und mehr stehen in einer Aktuellen Debatte nun mal nicht zur Verfügung – bei weitem nicht aus, um alle Probleme, die Hartz IV verursacht haben auch nur aufzuzählen geschweige denn, sich damit im Einzelnen zu befassen. Und zweitens war das auch nicht Anliegen der Aktuellen Debatte.

Natürlich nehmen wir dennoch solche Kritik durchaus ernst und legen Ihnen deshalb heute unseren Antrag vor. Sollten Sie übrigens darin Ähnlichkeiten mit Anträgen entdecken, die wir auf Bundesebene stellen, so ist das kein Zufall. Selbstverständlich handelt es sich bei dem Hartz IV-System um ein sehr komplexes System, so dass es keine einfachen Antworten und auch keinen einfachen Lösungsvorschlag gibt.

Unser Antrag beschreibt deshalb auch nur erste Schritte in eine aus unserer Sicht richtige Richtung innerhalb des Systems Hartz IV. Ergebnis soll eine bedarfsorientierte sanktionsfreie Mindestsicherung sein. Und ich sage es an dieser Stelle ganz deutlich: wir reden hier und heute nicht von einem bedingungslosen Grundeinkommen und ich setze mich heute auch nicht damit auseinander.

Die Hartz IV-Logik geht offensichtlich davon aus, dass Menschen dazu gezwungen werden müssen, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Diese Unterstellung ist mehrfach ad absurdum geführt worden. Tatsächlich ging es darum, dass nicht ausreichend Arbeitsplätze zur Verfügung standen und stehen und vor allem, dass viele Menschen nicht bereit waren, jede Lohnhöhe und jede Arbeitsbedingung zu akzeptieren. Die Ausweitung des Niedriglohnsektors ist hier schon mehrfach thematisiert worden. Vom Prinzip „Fördern und Fordern“ bleibt für die meisten Betroffenen nur das Fordern übrig. Statt gemeinsam mit den Betroffenen individuelle Stärken, Fähigkeiten und Interessen aufzunehmen und bestehende Probleme diskriminierungsfrei anzugehen, setzt das Sanktionssystem auf Druck. Oft genug werden Betroffene in kurzfristige und für sie unsinnige Maßnahmen gedrängt oder ihnen prekäre Beschäftigung angeboten. Ein IAB-Forschungsbericht aus dem Jahr 2013 sagt dazu: Für „das Erreichen gemeinsamer Ziele“ sei eine „symmetrische, vertrauensvolle Kommunikation notwendig“. Einem solchen Anspruch stehe „jedoch das faktisch und institutionell gegebene, eher unsymmetrisch und von Abhängigkeit geprägte Verhältnis beider Akteure“ entgegen.

Beispielhaft dafür ist, dass die Betroffenen laut Gesetz zur Initiative verpflichtet sind, während die Leistungen zur Eingliederung in Arbeit Kann-Leistungen sind. An diesem Verhältnis ändert es auch nichts, wenn die Betroffenen inzwischen „Kunden“ heißen. Hier wird eine Marktbeziehung suggeriert, von der wir in diesem Bereich weit entfernt sind.
Wir sagen: Sanktionen untergraben das Recht auf ein soziokulturelles Existenzminimum. Und im Grundgesetz ist nicht nur die Würde des Menschen garantiert, sondern auch die freie Wahl eines Arbeitsplatzes. Dem steht die Praxis, Menschen schlecht bezahlte Jobs oder fragwürdige Maßnahmen wie den dritten Wie-bewerbe-ich-mich-richtig?-Lehrgang aufzuzwingen, aus unserer Sicht entgegen.

Das Arbeitslosengeld II d. h. der Hartz IV-Regelsatz muss angehoben werden. Wir schlagen eine Erhöhung auf 500 € vor. Wir lassen uns dabei von zwei Prämissen leiten. Die Höhe der Mindestsicherung muss sich zum einen an der jeweiligen Armutsrisikogrenze orientieren und muss durch Warenkorberhebungen regelmäßig überprüft werden. Zum anderen hat die Hartz IV- Kommission schon vor zwölf Jahren vorgeschlagen, den Regelsatz bei 511 € anzusetzen. Selbst wenn man den Inflationsausgleich mal beiseitelässt und nur die vorgenommenen Erhöhungen berücksichtigt, müsste der Regelsatz seit Januar 2015 bei 565 € liegen. Daran gemessen ist unsere Forderung bescheiden. Der Vorschlag der Hartz IV-Kommission hatte übrigens den Hintergrund, dass es ein Anspruch der Reform war, Leistungen oberhalb des Sozialhilfesatzes anzubieten und die ehemaligen Arbeitslosenhilfe-Empfängerinnen nicht zu sehr zu beuteln. Aber das hatten wir ja schon im Januar.

