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Eva von Angern zu TOP 5: Aktuelle Debatte: Ein Jahr nach Halle - erinnern und handeln!

Anrede,

Am 9. Oktober 2019, 12.01 Uhr fielen bei dem Attentat in Halle die ersten Schüsse. Unfassbare und schreckliche Bilder gingen um die Welt. Die Tat sorgte weltweit für Entsetzen. Bilder und Nachrichten, die zeigten, wie ein Rechtsterrorist und Neonazi versuchte, in die Synagoge in der Humboldtstraße in Halle einzudringen. In der Synagoge befanden sich 51 Gläubige, den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur feierten, um diese Menschen kaltblütig zu ermorden. Er wollte gezielt ein Massaker anrichten.Es war eine geplante, vorbereitete Tat. Es war an diesem - dem höchsten jüdischen Feiertag - wie auch an anderen Tagen zuvor kein Streifenwagen der Polizei vor der Synagoge positioniert, um diese und die sich darin befindlichen Menschen zu schützen, sondern nur unregelmäßig fuhr eine Streife vorbei.

Nur durch glückliche Umstände gelang es dem Attentäter nicht, die Synagoge zu stürmen und einen Massenmord zu begehen. Die Tür der Synagoge - heute ein Symbolbild von Widerstandskraft und Bestandteil eines Mahnmals - hielt stand und rettete Menschenleben. Geschützt hatte hier jedoch nicht der Staat, sondern die jüdische Gemeinde sich selbst durch eigenständige Sicherheitsmaßnahmen.

Erst als es dem Attentäter nicht gelang, die besonders gesicherte Tür aufzuschießen, warf er Handgranaten auf den jüdischen Friedhof, legte Sprengsätze vor der Synagoge ab und zog schwer bewaffnet und in Kampfuniform weiter. Er tötete in der Nähe zwei Menschen - Jana L. auf der Straße vor der Synagoge und Kevin S. infolge gezielter Schüsse im „KiezDöner“ in der Ludwig-Wucherer-Straße in Halle, die beide das unbegreifliche Unglück hatten, zufällig dem Attentäter zu begegnen.  

Auf seiner Flucht verletzte und traumatisierte der Attentäter dann weitere Menschen - u. a. in Wiedersdorf, ehe er gefasst wurde. Seine Taten streamte er live im Internet, zuvor hatte er eine Waffenliste veröffentlicht sowie ein kurzes antisemitisches, rassistisches und frauenfeindliches Pamphlet, das er mit »KILL ALL JEWS« überschrieb.

Und auch nach einem Jahr ist nichts vorüber, vorbei und abgeschlossen.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

Der Anschlag auf die Synagoge in Halle geschah nicht völlig überraschend oder unvermittelt, wie dies so viele Politikerinnen und Politiker gern behaupten.

Der MP Haseloff erklärte am ersten Gedenktag im MDR, „dieser Tag habe alles verändert in Sachsen-Anhalt“.

Ich widerspreche Ihnen ausdrücklich!

Der Anschlag auf die Synagoge in Halle ist das Resultat einer immer weiter nach rechts rückenden Gesellschaft, in der viel zu oft nicht eingeschritten und weggeschaut wird, wenn sich Antisemitismus oder Rassismus im alltäglichen Leben ausbreiten.

Wir verzeichnen ein Erstarken antisemitischer Gewalt. Eine Gewalt, die heute nicht mehr nur von den Rändern, sondern aus der Mitte der Gesellschaft kommt.

Der am Montag öffentliche gewordene Umgang mehrerer Generationen von Polizeibeamt*innen in der Bereitschaftspolizei ist ein beredtes Beispiel dafür. Ein weit über die extreme Rechte hinaus verbreiteter und akzeptierter Antisemitismus sowie Rassismus waren und sind der Nährboden für solche Taten.

Fehlender Polizeischutz für die Synagogen in Sachsen-Anhalt war dann nur eine der dramatischen Folgen. Der Attentäter hat sich nicht alleine in seinem Zimmerchen zu Hause radikalisiert, er bezog sich auf andere Rechtsterroristen und ist folglich Teil eines weltweiten rechten, antisemitischen und antimuslimischen Terrors.

Er war kein Einzeltäter und es handelt sich auch um keinen Einzelfall!

Erst vor zwei Wochen wurde ein 26jähriger Student, der eine Kippa trug, vor der Synagoge Hohe Weide in Hamburg schwer verletzt.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Bis heute leiden etliche Menschen - Angehörige und Freund*innen der Todesopfer, Überlebende und Zeug*innen unter den körperlichen, seelischen oder wirtschaftlichen Folgen des Anschlags. Ein Jahr nach dem Attentat ist es uns deshalb ein tiefes Bedürfnis, auch heute hier im Hohen Haus an die Ereignisse vom 9. Oktober 2019 zu erinnern sowie deutliche Zeichen zu setzen und Handlungen aufzuzeigen gegen Antisemitismus und Radikalismus, die in unserer Gesellschaft und in unserem alltäglichen Leben angekommen sind.

