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Sabine Dirlich zu TOP 10: Die berufliche Ausbildung von Menschen mit Behinderung für den ersten Arbeitsmarkt auf angemessenem Niveau sicherstellen

Die Berufsbildungswerke sind überregionale Einrichtungen der beruflichen Erstausbildung junger Menschen mit Behinderungen. Es werden psychisch und mehrfach behinderte, lernbehinderte, mittelschwer körperbehinderte Jugendliche und Erwachsene, die besondere Hilfen benötigen, für den ersten Arbeitsmarkt ausgebildet. Außerdem bieten die Berufsbildungswerke begleitende Dienste an, wie beispielsweise den Sozialen Dienst mit Rehabilitations- und Sozialberatung, gezielte Diagnostik sowie psychologische Beratung. Sie bieten ferner Stütz- und Förderunterricht sowie heilpädagogische und sozialpädagogische Hilfen, Beratung und Betreuung bei besonderen Wohnformen, gezielte Vermittlungshilfen für den ersten Arbeitsmarkt und einiges mehr, was ich nicht alles aufzählen will, an.

Dieses Angebot ist sehr umfangreich, und es ist nicht zum Nulltarif zu haben. Allein im Berufsbildungswerk in Stendal, das wir besucht haben, wurden in den Jahren zwischen 1991 und 2000 im Rahmen der institutionellen Förderung durch das Bundesministerium für Soziales und durch das Sozialministerium Sachsen-Anhalts Fördermittel in Höhe von fast 40 Millionen € investiert. Diese Investitionssumme von 40 Millionen € führt übrigens regelmäßig an anderen Stellen zu massiven Aktivitäten zum Erhalt von Einrichtungen. Ich möchte keine Beispiele nennen, da es ansonsten zu emotionsgeladen wird. Dies ist bei den Berufsbildungswerken jedoch nicht der Fall. Das möchte ich Ihnen am Beispiel des Berufsbildungswerks in Stendal deutlich machen. Das Berufsbildungswerk Stendal hat eine Ausbildungskapazität von 281 Plätzen, von denen im Jahr 2010 noch 287 Plätze, also mehr Plätze, besetzt waren. In diesem Jahr sind noch 197 Plätze besetzt. Voraussichtlich werden in der Zukunft nur noch 160 Plätze besetzt sein, also ein wenig mehr, als es der Hälfte der Kapazität entspricht.

Das Internat des Berufsbildungswerkes ist von einem Rückgang der besetzten Plätze noch stärker betroffen. Das Internat verfügt über eine Kapazität von 262 Plätzen. Von diesen waren im Jahr 2010 noch 205 Plätze besetzt. Derzeit sind 131 Plätze besetzt. In der Zukunft werden voraussichtlich nur noch 100 Internatsplätze besetzt sein, also weit weniger als die Hälfte der verfügbaren Plätze.

Für diese Entwicklung gibt es mindestens zwei Ursachen. Erstens werden vor dem Hintergrund der Diskussion um die Inklusion solche Einrichtungen, die besondere Angebote an Menschen mit Behinderungen machen, für überholt erklärt. Zweitens führt die Ausschreibungspraxis der Bundesagentur für Arbeit dazu, dass teurere Angebote nicht angenommen werden.

Dazu ist erstens festzustellen, dass das Ziel der Inklusion, das im Übrigen von uns nicht infrage gestellt wird, nicht dadurch schneller erreicht wird, dass man vorhandene und gut funktionierende Strukturen beseitigt, und das, bevor die strukturellen und personellen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Inklusion tatsächlich geschaffen worden sind.

Wir haben im Berufsbildungswerk Stendal eine junge Frau kennengelernt, die eine psychische Krankheit hat. Sie ist dort erfolgreich ausgebildet worden und stand kurz vor ihrer Prüfung, von der sie ganz sicher war, dass sie sie auf jeden Fall bestehen wird. Sie hat bereits einen Arbeitsplatz sicher und wohnt inzwischen in einer eigenen Wohnung. Diese Selbständigkeit hätte sie auch nach ihren eigenen Aussagen niemals erreicht, ohne zuvor diesen geschützten Bereich der Berufsbildungswerke sozusagen für den Einstieg in ihre Selbständigkeit zu haben. Wir waren von ihrer Geschichte sehr beeindruckt.

