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Gudrun Tiedge zu TOP 04: Landesprogramm gegen Rechtsextremismus - „Für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt“

Als sich am 20. März 2011, nach Schließung der Wahllokale in Sachsen-Anhalt, in den Prognosen und später dann auch in  den ersten Hochrechnungen abzeichnete, dass die NPD nicht in den Landtag von Sachsen-Anhalt einziehen wird, ging ein Aufatmen durch das Land. Das Bundesland Sachsen-Anhalt, welches schon einmal im Fokus der Öffentlichkeit stand, weil die rechtsextreme DVU im Jahr 1998 mit 12,9 % ins Parlament einzog, konnte erleichtert sein.

Doch diese Erleichterung währte nur kurze Zeit. Denn analysiert man die Einzel-  und Endwahlergebnisse im Detail, ergibt es letztendlich doch ein erschreckendes Bild.

Mit nur knapp 0,4 % verfehlte die NPD ihren Einzug in das Landesparlament, knapp 4.000 Stimmen fehlten ihr zu guter letzt. Insgesamt haben 45 826 Wählerinnen und Wähler in Sachsen-Anhalt ihre Zweitstimme der NPD gegeben. Und in 10 Wahlkreisen kam die NPD über die 5 % - Hürde. Bei der Wählergruppe der 18- bis 24-jährigen erhielt die NPD sogar 18 % der Stimmen.

Und hinter diesen Zahlen stehen Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, die zu einem nicht unbedeutenden Teil bewusst dieser rechtsextremen Partei ihre Stimme gegeben haben, gerade auch wegen ihrer rassistischen und menschenverachtenden Ideologie.

Und da müssen wir uns alle die Frage stellen, was haben wir falsch gemacht, wo haben Politik und Gesellschaft versagt, wenn Menschen sich ganz bewusst gegen demokratische Grundsätze und Werte entscheiden? Die Antworten auf diese Fragen sind vielfältig, und einfache Erklärungsmuster helfen an dieser Stelle nicht weiter. Der erneute Aufschwung des Rechtsextremismus verlangt grundlegende gesellschaftspolitische Antworten, über die wir gegenwärtig nur begrenzt verfügen.

Eine rechtlich umfangreich ausgestaltete repressive Praxis, polizeiliche Prävention, Versuche, für gefährdete Jugendliche demokratische Alternativen aufzutun oder die Förderung zivilgesellschaftlicher Alternativen, sind dabei gute Ansätze. Aber die Realität zeigt auch, dass sie nicht ausreichen. Viele Gegenmaßnahmen greifen zu kurz, weil sie die Verfassung der „Mitte der Gesellschaft“ vernachlässigen und sich ausschließlich auf den sichtbaren Rechtsextremismus konzentrieren. Es geht perspektivisch um gesellschaftspolitische Reformen, welche längerfristig dazu beitragen können, die Nachfrage nach den rechtsextremen Angeboten zu senken. Noch immer sehen viele im heutigen Rechtsextremismus nur ein Wiederaufleben von Gespenstern der Vergangenheit, eine Neuauflage der alten Nazibewegung. Das aber geht an der Realität vorbei.

Rechtsextremismus ist keine zeitweilige Erscheinung und ist auch nicht begrenzt auf einzelne soziale Gruppen. Er ist Teil der modernen Gesellschaft und wird durch deren Widersprüche und Konflikte immer neu genährt. Und da möchte ich zunächst auf einige Anregungen für eine gesellschaftliche Reformdebatte eingehen, die an die Wurzeln des Rechtsextremismus heranreicht.

Neuere Einstellungsuntersuchungen verdeutlichen das Gewicht früher Sozialisationserfahrungen für die individuelle Bereitschaft, in die rechtsextreme Gedankenwelt einzutauchen.

Die aus anderen Gründen gesteigerte Aufmerksamkeit für vorschulische Erziehungs- und Bildungsarbeit muss ihren Fokus auf das Erreichen von demokratischer und sozialer Kompetenz ausrichten.

Mehr Demokratie und Beteiligung wagen, lautet auch die Überschrift für eine weitgehend vernachlässigte Dimension der zuletzt von der PISA-Studie ausgelösten Schulreformdebatte. Menschenrechte, Vielfalt und Toleranz können im Schulalltag ebenso erfahren und erlebt werden, wie die Fähigkeit zur Moderation und gewaltfreien Konfliktlösung. Negative Bildungskarrieren und frühe Auswahlerfahrungen sind nicht selten wichtige Bausteine für die spätere Übernahme rechtsextremer Orientierungen. Schülerinnen und Schüler, die in demokratischen und integrierenden Schulkulturen groß geworden sind, haben vermutlich keinen gesteigerten Bedarf an Führern und Unterordnung.

