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Gudrun Tiedge zu TOP 01 b): Demokratie stärken – Radikalenerlass verwerfen

Bundesweit beteuern die Innenminister der Länder, ein NPD- Verbotsverfahren nun aber ernsthaft in Angriff nehmen zu wollen. Aber die Realität spricht eine andere Sprache, so dass wir an dieser Stelle ganz deutlich sagen: DIE LINKE nimmt ihnen diese Absichtserklärung nicht mehr ab.

Wer auf der einen Seite immer wieder beteuert, wie wichtig ein Verbot dieser menschenverachtenden Partei ist, aber auf der anderen Seite nicht im Entferntesten bereit ist, die elementaren Voraussetzungen für so ein Verfahren zu schaffen, dem muss unweigerlich unterstellt werden, dass das alles nur Lippenbekenntnisse sind.

Das Bundesverfassungsgericht hat hohe Hürden für ein Verbotsverfahren gesetzt. Eine der Voraussetzungen ist, dass alle V- Leute aus der Szene abgezogen werden. Das aber haben die Innenminister mit Mehrheit abgelehnt, wohl wissend, dass damit ein Verbotsverfahren von vornherein wieder zum Scheitern verurteilt ist. Wir halten so ein Vorgehen für unredlich und nicht ehrlich.

Nun lässt Herr Innenminister Stahlknecht in seinem Haus prüfen, inwieweit ein Radikalenerlass neu aufgelegt werden könnte. Wir hatten eigentlich angenommen, dass diese Zeiten längst der Vergangenheit angehören.

Bevor ich zur rechtlichen Einordnung eines solchen Vorgehens komme, möchte ich kurz auf die Historie eingehen. Am 28. Januar 1972 fassten die Ministerpräsidenten der Länder den Beschluss, wonach die Mitgliedschaft in einer „verfassungsfeindlichen Organisation“ ein Grund für die Nichteinstellung oder Entlassung aus dem öffentlichen Dienst sei. Formal sollte dieser Erlass für Rechts- und Linksextremisten gelten. Von vornherein war aber allen Beteiligten klar, dass dieser Erlass in erster Linie für Mitlieder der DKP gedacht war, aber auch für Menschen, die sich in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten, in der Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstgegner oder in der Vereinigung demokratischer Juristen engagierten.

Für Mitglieder rechtsextremistischer Parteien und Organisationen spielte der Erlass so gut wie keine Rolle. Das verwundert auch insofern nicht, wenn man bedenkt, wie in der alten BRD mit Nazigrößen umgegangen wurde. Denn viele von ihnen bekleideten jahrelang bis zu ihrer Pensionierung hohe Posten im öffentlichen Dienst. Da hätte der Radikalenerlass gestört.

Und liest man das Interview des Innenministers in der MZ vom 25.06.2011, dann gehen die Überlegungen auch in diese Richtung. So erklärte er im Interview folgendes: „ Was ist denn, wenn sich Salafisten, radikale Islamisten oder linksautonome Zellen, die inzwischen Terror ohne Ende machen, sich zu einer Partei zusammenschließen?“

Nun stellt sich für uns die Frage, welchen Verfassungsschutzbericht der Herr Innenminister für diese Behauptung zur Grundlage genommen hat. Sowohl der bundesdeutsche Verfassungsschutzbericht als auch der für Sachsen-Anhalt sprechen da eine ganz andere Sprache. Und immer wieder muss betont werden, dass die eigentliche Gefahr für die Demokratie in der BRD vom Rechtsextremismus ausgeht.

Artikel 33 Abs. 2 Grundgesetz regelt: „Der Genuss bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte, die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sowie die im öffentlichen Dienste erworbenen Rechte sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Niemandem darf aus seiner Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnis oder einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen.“

Ungeachtet dieses Verfassungsgrundsatzes wurden durch den Radikalenerlass 3,5 Millionen BewerberInnen für den öffentlichen Dienst auf ihre Verfassungstreue durchleuchtet. Es wurden 11.000 Berufsverbotsverfahren durchgeführt und rund 1.500 BewerberInnen abgelehnt oder aus dem Staatsdienst entfernt. In der Anfangszeit erfolgte bei jedem, der sich für eine Stelle im öffentlichen Dienst bewarb eine Regelanfrage beim Bundesamt für Verfassungsschutz. Bayern schaffte diese Regelanfrage erst im Jahr 1991 ab. An Stelle dessen wurde aber ein Fragebogen eingeführt, der die Gesinnungskontrolle sogar noch verschärfte. Das mit der Begründung, dass man kaum etwas über die BewerberInnen aus dem Osten wüsste.

Der Unterschied zur Regelanfrage bestand nun darin, dass der Bewerbern oder die Bewerberin  selbst Auskunft geben musste, ob er oder sie bei radikalen Gruppen tätig waren. Auf dieser schwarzen Liste standen aber nicht nur die Mitgliedschaften in der SED, sondern auch die in den Blockparteien, der FDJ oder der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Und welche Blüten das dann treiben kann, zeigt, dass auch die Mitgliedschaft im Deutschen Turn- und Sportbund, dem Kulturbund und dem Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter Zweifel an der Verfassungstreue aufkommen lässt. Wahrscheinlich wegen des Anbaus von rotem Gemüse, wie Tomaten, Paprika und ähnlichem.

Zur Rechtfertigung für den Radikalenerlass wurde das Prinzip der wehrhaften Demokratie herangezogen, und der damalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Kühn von der SPD, erklärte dazu: „Ulrike Meinhof als Lehrerin oder Andreas Baader bei der Polizei beschäftigt, das geht nicht.“

Und wir stimmen ihm uneingeschränkt zu, ja, das geht nicht, wohl wissend, dass beide aufgrund der von ihnen begangenen schweren Straftaten niemals nach dem Beamtenrecht hätten Beamte werden können.

