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Gudrun Tiedge zu TOP 11: Geplante Polizeistrukturreform in Sachsen-Anhalt muss öffentliche Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger mittels einer präsenten und bürgernahen Polizei garantieren

Wir haben es schon immer gewusst: Opposition wirkt! Kaum haben wir Anträge eingebracht, bewegt sich die Landesregierung, bei der Jugendbildungsstätte der Feuerwehr, bei der Polizeireform, bei den Lehrerinnen und Lehrern. Da kann man nur sagen: Weiter so!

Allerdings - heute früh habe ich mir verwundert die Augen gerieben. Noch vor einer Woche hat der Finanzminister unerbittlich an seinem Kürzungskurs festgehalten. Das Interview in der Volksstimme vom 18.3.2014 strotzte nur so von Ignoranz gegenüber den bestehenden Problemen. Und nun dieser überstürzte Sinneswandel - das macht uns misstrauisch.

Wird das alles aus dem laufenden Haushalt bestritten? Wir fragen uns jetzt, warum damals von der Koalition nicht unseren Änderungsantrag zum Personal zugestimmt wurde. Die Probleme waren zu dem Zeitpunkt schon die gleichen.

So sehr wir es begrüßen, 50 neue Anwärter ab September einstellen zu wollen - aber wo wollen sie die hernehmen? Und wo sollen sie ausgebildet werden? Auf die Antworten sind wir gespannt!

Was jetzt geschieht, kann nur ein erster Schritt sein. Die Probleme mit der Polizeistrukturreform jedenfalls bleiben bestehen.

Ein Schweizer Polizeibeamter wurde gebeten, einen Bewerber für den Polizeiberuf zu beraten, und er schrieb ihm unter anderem folgendes: „In unruhigen Zeiten bist du der Prügelknabe im Staat. Aber in ruhigen Zeiten ist es nicht anders. Dein Mitbürger, der eben noch nach Deiner Hilfe rief, weil man ihn bestohlen hat, wird Dich morgen beschimpfen, wenn Du ihn bei einem Verkehrsverstoß erwischt hast. Du musst „Ja“ zu Deinem Auftrag sagen, damit andere „Nein“ sagen können. Wenn Du glaubst, dass alles ertragen zu können, dann werde Polizeibeamter, denn man braucht Dich. Auch die, die Dich heute beschimpfen, brauchen Dich morgen wieder. Sie verlangen viel von Dir. Du musst ihnen eine Freiheit bewahren, die auch das Recht einschließt, Dich zu verachten. Wenn du begreifst, dass diese scheinbar gegen Dich gerichtete Freiheit auch Deine Freiheit ist, dann wirst Du ein guter Polizeibeamter sein.“

Und ich kann und muss an dieser Stelle ausdrücklich feststellen: Wir haben in unserem Land viele gute Polizeibeamtinnen und -beamte, deshalb an dieser Stelle die Anerkennung und der Dank meiner Fraktion für ihre geleistete, engagierte, tägliche Arbeit.
Doch diese PolizistInnen verrichten ihren Dienst unter Rahmenbedingungen, die wahrlich ihre Arbeit nicht erleichtern, denn sie wurden und werden von einer Reform in die andere getrieben. Und vor allem jetzt in eine Reform hinein, die einzig und allein dem Diktat des Finanzministers unterliegt und ausschließlich von bloßen, nackten Zahlen und somit fiskalischen Aspekten diktiert wird.

Es kann doch nicht sein, dass es Plätze, Orte, Stadtteile, Straßen in unserem Land gibt, in denen Verwahrlosung und Vandalismus sowie Gewalt zunehmen, in denen sich die Bürgerinnen und Bürger nachts nicht mehr allein auf die Straße trauen, in denen das Sicherheitsgefühl letzt endlich auf der Strecke bleibt. Und dabei ist es völlig unerheblich, dass die Statistiken aussagen und belegen, dass zum Beispiel schwere Gewaltverbrechen rückläufig sind. Es geht um das subjektive Sicherheitsgefühl unserer Bürgerinnen und Bürger, was sich oft nicht in Zahlen ausdrücken lässt. Wer, ob berechtigt oder nicht, sich im öffentlichen Raum sowie im häuslichen Umfeld nicht sicher fühlt, ist auch nicht wirklich frei.

