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Gudrun Tiedge zu TOP 01: Regierungserklärung des Ministers für Inneres und Sport Herrn Holger Stahlknecht zum Thema: „Die Werte von Freiheit und Demokratie“

„Dönermorde“ titelten bekannte Zeitungen - was für eine furchtbare Sprache für vielfachen Mord an Menschen. Menschen, die in Deutschland gelebt haben und die nur aus einem einzigen Grund Opfer einer menschenverachtenden politischen Einstellung geworden sind, weil sie einen Migrationshintergrund hatten. Und aus diesem Grund mussten sie sterben. Und da erwarten wir auch von Journalisten, dass sie bei der Wahl ihrer Worte verantwortungsbewusster handeln.

Neben dem Entsetzen und der Trauer um die Opfer stellt sich aber auch Wut ein. Wut darüber, dass mitten unter uns über Jahre hinweg eine rechte Terrorzelle unbehelligt ihr Unwesen treiben konnte. Und es stellen sich Fragen über Fragen, auf die es auch heute noch keine befriedigenden Antworten gibt.

Aber eine Forderung muss heute mit aller Deutlichkeit aufgemacht werden. Wir erwarten eine schonungslose und öffentliche Aufklärung all der Fehler und Versäumnisse, die in den letzten Jahren passiert sind.

Aber auch die Frage muss gestellt werden: Waren es vielleicht gar keine Fehler und Versäumnisse?

Man soll doch nicht so tun, als sei der Rechtsterrorismus ein völlig neues Phänomen in der Bundesrepublik Deutschland. Bereits Ende der 60er Jahre gründeten sich erste bewaffnete Gruppen, deren Mitglieder sich aus radikalisierten NPD-Anhängern und gewaltbereiten Neonazis der nationalrevolutionären Szene rekrutierten. So war eine der ersten rechtsterroristischen Gruppen die im Jahr 1969 gegründete „Europäische Befreiungsfront“. Einen Tag bevor diese Gruppe Anschläge auf die Stromversorgung für das Treffen zwischen Willy Brandt und Willy Stoph verüben konnten, wurden mehrere Mitglieder der Gruppe verhaftet. Gefunden wurden bei ihnen eine ganze Reihe von Waffen und weitere Pläne für Anschläge.

Erinnert sei an dieser Stelle aber auch an die Wehrsportgruppe Hoffmann, an die Wehrsportgruppe Rohwer, an die Deutschen Aktionsgruppen und an die Volkssozialistische Bewegung Deutschlands. Sie alle waren hochgefährliche, rechtsterroristische Gruppierungen, die über Jahre hinweg ihr Unwesen treiben konnten.
Oftmals von den Sicherheitsbehörden aber auch von der Politik als „politische Wirrköpfe“ verharmlost.

Spätestens aber jetzt muss doch allen klar gewesen sein, dass endlich Schluss sein muss mit der Verharmlosung des Rechtsextremismus in diesem Land. Es muss Schluss sein mit der Auffassung, wir handeln nach dem Motto „Es gibt keinen Rechtsterrorismus, weil nicht sein kann, was nicht sein darf“.

Und stets werden auch dort bereits V-Leute des Verfassungsschutzes involviert gewesen sein, so wie sie es auch in den jüngsten Ereignissen gewesen sind. Nach neusten Medienberichten haben die verschiedenen Verfassungsschutzbehörden derzeit mehr als 130 aktive Informanten in der NPD, mehr als 10 davon berichten aus Führungsgremien.

Nun fragen wir uns, was haben diese V-Leute all die Jahre berichtet, oder haben sie berichtet und es wurde nicht verfolgt oder nicht für ernst genommen?
Und da muss sich natürlich doch für jeden die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Einsatzes von V-Leuten stellen.

Wer hat da eigentlich wen geführt, der Verfassungsschutz die V-Leute oder die V-Leute den Verfassungsschutz? Und das alles dann auch noch staatlich finanziert.

Da gehen Neonazis in den Untergrund und bleiben fast 14 Jahre lang verschwunden und das nicht etwa im Ausland, nein - mitten in Deutschland, mitten unter uns. Sie rauben in diesen Jahren Banken aus, ermorden 10 Menschen und niemand konnte sie angeblich stoppen. Sehr schnell waren die Ermittlungsbehörden nach den einzelnen Morden mit scheinbar plausiblen Erklärungen zur Stelle. Es seien Morde im Zusammenhang mit der „Türkenmafia“, Schutzgelderpressung spiele eine Rolle  u. ä.

Was nicht in Erwägung gezogen wurde bzw. gar nicht erst in Erwägung gezogen werden sollte, war die Frage, ob hinter all dem nicht ein rechtsextremistischer, fremdenfeindlicher Hintergrund stehen könnte. Niemand wurde stutzig, als festgestellt wurde, dass in allen Fällen dieselbe Waffe benutzt wurde. Niemand machte Anstalten zu fragen, ob es zwischen all den Morden einen Zusammenhang geben könnte. Und das, obwohl es seit 1992 eine Informationsgruppe zur Beobachtung und Bekämpfung rechtsextremistischer/-terroristischer, insbesondere fremdenfeindlicher Gewaltakte gibt, die sich aus Vertretern des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Bundeskriminalamtes, der Generalbundesanwaltschaft, des Militärischen Abschirmdienstes, des BMI, des BMJ sowie aus MitarbeiterInnen der jeweils zuständigen Landesbehörden zusammensetzt.