Betroffene des Erlasses fordern in einem Aufruf folgendes: „Der Radikalenerlass führte zum Berufsverbot für Tausende von Lehrern, Lehramtsanwärtern, Sozialarbeitern, Briefträgern, Lokführern und Juristen. Bis weit in die 80er Jahre vergiftete die staatlich betriebene Jagd auf vermeintliche „Radikale“ das politische Klima. Der Radikalenerlass führte zur Einschüchterung nicht nur der aktiven Linken. Die existenzielle Bedrohung durch die Verweigerung des erlernten  oder bereits ausgeübten Berufes diente der Unterdrückung und Einschüchterung von außerparlamentarischen Bewegungen insgesamt. Statt Zivilcourage wurde Duckmäusertum gefördert. Eine politische Auseinandersetzung über die schwerwiegende Beschädigung der demokratischen Kultur durch die Berufsverbotspolitik steht bis heute aus. Sie wäre heute dringlicher denn je. Die derzeit geschnürten „Sicherheitspakete“ beinhalten die Gefahr, dass erneut unter einem Vorwand - dieses mal der Bekämpfung des Terrorismus - wesentliche demokratische Rechte eingeschränkt werden. Erneut können kritische Personen und Bewegungen ausgegrenzt und an den Rand der Legalität gedrängt werden.
Der Radikalenerlass und die ihn stützende Rechtsprechung bleiben juristisches, politisches und menschliches Unrecht. Wir, Betroffene des Radikalenerlasses der 70er und 80er Jahre, fordern von den Verantwortlichen in Verwaltung und Justiz, in Bund und Ländern unsere vollständige Rehabilitierung. Wir fordern die Herausgabe und Vernichtung der Verfassungsschutzakten, wir verlangen die Aufhebung der diskriminierenden Urteile und eine materielle Entschädigung der Betroffenen.“

Was die Unterzeichner zum Zeitpunkt des Aufrufes sicher niemals gedacht hätten, ist die Tatsache, dass ein erneuter Radikalenerlass im Gespräch ist.

Nun zu einigen rechtlichen Aspekten.

Wenn man den Begriff des Radikalenerlasses in den Mund nimmt, dann muss man, gerade auch als Volljurist, die Verfassungsfeindlichkeit der damaligen Regelung im Auge haben. Und um so mehr verwundert dann das Vorpreschen des Innenministers. Mit dem Radikalenerlass wurden mittels eines Verwaltungsabkommens zwischen den Ministerpräsidenten der Länder verfassungsmäßige Grundrechte außer Kraft gesetzt. Weder wurde das Grundgesetz geändert, denn dazu hätte es der 2/3 Mehrheit des Bundestages bedurft, noch wurde überhaupt eine gesetzliche Regelung geschaffen.
Das Abkommen hatte streng genommen noch nicht einmal den Charakter einer Verordnung. So wurde die Verfassungsfeindlichkeit von Parteien, die nicht verboten waren, von einer Behörde festgelegt.

Artikel 21 Abs. 2 des Grundgesetzes schreibt aber vor, dass über die Frage der Verfassungswidrigkeit nur das Bundesverfassungsgericht entscheiden darf. Artikel 33 des Grundgesetzes hatte ich bereits zitiert. Verletzt wurde auch Artikel 3 Abs. 3 des Grundgesetzes, wonach niemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Hierbei handelt es sich um ein Grundrecht. Und damalige Ministerpräsidenten setzen sich einfach darüber hinweg. Folglich konnten Menschen als verfassungsfeindlich eingestuft werden, die gegen den Vietnamkrieg demonstrierten oder sich gegen die Atomkraft positionierten. Ich will an dieser Stelle gar nicht weiterdenken, wer heute dann alles verfassungsfeindlich wäre. Und ich frage Sie, warum darf ein Beamter nicht gegen Kriegseinsätze eintreten?

Gerard Braunthal, einer der renommiertesten amerikanischen Kenner der deutschen Geschichte nach 1945, kam in seinem Buch „Politische Loyalität und öffentlicher Dienst“ zu folgenden Schlussfolgerungen: „Im Namen des Schutzes der inneren Sicherheit haben die meisten Regierungen in aller Welt, unabhängig von politischen Systemen oder Ideologien, politischen Widerspruch, der den status- quo bedrohte, unterdrückt. Totalitäre und autoritäre Systeme tragen die meiste Schuld, aber auch liberale westliche Demokratien sind nicht frei davon. Zweifellos wird die Unterdrückung in einer Diktatur härter sein, wo die Opponenten des Regimes wahrscheinlich eher verhaftet, gefoltert und getötet werden, als in einer Demokratie, wo man Opponenten nur einschüchtert; es gibt aber fatale Analogien zwischen den verschieden politischen Systemen, was die Übergriffe der Geheimdienste, die staatliche Überwachung und Gewaltanwendung angeht.“

DIE LINKE wird alles unterstützen, was an ehrlichen Bemühungen unternommen wird, um rechtsextremes Gedankengut zu verhindern, um ein NPD-Verbotsverfahren zu ermöglichen und um ein Landesprogramm gegen Rechtsextremismus, für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt zu erarbeiten. Eine Neuauflage eines Radikalenerlasses lehnen wir jedoch konsequent ab. Eine Gesellschaft, die geprägt ist von einem tiefen Misstrauen gegenüber den eigenen Bürgerinnen und Bürgern, verwirkt seine Existenzberechtigung. Das hat uns insbesondere die Geschichte der DDR sehr deutlich vor Augen geführt.