Die Polizeibeamtinnen und -beamten in unserem Land stehen inzwischen mit dem Rücken an der Wand. Und wenn der Finanzminister und der Innenminister nicht von ihren angekündigten Vorhaben hinsichtlich ihrer strukturellen Reformpläne abrücken und nur die fiskalischen Aspekte in den Vordergrund stellen, droht der Kollaps.

Aber dann für uns alle. Sachsen-Anhalt befindet sich auf einem Schlingerkurs und steuert auf eine Polizei hin, die künftig nicht mehr in der Lage sein  wird, die öffentliche Sicherheit als originären Bestandteil der öffentlichen Daseinsfürsorge zu gewährleisten. Und ich frage insbesondere Sie, Herr Finanzminister, wieso wollen Sie diese prekäre Situation nicht zur Kenntnis nehmen. Ihr Interview in der Volksstimme vom 18. März 2014 strotzt nur so von Ignoranz gegenüber den bestehenden Problemen. Die Welt wird nicht besser, indem man sie sich schön redet. Und es hilft an dieser Stelle wahrlich auch nicht der Slogan: Augen zu und durch. Die Probleme bleiben.

Und man muss weiter feststellen, der Innenminister kann oder besser will sich Ihnen nicht vehement entgegenstellen. Denn schließlich hat er ja das Personalentwicklungskonzept (PEK) mit all seinen Folgen und Risiken mit beschlossen. Sie sitzen alle im selben Boot, Steuermann ist der Finanzminister, der wahrlich nicht die Absicht hat, das Ruder herumzureißen.

Aber wie sieht es denn nun in der Realität aus? Die Polizeibeamtinnen und -beamten in Sachsen-Anhalt arbeiten unter teilweise sehr schwierigen Verhältnissen. Schlechte Bezahlung, eine miserable Beförderungspraxis, Großeinsätze, die sie an die Grenzen der Belastbarkeit bringen und häufige Schichtdienste, die kaum Zeit zur Erholung bieten, lassen Frust und Stress bei ihnen aufkommen. Der Krankenstand ist ein beredtes Zeugnis dafür.

Auch wir müssen feststellen, dass strukturelle Veränderungen im Bereich der Polizei und darin eingebunden eine Optimierung der derzeitigen Organisation der Behördenstruktur, erforderlich sind. Dabei muss es vor allem darum gehen, optimale Voraussetzungen für eine höhere Effektivität und Effizienz polizeilicher Ermittlungsarbeit bei gleichzeitiger Flächenpräsenz zu schaffen, die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu erhöhen und die Arbeitsbedingungen für die Polizeibeamten zu verbessern. Diesen Zielen muss sich die Struktur unterordnen.

Das heißt konkret: maximal zwei Polizeipräsidien, leistungsstarke Polizeireviere in jedem Landkreis und den kreisfreien Städten. Revierkommissariate in den größeren Orten und Stationen nur noch dort, wo sowohl Revier und Kommissariat räumlich zu weit auseinander liegen. Denn die Schließung vieler Stationen ist nur die Anpassung an die Realität, weil die meisten Stationen auf Grund des Personalmangels nur noch auf dem Papier existieren. Ergänzend dazu kann man dann über die flexiblen Streifenfahrten und die Bereichsbeamten in den Rathäusern nachdenken. Wobei man sich schon verwundert die Frage stellen muss, warum die Bereichsbeamten in den Rathäusern sitzen sollen und nicht in den Kommissariaten, die teilweise nur wenige Meter weiter weg liegen. Von der Finanzierung mal ganz abgesehen. Daneben natürlich das Landeskriminalamt und die Fachhochschule der Polizei, die Bereitschaftspolizei und das technische Polizeiamt.