Eine wichtige Rolle kommt in diesem Zusammenhang den Kommunen zu, ohne dass unrealistische Forderungen an die kommunalen VertreterInnen herangetragen werden dürfen. Die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus in den Kommunen kann weder als spezielle Aufgabe einzelnen Personen noch den Fachausschüssen übertragen werden, sondern ist nur als Querschnittsaufgabe zu verstehen. Allerdings nicht als irgendeine, sondern als eine Aufgabe, die ihre Zukunft beeinflusst und mitbestimmt. Dabei ist die Tatsache, dass die Politik in den Kommunen erfahrbarer und auch noch mitgestaltbarer ist, eine wichtige Grundlage dafür, dass viele Bürgerinnen und Bürger mit einbezogen werden können.

Dabei geht es vor allem um folgende Forderungen:

  • Schaffung eines Klimas der Toleranz und des Humanismus;
  • Verhinderung, dass rechtsextreme Handlungsträger zur „Normalität“ werden und lokale Vereine übernehmen;
  • Beschränkung der Handlungsspielräume für organisierte Neonazis;
  • Harte Auseinandersetzung in den kommunalen Vertretungen mit Abgeordneten rechtsextremer Parteien;
  • Entwicklung und Förderung zivilgesellschaftlicher Initiativen;
  • Schutz von stigmatisierten Gruppen und Opfern rechter Gewalt;
  • Einsatz von finanziellen und materiellen Mitteln für die Entfaltung demokratischer Jugendkulturen.

Wie wollen an dieser Stelle auch nicht verschweigen, dass es in vielen Orten gute Beispiele gibt, wo es ein breites zivilgesellschaftliches Klima gibt, in dem der Rechtsextremismus keinen Platz hat. Aber wir müssen auch feststellen, dass es vielerorts noch versäumt wird, sich inhaltlich und rechtzeitig mit rechtsextremen Erscheinungen auseinanderzusetzen - manchmal aufgrund der Unterschätzung der realen Gefahren, manchmal aus Sorge um den Imageverluste für die Kommune.

So glaubt man, dass das Eingeständnis, dass in der Kommune die rechte Jugendkultur dominiert, dass es Gewaltbereitschaft gibt, Ausländer nicht willkommen sind oder dass in manchen Vereinen rechtsextremes und völkisches Gedankengut widerspruchslos artikuliert wird, dem Ort schaden würde. Man verkennt dabei, dass nicht die Auseinandersetzung mit diesen Erscheinungen dem Image schaden würde, sondern dass gerade das Verschweigen und Vertuschen zu einem erheblichen Imageverlust führt.
Denn jedes Verdrängen der Auseinandersetzung verringert die Chance für wirkliche Intervention und Veränderung.

Demokratie und Bürgerrechte dürfen nicht unter dem Deckmantel der Rechtsextremismusbekämpfung aufgegeben werden. Und alle politisch Verantwortlichen, egal auf welcher Ebene, dürfen die Auseinandersetzungen nicht scheuen.

Rechtsextremismus stellt zuallererst die Frage nach der Verfassung der Zivilgesellschaft.
Er hat vor allem dort eine Chance, wo Zivilgesellschaft schwach ist und seine Angebote als Bereicherung empfunden werden. So versuchen Rechtsextreme immer unverblümter, Einfluss auf das soziale, kulturelle, sportliche und politische Leben in den Städten und Gemeinden zu erlangen. Das belegt auch die Einleitung einer Broschüre des Bundesvorstandes der NPD.
Dort heißt es: „Tatsache ist, dass wir uns auch in einem überwiegend feindlich gegenüberstehenden Umfeld um eine Beeinflussung der öffentlichen Meinung im Rahmen unserer Möglichkeiten bemühen müssen.“

Dass ihnen das leider auch gelingt, zeigen nicht zuletzt die Ergebnisse der Kommunalwahlen, aber auch die Ergebnisse der letzten Landtagswahl. Hier muss festgestellt werden, dass die NPD grundsätzlich dort hohe Zustimmung erzielte, wo ihre Kandidaten Präsenz zeigten und im Gemeinwesen verankert waren, wie z.B. in Sportvereinen, der Freiwilligen Feuerwehr und ähnlichen Einrichtungen. Es kommt also auch darauf an, die demokratischen Orientierungen in den Vereinen und Verbänden zu stärken.

Auch der Kultur kommen vielfältige Aufgaben im Kampf gegen Rechtsextremismus zu.
So ist Kultur immer streitbar und damit ein demokratischer Prozess. Kultur erreicht viele und unterschiedliche Menschen. Daher ist eine demokratische, kulturell vielseitige Landschaft eine zwingende Notwendigkeit für ein tolerantes und weltoffenes Sachsen-Anhalt.