Der 9. Oktober 2020 - ein Tag der Mahnung und Erinnerung, ein Tag der Solidarität mit den Betroffenen des Attentats.

Wir wollen am ersten Jahrestag des Anschlags an Jana L. und Kevin S. erinnern und zur Solidarität mit den Betroffenen des Anschlags, der Jüdischen Gemeinde zu Halle und dem Kiez Döner aufrufen. Und wir schließen in diese Solidarität die beiden schwerverletzten Opfer aus Wiedersdorf ein.

Wir wollen am heutigen Tag der Opfer und ihrer Angehörigen und Freunde sowie der Überlebenden dieses schrecklichen Attentates gedenken und wünschen ihnen viel Kraft das Unfassbare zu verarbeiten.

Ihnen gilt unsere uneingeschränkte Solidarität. Wir wollen erreichen, dass im Mittelpunkt allein die Betroffenen, ihre Namen und ihre Schicksale stehen und nicht der Name des Täters.

Denn wie so oft bleiben nach rechten Terroranschlägen nur die Namen und die Taten der Täter in der öffentlichen Wahrnehmung und Erinnerung.

Und: Wir wollen, dass die Betroffenen zu Wort kommen:

So befindet sich seit dem 21.09.2020 bis zum 21.11.2020 auf Halles Marktplatz eine Ausstellung mit dem Titel „Unantastbar: Unsere Grundrechte“.

Hier sind persönliche Äußerungen von Betroffenen sowie von Hallenserinnen und Hallensern auch zum Attentat dokumentiert.

Hieraus würde ich gern zitieren:

Annemarie G.:

„Am Tag des Anschlags hatte ich mich allein in einer Wohnung nahe der Synagoge aufgehalten. Die Ungewissheit über das Geschehene und die kollektive Angst und Ohnmacht mitzuerleben, war für mich traumatisierend. Wie müssen sich erst die Menschen fühlen, die sich in der Synagoge aufhielten oder die dem Täter auf der Straße begegnet sind. Wie können Menschen, die ein solches Ereignis miterlebt haben, weiterhin Menschen verurteilen, die aufgrund von Verfolgung, Diskriminierung und Krieg fliehen, die alltäglich Gewalt erleben.“

 

Tizian G.:

„Der Anschlag stellte einen Angriff gegen die Grundrechte dar und damit zugleich einen Angriff gegen unsere höchste Werteordnung, also auch gegen die gesamte Gesellschaft – uns alle. Auch deshalb war es umso schrecklicher zu erleben. Plötzlich war die Gefährdung der Grundrechte umso spürbarer. Gleichzeitig ist es sehr schlimm, was den Betroffenen individuell passiert ist. So etwas vor der eigenen Haustür zu erleben, löst eine unfassbare Mitbetroffenheit aus.“

Wir wollen heute mit der heutigen Debatte Anteilnahme und Solidarität ausdrücken.

Aber wir wollen das Gedenken an die vielen Opfer nicht ritualisieren und nur auf die jeweiligen Jahrestage beschränken, sondern uns konsequent mit dem alltäglichen Rassismus und dem Antisemitismus in unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen.

Denn ein Eintreten gegen jede Form von Menschenfeindlichkeit darf nicht nur an Erinnerungstagen geschehen, sondern muss alltäglich gelebt werden.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ein Jahr nach dem Anschlag auf die Synagoge und den Kiez Döner steht die gesellschaftliche und politische Aufarbeitung immer noch am Anfang.

Einer gegen den Antisemitismus laut werdenden Zivilgesellschaft steht jedoch eine Landesregierung gegenüber, die ihrer Verantwortung nicht gerecht wird. Schon kurz nach dem weltweit für Bestürzung und Trauer sorgenden antisemitischen Anschlag von Halle hatten Ministerpräsident Reiner Haseloff sowie der Innenminister Holger Stahlknecht nichts Besseres zu tun, als zu betonen, dass keine Fehler seitens der Behörden gemacht worden sind.

Die unüberlegten und völlig unpassenden Äußerungen des Ministerpräsidenten Rainer Haseloff in der jüdischen Gemeinde Halle zum Jom Kippur, ein Jahr nach dem schrecklichen Anschlag, offenbaren ebenfalls ein grundsätzliches Problem beim Umgang mit den jüdischen Gemeinden in Sachsen-Anhalt seitens der Landesregierung.