Ja, das bedeutet und erfordert eine realistische Personalbedarfsberechnung auf der Grundlage des Aufgabenerledigungskonzeptes und einer entsprechenden Wirtschaftlichkeitsanalyse, und letzt endlich auch mehr Neueinstellungen. Denn alle diese Aufgaben und Vorstellungen des Innenministers werden mit dem vorhandenen Personal nicht erledigt werden können. Wir hatten dazu entsprechende Änderungsanträge während der Haushaltsberatungen gestellt.

Die Realität sieht doch schon heute so aus, dass überhaupt nicht mehr 6000 Polizeibeamte tatsächlich zur Verfügung stehen. Wir liegen doch in Sachsen-Anhalt schon längst darunter. In der Regel fehlen in den Behörden ca. 5 und mehr Beamtinnen und Beamten durch dauerhafte Erkrankungen oder durch Vorruhestand. Der Altersdurchschnitt liegt bei 43 bis 46 Jahren. Bei Polizeivollzugsbeamten auf Verwaltungsstellen liegt er bei über 55 Jahren.

Das alles wird sich nicht lösen lassen mit den Zielvorgaben des aktuellen PEK. Auch nicht mit der Anzahl der geplanten Neueinstellungen. Denn von den 150 Neueinstellungen kommen doch niemals alle in den Polizeidienststellen an. Das hat verschiedene Ursachen. Einige orientieren sich um, andere müssen aus disziplinarrechtlichen Gründen gehen oder ähnliches. Also auch das ist Augenwischerei.

Die derzeitigen Krankheitsbilder sind hauptsächlich Rückenprobleme, psychische Erkrankungen und Augenerkrankungen. Vieles davon ist leider vorprogrammiert. Die Arbeitsplätze von Polizeibeamten werden nicht als PC-Arbeitsplätze anerkannt, d.h. der Dienstherr muss auch keine besonderen Vorkehrungen treffen, wie z.B. entsprechende Stühle oder augenschonende Bildschirme, bzw. für Vorsorgeuntersuchungen zu sorgen. Über den Anstieg der Erkrankungen muss sich dann niemand wundern. Unlängst wurde festgestellt, dass Streifenpolizisten öfter krank sind als der durchschnittliche Sachsen-Anhalter. Der Krankenstand lag 2013 bei über 10 %.

Und noch etwas kommt hinzu. Die Polizeibeamtinnen und -beamten müssen einmal im Jahr die Sportnorm erfüllen und entsprechend nachweisen. Dafür sind eigentlich 4 Stunden Training im Monat vorgesehen - rein theoretisch - denn praktisch absolviert werden können diese nicht. D.h. die Beamten gehen völlig untrainiert in diese Prüfung. Und man muss sich auch nicht wundern, wenn selbst in Kriminalfilmen die Kriminellen immer schneller sind als die Polizeibeamten. Das gleiche gilt für die Schiessnorm, auch da gehen die KollegInnen überwiegend untrainiert hinein.

Man kann Kriminalität auch künstlich absinken lassen. Wenn die Kriminalpolizei auf Grund ihrer sehr schlechten personellen Ausstattung im Grunde „nur“ noch die „Bringekriminalität“ bearbeitet und sich nicht mehr selber die Straftaten „heranholen“ kann, wie z.B. bei der Drogenkriminalität, oder auch bei der Umweltkriminalität. Dann kann man natürlich sinkende Zahlen vorweisen. Und das erinnert mich dann ganz stark an die in einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu untersuchenden Vorfälle in der Polizei in Dessau, wo man ja auch nicht so genau hinschauen sollte… Auch in diesem Bereich droht somit der Kollaps.