Da steht natürlich unweigerlich die Frage: Was hat diese Gruppe all die Jahre getan?

Auf die Anfrage meiner Fraktionskollegin im Deutschen Bundestag hinsichtlich der gerade genannten Informationsgruppe antwortete die Bundesregierung, dass die Themenschwerpunkte Lagedarstellungen, spezifische Entwicklungen insbesondere der neonazistischen Szene, Möglichkeiten der Optimierung der Zusammenarbeit insbesondere im Hinblick auf die Initialisierung von Auswerteprojekten, wie beispielsweise zur Kameradschaftsszene, umfassten. Da fragt man sich schon, was man in diesem Gremium unter Optimierung der Zusammenarbeit versteht bzw. verstanden hat, denn die letzte Sitzung fand im Jahre 2007 statt. Entweder hat in diesem Gremium jeder jedem misstraut, oder es gab Erkenntnisse, die dann nicht weiter verfolgt wurden. Jeder mag an dieser Stelle für sich selbst entscheiden, was wohl folgenschwerer war und ist.

Und dass sich prinzipiell nicht viel verbessert hat, zeigt die gemeinsame Pressekonferenz von BKA und Bundesanwaltschaft in der vergangenen Woche. Auf die Frage, ob es Zusammenhänge zwischen dem Raub von Sprengstoff bei der Bundeswehr und Sprengstoffanschlägen rechter Gruppierungen gäbe, wurde geantwortet, „das wisse man nicht, da möge man doch den MAD fragen“. Nichts und rein gar nichts hat sich also geändert.

Oder ich erinnere an die Fragestunde im Deutschen Bundestag am 30. November 2011. Fragen die prinzipiell ins Nichts führten, Antworten die keine waren. Ein Abgeordneter der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stellte z. B. folgende Frage an den parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesinnenminister: „Ich habe eine Frage zum September 1980. Sie erinnern sich: Das Oktoberfestattentat wurde zuerst als die Tat eines Einzelnen niedergebügelt. Meine Frage ist: Kommt es jetzt zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens, und wird der Generalbundesanwalt die Ermittlungen führen?“
Antwort von Herrn Ole: „Das ist Sache des Generalbundesanwalts. Dazu kann ich keine Auskunft geben. Denn solche Verfahren werden in einem Rechtsstaat nicht von der Polizei, sondern von den Staatsanwaltschaften geführt.“  

Interessant auch die Frage des Abgeordneten Petermann von Fraktion DIE LINKE:
„Seit wann gibt es keine eigenständige Abteilung zum Thema Rechtsextremismus im Bundesamt für Verfassungsschutz mehr, und was waren die Gründe für diese Entscheidung? Welche Landesämter, die nach der Gesetzeslage zur Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz verpflichtet sind, sind dem organisatorischen Beispiel des Bundesamtes für Verfassungsschutz gefolgt?“
Dazu die Antwort oder besser Nichtantwort des parlamentarischen Staatssekretärs Herrn Schröder: „Im Jahre 2006 wurde im Rahmen der Optimierung organisationsinterner Abläufe eine Änderung der Organisationsstruktur des Bundesamtes für Verfassungsschutz im nachgefragten Sinn vorgenommen. Die Bundesregierung nimmt zu aufbauorganisatorischen Fragen der Landesämter für Verfassungsschutz keine Stellung.“

Wenn das der Bundesinnenminister unter konsequenter Aufklärung versteht, haben wir doch wohl sehr unterschiedliche Auffassungen darüber.

Die Ermittlungsbehörden erwarten, und das zu Recht, Unterstützung durch die Öffentlichkeit und so wurde mit Beschluss vom 24.11. 2011 eine Öffentlichkeitsfahndung ausgeschrieben. Der Chef vom BKA erklärte dazu, es werde eine Aufklärung bis auf die Wurzeln geben. Dann hat aber letztendlich auch die Öffentlichkeit ein Recht auf umfassende Informationen und es darf kein Verstecken hinter vermeintlichen Dienstgeheimnissen geben.

Bundesinnenminister Friedrich räumte Fahndungs- und Ermittlungspannen ein. Aber war es wirklich nur eine Panne, dass eine geplante Festnahme des Neonazitrios Ende der 90er Jahre in letzter Minute aufgrund der Zurückbeorderung des SEK gestoppt wurde? Ein fataler Fehler, der den nachfolgenden Opfern das Leben kostete.

