Diese Website verwendet Cookies. Warum wir Cookies einsetzen und wie Sie diese deaktivieren können, erfahren Sie unter Datenschutz.
Zum Hauptinhalt springen

Edeltraud Rogée zu TOP 11: Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenfreizügigkeit beschäftigungs- und sozialpolitisch gestalten

Seit 1. Mai dieses Jahres brauchen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Polen, Tschechien, Ungarn, Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland und Litauen keine Arbeitsgenehmigung mehr, um in Deutschland zu arbeiten. Darauf mussten sie seit ihrem Beitritt 2004 warten. Die beiden anderen 2004 beigetretenen Mitgliedstaaten Malta und Zypern wurden übrigens sofort gleich behandelt.

DIE LINKE begrüßt die Arbeitnehmerfreizügigkeit und fordert dieses Recht auch für BulgarInnen und RumänInnen, die 2007 der EU beigetreten sind. Für sie  soll – abgesehen von Saisonkräften der Landwirtschaft und Studierenden – noch bis 2014 das diskriminierende Arbeitsverbot gelten. Schweden und Finnland haben auf solche Fristen verzichtet.
Großbritannien, Irland und Schweden hatten 2004 für die acht Neuen keine Einschränkungen vorgenommen - Spanien, Portugal, Finnland und Griechenland hatten nach zwei Jahren die Übergangsfristen aufgehoben. Deutschland gehörte zu den EU-15-Staaten, die ihren Arbeitsmarkt mit am stärksten abschotteten.

Die ArbeitnehmerInnenfreizügigkeit steht seit 1968 in den Europäischen Verträgen, sie ist auch Bestandteil der Grundrechtecharta, die die Berufsfreiheit, die Nichtdiskriminierung sowie die Freizügigkeit festschreibt. Ganz zu schweigen von Artikel 13 der UN-Menschenrechtserklärung, die jedem und jeder das Recht gewährt, den Aufenthaltsort frei zu wählen.

Obwohl es also beim Thema Arbeitnehmerfreizügigkeit um Grundrechtsansprüche geht, wird die europäische und insbesondere bundesdeutsche Debatte als Diskussion über „Zuwanderung“ und Arbeitsmarkt geführt. Dieses wurde mit zu befürchtenden  „schwerwiegenden Störungen des deutschen Arbeitsmarktes“ begründet, allerdings unter Verwechslung von Ursache und Wirkung. Die Agenda 2010 des damaligen SPD Kanzlers Schröder störte durch die Deregulierung des Arbeitsmarktes sowie der Sozialsysteme in der Tat den Arbeitsmarkt: der Leiharbeit wurden Tür und Tor geöffnet, 1-Euro-Jobs und Minijobs zerstörten reguläre Beschäftigungen, die öffentlichen Haushalte mussten die Einkommen dieser prekär Beschäftigten aufstocken und subventionieren und so weiter

Unter dem Leitbild „globalisierter flexibler Arbeitsmärkte“ geht es kurzsichtig um den „Wettbewerb und die besten Köpfe“. Das hat zur Folge, dass in Estland die IT-Fachleute abgeworben werden, Großbritannien bildet keine Krankenschwestern mehr aus, weil die zugezogene polnische Fachkraft schon bestens ausgebildet ist. Die wirtschaftlichen Entwicklungschancen ärmerer Staaten werden beschnitten und billigend in Kauf genommen, anstatt ein dauerhaft tragfähiges Qualifizierungs- und Beschäftigungsmanagement im Interesse Einheimischer und Zugewanderter zu entwickeln.

Unser Antrag ist überschrieben mit Arbeitnehmer/innenfreizügigkeit beschäftigungs- und sozialpolitisch gestalten. Das heißt, anders als der Präsident des ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, wollen wir nicht die Freizügigkeit von ihrer sozialpolitischen Einbettung trennen. Wir wollen gleiche Rechte für Einheimische und Einwanderer zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts. Unser Ansatz sind allgemeingültige tarifliche und soziale Standards für alle hier Lebenden und Arbeitenden statt Standortwettbewerb und marktradikale Transformation bei der EU-Osterweiterung.

Ich möchte noch einmal auf Ursache und Wirkung zurückkommen: Es fehlt ein soziales Europa, weil es ein Gründungsfehler war, statt positiv nur negativ zu integrieren. Statt eines sozialpolitischen Ordnungsrahmens zur Steuerung von Mindeststandards zu schaffen, ging man den Weg der negativen Integration, also Anerkennung unterschiedlicher Standards und des Herkunftslandprinzips.

Mit den Übergangsfristen für Arbeitnehmer/innenfreizügikeit und Dienstleistungsfreiheit suggerierte die politische Mehrheit, dass diese Abschottungs- und Vertagungsstrategie den hiesigen Arbeitsmarkt schütze. Aber wovor?

Die Lösung ist so einfach: Sozial- und Lohndumping, wenn man sie denn bekämpfen will, lassen sich nur durch gleiche Bedingungen am gleichen Arbeitsort verhindern.
Dazu brauchen wir einen europaweiten Mindestlohn, der 60 Prozent des jeweiligen nationalen Durchschnitteinkommens beträgt. In Deutschland bedarf es einer Lohnuntergrenze von mindestens 8,50 Euro pro Stunde.

Das Arbeitnehmerentsendegesetz von 1996 schaffte ausgehend von der Baubranche sukzessive für fünf weitere Branchen einen allgemeinverbindlichen Mindestlohn. Denn vor dem Entsendegesetz konnte man besichtigen, was auf den Baustellen passierte: Da für die entsandten Arbeiter die Arbeits- und Sozialbedingungen ihrer jeweiligen Herkunftsländer galt, hatten am selben Arbeitsort Deutsche, Portugiesen, Briten oder Spanier unterschiedliche Löhne, Arbeitszeiten, Pausen, Urlaub und Sozialversicherungen.