Ein weiteres gravierendes Problem ist die derzeitige Beförderungssituation und die Frage der Dienstpostenbesetzung bei der Polizei. Wenn z.B. Dienstgruppenleiter immer noch Kommissare sind, was eigentlich gar nicht sein darf, dann stimmt etwas nicht im Gefüge. Die Betroffenen müssten alle mindestens Oberkommissare sein. Und wenn dann geantwortet wird, dass nach den entsprechenden Leistungs-, Befähigungs-, und Beurteilungsmodalitäten befördert wird, stellt sich die Frage, warum dann die Kollegen, die ihren Dienst jahrelang beanstandungsfrei auf diesem höheren Dienstposten versehen haben, manche mehr als 10 Jahre, nicht befördert und auch nicht entsprechend besoldet werden. Dann ist das nicht im Geringsten nachvollziehbar und wir können den Unmut und die Wut der Kollegen vollkommen nachvollziehen. Dazu kommt ein regelmäßiges Chaos bei den Ausschreibungen, und niemand braucht sich über die Klageflut zu wundern.

Und bei der Frage des Beurteilungswesens stellte ein Kollege es folgendermaßen dar: Um eine A-Beurteilung zu bekommen, müsse man „Gott gleich“ sein, bei einer B-Beurteilung wie sein Gehilfe und nur bei der C-Beurteilung passe man als normaler Mensch darunter. Dazu kommen dann noch die prozentualen Vorgaben, wie viele in welcher Kategorie sein dürfen.

Ich könnte jetzt an dieser Stelle eine ganze Reihe von konkreten Beispielen nennen, die uns nach der Antwort des Ministers auf die mündliche Anfrage meiner Kollegin Hunger erreicht haben. Fast immer anonym. Aber auch das sagt etwas über die Zustände in der Polizei aus. Auf Grund der Zeit lasse ich es. Aber ich wiederhole hier unsere Forderung, die wir nicht erst jetzt aufgemacht haben. Es muss sich schleunigst etwas ändern.
Das sind wir den Polizeibeamtinnen und -beamten schuldig. Sie müssen entsprechend ihrer Arbeit besoldet und befördert werden.

Sie sehen, es existieren Probleme über Probleme. Aber das Problematische dabei ist, es sind seitens des Innenministers keine Lösungen in Sicht, welche wirklich tragfähig wären.
Selbst innerhalb der Koalition scheinen die Lösungsansätze nicht tragfähig zu sein.
Ganz zu schweigen von den öffentlichen Positionierungen der Gewerkschaften.    

Sehr geehrter Herr Innenminister, es war mehr als kurzsichtig von Ihnen, nicht rechtzeitig und vor allem überhaupt nicht voll umfänglich die Gewerkschaften in Ihre Strukturpläne miteinzubeziehen. Eine Reform innerhalb der Polizei steht und fällt mit Zustimmung oder Ablehnung durch die Polizeigewerkschaften. Und der Offene Brief der Polizeigewerkschaften spricht eine deutliche Sprache. Die Probleme werden dort klar benannt und die geäußerten Befürchtungen sind leider höchst real. Noch ist Gelegenheit, die Entwicklung in vernünftige Bahnen zu leiten. Das hat auch der Ministerpräsident erkannt und die Reform zur Chefsache erklärt. Hoffen wir, dass es hilft.
Noch ist es möglich, die Pläne des Innenministers zu stoppen und mit allen Beteiligten vernünftige und realistische Schritte zu entwickeln.

Zusammenfassend folgendes:

  1. Die geplante Polizeireform kann aufgrund des schon bestehenden und sich noch verschärfenden Personalmangels die Probleme nicht lösen.
  2. Es muss eine realistische Personalbedarfsrechnung auf der Grundlage einer realistischen Personalbedarfsberechnung, eines realistischen  Aufgabenerledigungskonzeptes sowie einer Wirtschaftlichkeitsanalyse erarbeitet werden.
  3. Es sind zusätzliche Neueinstellungen vorzunehmen.
  4. Und es sind vor allem der Landtag und die Polizeigewerkschaften in den gesamten Reformprozess miteinzubeziehen.

Herr Innenminister, in Ihrer Pressemitteilung zur Kriminalitätsentwicklung sagten Sie, dass der organisatorische Schuh für die Polizei mittlerweile viel zu groß sei und es zunehmend schwerer fällt darin zu laufen. Ich möchte bei dem Bild bleiben und Ihnen erwidern: Wenn der Schuh aber zu klein ist, drückt er und man läuft sich schmerzhafte Blasen.