Wir begrüßen an dieser Stelle außerordentlich, dass sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene Altfälle mit rechtsextremistischem Hintergrund, aber auch unklare Gewaltverbrechen aufgearbeitet werden sollen. Das sind wir alle den Opfern schuldig. Jedoch ist es für uns bis heute nicht erklärbar und nachvollziehbar, das Niemand Zusammenhänge zwischen den einzelnen Mordtaten hergestellt hat. Aber noch fragwürdiger ist, dass in keinem Bundesland die einzelnen Morde aufgeklärt wurden. Zufall?

Und umso erstaunter ist man jetzt, wenn jeden Tag neue Ermittlungserfolge gemeldet werden. Warum ist man jetzt plötzlich jetzt in der Lage, Zusammenhänge zwischen rechtsextremen Strukturen und der NPD herzustellen, warum können jetzt Unterstützer ermittelt werden? Wurde das alles jetzt erst wirklich bekannt, oder schlummerte das Material schon irgendwo in den Schubkästen? Fragen über Fragen.

In den ARD-Tagesthemen wurde der Bundesinnenminister gefragt, ob die Politik, ob Ermittlungsbehörden auf dem rechten Auge blind  sind? Vehement  wurde diese Frage verneint. Aber sie ist nicht so einfach zu verneinen. Zu viele Anhaltspunkte sprechen dagegen. So z.B. auch die unterschiedlichen  Einordnungen von Gewaltdelikten. Die Bundesregierung zählte bis heute 48 Tötungsdelikte mit rechter Tatmotivation und beruft sich dabei auf die Angaben der LKA.
„Die Zeit“ und „Der Tagesspiegel“ veröffentlichten im September 2010 eine Chronik mit mindestens 138 Todesopfern. Und zählt man die 10 jüngst bekannt gewordenen Opfer hinzu, kommt man auf mindestens 148 Todesopfer, die seit 1990 durch Rechtsextreme ermordet wurden. Eine beschämende Aussage für Deutschland.

Auch in Sachsen-Anhalt machte ein PUA deutlich, dass es Schwierigkeiten mit der Zählweise und Einordnung rechtsextremer Straftaten gab.

Ein entsprechender PUA zur Problematik könnte jedoch auf Antrag der Oppositionsfraktionen demnächst im Bundestag gebildet werden, da die vom Bundesinnenminister berufene Untersuchungskommission aufgrund ihrer Zusammensetzung nicht geeignet ist, Licht in dieses Dunkel zu bringen. Das erhärtet wiederum den Verdacht, dass man an einer lückenlosen, öffentlichen und nachvollziehbaren Aufklärung nicht interessiert ist.

Und da brauchen wir nicht in erster Linie keine neuen Daten, sondern ein Umdenken bei den Sicherheitsbehörden, die fixiert waren und sind auf die Bekämpfung von Islamisten und angeblichen Linksextremisten, und die Neonazis rechts liegen ließen.
Da werden die kriminalisiert, die sich tagtäglich gegen Rechtsextremismus engagieren und nicht selten durch Neonazis bedroht und verunglimpft werden, wie in jüngster Vergangenheit in Gröbzig. Solange Verfassungsschützer und Polizisten rechte Straftaten nicht als solche erkennen oder erkennen wollen, wird auch eine neue Datei nicht helfen, die Macht der Neonazis zu schwächen.

Ja, auch DIE LINKE ist für ein NPD-Verbot. Gründe dafür gibt es genug. Und in vielem können wir dem zustimmen, was auf der IMK beschlossen wurde. Aber wie ernst meint man es mit diesem Vorstoß, wenn im Punkt 5 folgendes ausgeführt wird: „Um die Gefahren, die von rechtsextremistischen Personenzusammenschlüssen und Parteien ausgehen, erkennen und bewerten zu können, ist es erforderlich, dass die Sicherheitsbehörden über Informationen aus dem Inneren dieser Organisationen u. a. auch durch V-Personen verfügen.“

Allen dürfte doch wohl bekannt sein, dass ein Verbot der NPD ohne den Abzug der V-Leute aus den Führungsgremien nicht zu haben ist. Wer das eine will ohne das andere zu lassen, praktiziert wirkungslosen Populismus. Und niemand sollte glauben, dass Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Antiislamismus mit dem Verbot der NPD aus dem Alltag verschwinden. All das ist bereits in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Und wenn sie, sehr geehrte KollegInnen von der Koalition, es wirklich ernst meinen mit ihrem Kampf gegen den Rechtsextremismus, dann schaffen sie doch zuallererst die unsinnige Extremismusklausel ab. Dann gestalten sie die Förderpraxis so, dass die, die tagtäglich mit viel Mut und Engagement gegen rechts aktiv sind, auskömmlich und vor allem planungssicher finanziert werden und widersprechen allen Kürzungsabsichten - ob im Bund oder hier im Land.

Zu lange wurde in Deutschland die Gefahr des Rechtsterrorismus verharmlost, klein geredet und ignoriert. Wir sind es den Opfern  schuldig, dass alle Taten schonungslos aufgeklärt, Verantwortliche benannt und ehrliche, konsequente Schlussfolgerungen gezogen werden, damit diese Menschen nicht ein zweites Mal sterben.