Wir wollen das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft auf den Prüfstand stellen. Dieses Konstrukt ist dafür verantwortlich, dass Menschen in das System Hartz IV rutschen, die selbst weder arbeitssuchend noch hilfebedürftig sind. Schlimmer ist, dass durch das Konstrukt Bedarfsgemeinschaft ökonomische Abhängigkeiten verstärkt werden. Das ist schwierig für den Zusammenhalt von Familien und ist auch vor dem Hintergrund moderner Formen des Zusammenlebens schädlich. Wir wollen, dass sich der Anspruch am Individualprinzip orientiert, so dass jeder Betroffene einen eigenen Anspruch hat. Natürlich sollen und müssen Unterhaltsverpflichtungen berücksichtigt werden.

Ein besonderes Anliegen ist es uns, die Rechtsposition der Leistungsberechtigten zu stärken. Von Beratungsstellen werden uns regelmäßig Probleme der Betroffenen bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche berichtet. Wir werden immer wieder darauf hingewiesen, dass ein Großteil der Bescheide richtig und fehlerfrei ist. Ja, 60 % halten einer Überprüfung durchschnittlich stand. Das heißt aber auch, dass 40 % fehlerhaft sind.
Die Arbeitsgruppe „Leistungsrecht“ der Landesarbeitsgemeinschaft Jobcenter von NRW sieht akuten Handlungsbedarf im Leistungsrecht. „Die zeitnah gewährte und für Kunden nachvollziehbare Leistungsgewährung ist ein Garant für den sozialen Frieden.“ „Die Menschen verstehen oft den Inhalt der Bescheide zum ALG II nicht und können Berechnungswege anhand des Bescheides kaum bis gar nicht nachvollziehen.“ „Durch das komplexe Recht wird der Teil der Bevölkerung, der auf staatliche Unterstützung angewiesen ist, verunsichert und verliert letztendlich auch das Vertrauen in sozialstaatliches Handeln.“ Drei Aussagen, die unsere Forderungen nach besserem Rechtsschutz für Betroffene und nach transparenten Verwaltungsverfahren untermauern.

Zu den Regelungen, die eine sichere Rechtsposition der Betroffenen infrage stellen gehören aber auch die Zumutbarkeitskriterien, die sie nicht vor niedrig entlohnter Arbeit schützt oder vor Arbeit, die ihre Qualifikation ignoriert. Und es geht um die Schnüffelpraxis zur Überprüfung möglicher Bedarfsgemeinschaften. Überhaupt ist aus unserer Sicht vor allem diskriminierend, Menschen allgemein und schon mal vorab Missbrauchsabsichten zu unterstellen.

Nicht alle Punkte unseres Antrages können ausführlich erläutert werden. Einige sprechen auch für sich. Auch deshalb ist eine Ausschussüberweisung angeraten, damit wir alle Facetten etwas genauer beleuchten können. Um nicht wieder Anlass für einen Vorwurf zu geben sei gesagt, dass die im Antrag skizzierten Schritte natürlich flankiert werden müssen durch Maßnahmen in anderen Bereichen. Die Höhe des Mindestlohns reicht aus unserer Sicht nicht aus, das Risiko von Armut namentlich von Altersarmut zu beseitigen. Gut bezahlte, sozial abgesicherte und unbefristete Vollzeitarbeit muss wieder Ziel und Richtschnur politischen Handelns werden. Der Schutz durch die Arbeitslosenversicherung muss nachhaltig verbessert werden. Dazu liegt dem Sozialausschuss noch ein Antrag zur Beratung vor. Die Arbeitsverwaltung soll nur in Arbeit vermitteln dürfen, die den Anforderungen an gute Arbeit entsprechen. Der Zugang zu arbeitsmarktpolitischen Instrumenten und Integrationsleistungen muss für alle Erwerbslosen und Arbeitsuchende gewährleitet sein.

Nicht zuletzt brauchen wir Arbeitsmöglichkeiten auch für Menschen, die auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt nicht Fuß fassen können. Wir fordern dazu einen Gemeinwohlsektor, der die guten Erfahrungen mit der Bürgerarbeit durchaus aufgreift, sie aber mit besserer Bezahlung und vollem Sozialversicherungsschutz verbindet. Hier kann gleichzeitig Menschen eine Chance gegeben werden und Arbeit geleistet werden, die Kommunen nicht finanzieren können und von der die Wirtschaft nicht profitiert.