Der Anschlag von Halle hätte nicht durch die Versöhnung der Juden verhindert werden können, so wie die Äußerungen des Ministerpräsidenten zumindest zu interpretieren sind. Sondern dadurch, dass die Polizei diesen jüdischen Feiertag zur Kenntnis genommen und den entsprechenden Schutz der jüdischen Gemeinde geleistet hätte.

Und auch die letzten Äußerungen des Innenministers zu entstehenden personellen Engpässen bei der Polizei in Sachsen-Anhalt durch die Bewachung jüdischer Einrichtungen sind symptomatisch für den Umgang der Landesregierung mit Antisemitismus in Sachsen-Anhalt. Den öffentlichen Schutz der jüdischen Gemeinden gegen die Interessen der Mehrheitsbevölkerung aufzurechnen, ist völlig inakzeptabel.

Wer - ob gewollt oder nicht - antisemitische Ressentiments befeuert, der ist als Innenminister untragbar.

Auch der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sagte diesbezüglich:

„Juden als privilegierte Menschen hinzustellen, für die Maßnahmen auf Kosten der Allgemeinheit ergriffen würden, schüre tatsächlich Antisemitismus.“

Wenn Ministerpräsident Haseloff in „mangelnder Versöhnung“ eine Ursache sieht, wenn Innenminister und CDU-Landeschef Stahlknecht über Kapazitätsprobleme schwadroniert, die aus dem Schutz jüdischen Lebens in Sachsen-Anhalt erwachsen, dann tragen sie beide ein gehörig‘ Maß an Verantwortung für die gesellschaftliche Atmosphäre. Und nein, ich unterstelle beiden kein antisemitisches, rassistisches Denken.

Aber beide könnten wissen, dass es - zumal bei sensiblen Themen - nicht allein darauf ankommt, was man sagt.

Es muss immer mitbedacht werden, wie es ankommt. Und da haben sich beide ein Totalversagen geleistet.

Es bedarf einer grundlegenden Veränderung der Arbeit der Sicherheitsbehörden in Bezug auf rechten Terror und rechte Gewalt. Die Probleme reichen tief in die Sicherheitsbehörden hinein.

Das haben in letzter Zeit zahlreiche Vorkommnisse in Polizei, Verfassungsschutz und Bundeswehr deutlich gemacht. Auch im Umfeld des Agierens, der Festnahme und der Aufklärung des rechtsterroristischen Anschlags ist unsensibles Polizeiverhalten in Sachsen-Anhalt nicht von der Hand zu weisen.

Das haben Betroffene in ihren Aussagen immer wieder betont.

Die kürzlich vorgestellte Rias-Studie (Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus) bemängelt ein instrumentelles Verhältnis der Politik zu den jüdischen Gemeinden. Wir fordern deshalb eine ehrliche Fehleranalyse und endlich einen Umgang mit den Betroffenen auf Augenhöhe.

Sehr geehrte Damen und Herren,

wer Gedenken ernst meint, muss den Worten auch konkretes Handeln folgen lassen. Wir wollen heute jegliche Formen des zivilgesellschaftlichen Gedenkens in Halle würdigen, welche Perspektiven der Betroffenen in den Mittelpunkt stellt.

Ich möchte deshalb im Namen meiner Fraktion heute all jenen danken, die sich dafür tagtäglich engagieren, sei es bei den Mahnwachen, die den Prozess in Magdeburg begleiten, sei es bei Kundgebungen oder in Projektarbeiten. Stellvertretend möchte ich an dieser Stelle den „Raum der Erinnerung und Solidarität“ nennen, der vom 9. bis zum 11. Oktober 2020 eine Anlaufstelle für Menschen wurde, die ihre Anteilnahme und Solidarität ausdrücken wollten und die Möglichkeit somit bot, sich mit den Erfahrungen und Forderungen der Überlebenden und Betroffenen des Attentates auseinander zu setzen.

Eine Ausstellung, die von ehrenamtlichen Aktivist*innen (Halle gegen Rechts, Bündnis für Zivilcourage, Mobile Opferberatung bei Miteinander e. V.) erarbeitet wurde.

Dafür unser ausdrücklicher Dank!

Sehr geehrte Damen und Herren,

es liegt an allen demokratischen Kräften dieses Landes, dem wachsenden rechten Terror entgegenzutreten und Antisemitismus sowie Rassismus und rechter Hetze entschieden entgegenzutreten.

Politik trägt Verantwortung für den Schutz jüdischen Lebens und für einen entschlossenen Kampf gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus.

Immer und überall!

Wir werden niemals zusehen und schweigen, wenn wir rechten Terror, Antisemitismus, Rassismus und Frauenfeindlichkeit begegnen.

Lassen Sie uns die heutige Aktuelle Debatte als Ermutigung mitnehmen für ein solidarisches und weltoffenes Zusammenleben.