Um dieses Szenario in anderen Branchen zu verhindern, bedarf es einer Ausweitung des Entsendegesetzes auf alle Branchen. Dienstleistungen mit entsandten ArbeitnehmerInnen und grenzüberschreitende Leiharbeit werden sonst aufgrund dieser Regelungslücke weiter zunehmen. Vor allem muss die Leiharbeit ins Entsendegesetz aufgenommen werden. Die jüngste Lösung eines Mindestlohns von gut 6 Euro in der untersten Gruppe für Ostdeutschland ist keine Lösung, sondern sittenwidrig. Zumal selbst dieser Mindestlohn ausgehebelt werden kann, wenn die Leiharbeitsfirma beispielsweise in Polen sitzt und per Vertrag die Menschen für den dort üblichen Satz von weit unter 5 Euro entsendet. Solange Leiharbeit nicht ins Entsendegesetz aufgenommen wird, führt das zu Lohndumping, weil über ausländische Leiharbeitsfirmen der Gleichstellungsgrundsatz unterlaufen werden kann.

Leiharbeit ist per se wieder zu begrenzen auf drei Monate. Darüber hinaus muss den ArbeitnehmerInnen eine Festanstellung im Betrieb angeboten werden. LeiharbeiterInnen müssen ab dem ersten Tag der Stammbelegschaft gleichgestellt sein, gemäß dem Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“.

Die Landesregierung muss die Ängste und Sorgen der Menschen ernst nehmen und Mythen vom Fachkräftemangel beenden. Nach wie vor haben wir weniger Arbeitsstellen als Arbeitslose. Auf eine freie Stelle kommen 8 Suchende. Die Debatte um den Fachkräftemangel ist eine Scheindebatte, um von dem eigentlichen Problemen abzulenken: der fehlenden Ausbildung in deutschen Unternehmen und der Zunahme von atypischer Beschäftigung.
In besonderer Verantwortung steht die öffentliche Hand als Auftraggeber. Sie darf Aufträge nur an Unternehmen vergeben, die nach einem Mindestlohn von 8,50 Euro  beschäftigen und soziale wie ökologische Kriterien erfüllen. Dies steht im Einklang mit der EU-Vergaberichtlinie. Ebenso steht die Einhaltung der Tariftreue – in Sachsen-Anhalt ein leider nur noch selten anzutreffendes Modell - Europarecht nicht im Wege. Selbst das Rüffert-Urteil des Europäischen Gerichtshofes, das vor der Verabschiedung der EU-Vergaberichtlinie zu dem Schluss kam, dass die Dienstleistungsfreiheit eines unter Tarif zahlenden polnische Bau-Subunternehmers über dem im damaligen niedersächsischen Vergabegesetz mit Tariftreueklausel stünde, schließt dies nicht aus. Um die sozialen Grundrechte nicht dem Wettbewerb unterzuordnen, muss in den Lissabonner Vertrag eine soziale Fortschrittsklausel aufgenommen werden. Soziale Grundrecht müssen Vorrang haben.

Im Gegensatz zur brandenburgischen Landesregierung sind die Informationen der hiesigen Landesregierung zum Thema Freizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit für die acht inzwischen nicht mehr so neuen Mitgliedstaaten aus Mittel- und Osteuropa mehr als spärlich. Nicht einmal im aktuellen Koalitionsvertrag wird das Thema erwähnt. Was wissen die Menschen im Land und umgekehrt? Was wissen denn potenzielle ArbeitnehmerInnen aus dem Osten von der Situation auf dem sachsen-anhaltischen Arbeitsmarkt?

Das Niedrig-Lohnniveau in Sachsen-Anhalt ist leider legendär und nicht durch eine besser Bezahlung der Ingenieure zu retten.

Von welcher Stelle bekommen die Arbeitsmigranten Informationen? Keine Informationen durch die Landesregierung zum Thema, wer, was wie, warum. Offen ist nach wie vor die Anerkennung der reglementierten Berufe. Erst vor ein paar Wochen hat das Bundesarbeitsministerium ein Anerkennungsgesetzentwurf erarbeitet. Erst Anfang März 2011 hat das Bundesarbeitsministerium ein Anerkennungsgesetz-Entwurf erarbeitet.

In Brandenburg hat das Kabinett einen Bericht für den Landtag zur Arbeitnehmerfreizügigkeit ab 1. Mai vorgelegt. Er enthält u. a. eine Bestandsaufnahme bisheriger Kontakte, Aktivitäten und Maßnahmen der Landesregierung. Zum Beispiel Kooperationen, die bereits mit der Vorbereitung auf die EU-Osterweiterung und dem Beitritt Polens zur EU 2004 entstanden sind, u.a. zwischen Institutionen und Akteuren der beruflichen Bildung, von Landesregierung und Bundesagentur für Arbeit mit den polnischen Nachbarwojewodschaften, zwischen den Arbeitsschutzbehörden beider Länder. Im brandenburgischen Sozialministerium spiegelt sich diese Schwerpunktsetzung im Leitprojekt „Standortfaktor weltoffenes Brandenburg“ - Förderung eines gemeinsamen deutsch-polnischen Arbeitsmarktes‘ wider. Besuche von Gewerkschaft und Politik vor allem in Polen hatten im Vorfeld den Öffnungsprozess begleitet.
Auch Sachsen-Anhalt hat Partnerregionen in Polen und Bulgarien.