Zweitens ist festzustellen, dass die Ausschreibungspraxis der Bundesagentur für Arbeit sehr interessante Blüten treibt. Ich möchte Ihnen von einem Beispiel aus Schönebeck erzählen, das mich immer wieder auf die Palme bringt. Ich habe einen Brief im Oktober 2013 erhalten. Ich habe ihn noch immer nicht beantwortet, denn jedes Mal, wenn ich ihn lese, treibt es mir die Zornesfalten auf die Stirn und ich könnte richtig wütend werden. In dem Schreiben wird mir voller Stolz ein neues Projekt vorgestellt. Ich werde dazu aufgefordert, zum Gelingen dieses Projekts etwas beizutragen. Es heißt in dem Brief wie folgt: Folgende Gegenstände würden wir am dringendsten benötigen: eine Moderationstafel, einen Moderationskoffer, Geschirr, Töpfe, Besteck, Beamer, Fernseher, DVD-Player, Laptop, diverses Mobiliar usw.

Es ist ein Projekt, das junge Menschen mit unterschiedlichen Problemlagen bei ihren Berufs- und Lebenswegplanungen unterstützen will. Ich frage mich allen Ernstes, wie ein solches Projekt erfolgreich arbeiten will, ohne auch nur die geringste sächliche Ausstattung zu haben, und eine Ausschreibung gewinnt, weil es offenbar die Kosten, die dadurch entstehen, nicht in die Projektkosten einberechnen muss, und man im Nachhinein bei mir ankommt und bettelt.

Ich war stinksauer, weil wir in Schönebeck gut ausgestattete Projektträger haben, die so etwas können und die die Ausschreibungen gegen einen Projektträger verlieren, der nicht einmal einen Laptop bzw. nicht genügend Laptops hat. Dazu fehlen mir die Worte. Mit solchen Angeboten können die Berufsbildungswerke natürlich nicht konkurrieren, meine Damen und Herren. Aber die Frage, die wir uns stellen sollten, muss doch sein: Will die Gesellschaft tatsächlich gute Strukturen durch billige ersetzen? Und glaubt wirklich irgendjemand, dass Billigangebote zur Inklusion beitragen?

Ich sage Ihnen, ich glaube daran in keiner einzigen Minute. Das Land sieht das offenbar etwas anders. Im Beratungsprotokoll des Runden Tisches „Entwicklung und Perspektiven der Berufsbildungswerke in Sachsen-Anhalt“ vom Mai 2013 ist der Satz zu lesen: „Es werden keine aktiven und unterstützenden Maßnahmen aufgrund der negativen wirtschaftlichen Entwicklung einiger Berufsbildungswerke unternommen.“ Das Land hat also noch im Jahr 2013 nicht vorgehabt, irgendetwas zu tun. Wir wissen, dass es inzwischen noch einen weiteren Runden Tisch gegeben hat, kennen aber das Ergebnis im Moment nicht.

Dass es anders geht, zeigen die Beispiele aus Hessen und Niedersachsen. In Hessen gibt es eine Initiative Inklusion. Die heißt tatsächlich „Initiative Inklusion“. In dieser Initiative werden die Berufsbildungswerke in Hessen mit der Berufsorientierung für schwerbehinderte Schülerinnen und Schüler beauftragt. Diese Berufsbildungswerke bieten neue Ausbildungsplätze für schwerbehinderte junge Menschen in Kooperation mit dem hessischen Sozialministerium und der Bundesagentur für Arbeit an. In dem hübschen Flyer, den es dazu in Hessen gibt, heißt es: „Mit dem Projekt bringen die beiden hessischen Berufsbildungswerke ihre über Jahrzehnte erworbene Kompetenz im Bereich der erfolgreichen beruflichen Orientierung, Berufsausbildung und Integration junger Menschen mit Behinderung sowie ihre umfassenden regionalen und überregionalen Netzpartnerschaften ein.“