Wenn wir davon ausgehen, dass rechtsextremes Gedankengut weit in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen ist, können wir eine demokratische Kultur nicht ausschließlich als Jugendkultur verstehen. Sie muss vielmehr alle Altersgruppen ansprechen, und alle Menschen, unabhängig von ihrem sozialen Status, müssen von ihr partizipieren können.
Kulturelle Angebote müssen auch und vor allem im ländlichen Raum vorhanden sein.
Gibt es keine kulturellen Möglichkeiten, besteht die Gefahr, dass Rechtsextreme in dieses Vakuum eindringen und selbst die Angebote machen. Damit hätten sie dann direkt die Mitte der Gesellschaft erreicht.

Nur die Etablierung einer demokratisch verfassten Kulturlandschaft kann dies verhindern.
Ein Kulturkonzept für Sachsen-Anhalt müsste auf diese Herausforderungen reagieren und Lösungsansätze aufzeigen, wie z.B. auch eine solche Kulturlandschaft dauerhaft finanziert werden kann. Kultur muss sich als Teil der Zivilgesellschaft verstehen und dort ihre Wirkung entfalten. So kann an bewährte parteiübergreifende Projekte wie „Rock gegen Rechts“ oder „Bunt statt Braun“ angeknüpft werden.
Eine Auseinandersetzung ist aber auch mit rechter Kultur, welche in einigen Bereichen bereits die Dominanzkultur bildet, zu führen. Hier sind nicht nur Kulturschaffende gefordert, sondern auch LehrerInnen, ErzieherInnen, MitarbeiterInnen von jugendkulturellen Einrichtungen und vor allem auch die Eltern.

Für die Auseinandersetzung mit Geschichtsfälschung sind die Aufrechterhaltung der Erinnerungskultur und eine intensive Pflege antifaschistischer Gedenkstätten dringend notwendig.
 
Ein weiterer Bereich, dem ein besonderer Stellenwert in diesem Zusammenhang zukommt, sind die Hochschulen und Universitäten. Wissenschaft spielt eine entscheidende Rolle für Fortschritt und Entwicklung der menschlichen Zivilisation.
Und zugleich können Hochschulen als Orte des lebenslangen Lernens dazu beitragen, dass in Bereichen der Erwachsenenbildung, der Weiter- und Fortbildung sowie der Seniorenbildung die Grundlagen für demokratische und tolerante Denkmuster ausgebaut werden können.

Wir sehen aber auch erhebliche Defizite. Politische Rahmenbedingungen, Traditionen und in der deutschen Wissenschaftsorganisation selbst verhaftete Probleme haben autoritäre Strukturen konserviert, die dem Anspruch einer demokratischen, diskursiv geprägten Wissenschaft allzu oft zuwider laufen. Wenn im akademischen Studium sozial- und geisteswissenschaftliche Fragen immer deutlicher in den Hintergrund geraten oder gänzlich entfallen im Interesse eines knappen, effektiv auf den berufsqualifizierenden und verwertungsorientierten Abschlusses, besteht die Gefahr, dass zynische, technokratische und unter Umständen auch menschenverachtende Denk- und Handlungsmuster unter Menschen mit hohem Bildungsabschluss voranschreiten. Und da ist Sarazzin nur ein Beispiel.

Besonders nachhaltig wirken sich Defizite in der Lehramtsausbildung aus. Die pädagogische und sozialpädagogische Ausbildung muss deshalb in allen Lehramtsstudiengängen qualifiziert und vertieft werden.

Ich habe heute nur einige Bereiche näher beleuchten können. Natürlich würden dazu auch die Bereiche Medien, Soziales, Wirtschaft und Arbeit, Inneres und Justiz gehören.
Für all diese Politikfelder bedarf es einer klaren Analyse und konkreter Konzepte, um eine dauerhafte, verlässliche und kontinuierliche Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus aller demokratischen Kräfte über eine Legislaturperiode hinweg zu gewährleisten. Das soll Aufgabe des von uns geforderten Landesprogramms werden.

Rechtsextremismus ist nicht von gestern zu heute entstanden und er lässt sich nicht von heute auf morgen verdrängen. Aber etwas ganz entscheidendes hat uns die deutsche Geschichte gelehrt: Nur gemeinsam können die demokratischen Kräfte dem Rechtsextremismus begegnen und nur gemeinsam können sie ihn bekämpfen. Lassen Sie uns also gemeinsam an diesem Landesprogramm arbeiten.