Hier werden also die besonderen Kompetenzen und die besondere Ausstattung der Berufsbildungswerke ausdrücklich geschätzt und befürwortet. In Niedersachsen gibt es eine gemeinsame Erklärung von Leistungsträgern. Diese Leistungsträger sind Rentenversicherungen, die Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit, die Berufsbildungswerke und auch das Ministerium für Soziales in Niedersachsen. Sie erklären sich zu ihrer Strukturverantwortung wie folgt: „Das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration und die Träger der beruflichen Rehabilitation im Land Niedersachsen erachten die Leistungsangebote der niedersächsischen Berufsbildungs- und Berufsförderungswerke als unverzichtbares Instrument, um die Teilhabe für Menschen mit Behinderungen am Arbeitsleben und am Leben der Gesellschaft entsprechend den Vorgaben des Sozialgesetzbuches ... und der Vereinten Nationen zu fördern.“

Dann steht darin noch, die Berufsbildungswerke leisteten einen wichtigen Beitrag zur aktiven Arbeitsmarktpolitik. Vor diesem Hintergrund bekräftigen das Ministerium für Soziales und die Leistungsträger die Strukturverantwortung und tragen dazu bei, dass die Angebote dieser BBW und BFW entsprechend der fachlichen und regionalen Bedarfe in der gebotenen Qualität vorgehalten werden.

Damit sind wir bei unserem Antrag. Wir wollen in den Punkten 1 und 2 die Landesregierung genau dazu auffordern. Wir wollen sie nämlich erstens dazu auffordern, sich am Beispiel Hessen zu orientieren und die Berufsbildungswerke mit der Berufsorientierung und Berufsausbildung zu beauftragen. Wir wollen, dass sich die Landesregierung am Beispiel Niedersachsen orientiert und eine solche gemeinsame Erklärung für die Berufsbildungswerke ins Leben ruft.

Aber wir haben auch den Punkt 3 - dieser ist uns offen gesagt besonders wichtig -, der in dem Änderungsantrag der Koalition - zu diesem Änderungsantrag komme ich noch - leider völlig fehlt. Der Punkt 3 sagt aus, dass es selbstverständlich bei dem Ziel bleibt, letztlich alle Sonderungen von Menschen mit Behinderungen aufzuheben. Er sagt aber auch, dass es dazu strukturelle und personelle Voraussetzungen braucht und dass man nicht einfach die alten Strukturen beseitigen kann, ohne neue zu schaffen. Wir fordern dazu auf, dass daran aktiv gearbeitet wird. Deshalb bitte ich Sie schon jetzt um Ihre Zustimmung zu unserem Antrag.

Ich will zu dem Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen nur eines, und zwar zum Punkt 2, anmerken: Hierin wird zu der Überlegung aufgefordert, ob man die Berufsbildungswerke nicht an die Stelle des Berufsbildungsbereiches der Werkstätten für Menschen mit Behinderung setzen könnte. Ich habe das Gefühl, dass damit zumindest teilweise ein Loch gestopft werden könnte, aber ein anderes Loch aufgerissen werden würde, weil die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen eigene Berufsbildungsbereiche haben, die auch gut funktionieren, wo gute Erfahrungen gemacht worden sind. Diese arbeiten mit einer völlig anderen Klientel. Sie bilden nämlich Menschen nicht überwiegend für den ersten Arbeitsmarkt aus, sondern für die Werkstatt. Das ist schon etwas anderes.

Die Berufsbildungswerke bilden für den ersten Arbeitsmarkt, für den ganz normalen, regulären so genannten ersten Arbeitsmarkt aus. Sie erreichen es, dass Menschen, die ansonsten unter Umständen ihr Leben lang auf Hilfe angewiesen wären, zur Selbständigkeit kommen. Das ist ein Ziel, das Zeit und Geld und Ressourcen kostet. Das sollte man ihnen nicht wegnehmen, bevor nicht andere Strukturen für die Inklusion geschaffen worden sind.