Wir müssen reden ‐ und handeln: Jugendhilfegipfel 2025
Nicole Anger, Sprecherin für Kinder- und Jugendpolitik der Fraktion Die Linke, betont in der heutigen Landtagsdebatte um die Jugendhilfe in Sachsen-Anhalt:
„Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Teilnahme und Teilhabe an der Gesellschaft. Armut und soziale Ungleichheit stehen dem jedoch vielfach entgegen. Die gesellschaftlichen und ökonomischen Krisen unserer Zeit hinterlassen deutliche Spuren – und sie treffen Kinder und Jugendliche besonders hart. Die aktuelle gesellschaftliche Lage ist geprägt von einer dramatischen Verschärfung sozialer Ungleichheit, welche sich auch auf die Kinder- und Jugendhilfe auswirkt. Seit Jahren verzeichnen wir steigende Zahlen von Kindeswohlgefährdungen und in deren Folge steigende Inobhutnahmen. Die Einrichtungen der ambulanten und stationären Jugendhilfe sind überbelegt. Und das alles trotz sinkender Kinderzahlen.
Das Jugendhilfesystem agiert nur noch als Feuerwehr. Sieht man genauer hin, wird das derzeitige Dilemma am Beispiel des ASD – dem Allgemeinen Sozialen Dienst - deutlich. Durch die Zunahmen von Belastungen in Familien, u. a. verursacht durch Individualisierung von sozialen und psychischen Problemen, durch gesellschaftliche Krisen, durch mehr und mehr Armut, steigen die Fallzahlen der Kinderschutzfälle im ASD erheblich. Präventionsangebote sind bei den steigenden Fallzahlen schon kaum noch leistbar. Steigende Inobhutnahmen führen zu überlasteten Kinder- und Jugendnotdiensten. Diese nehmen dann nicht mehr kurzfristig auf zur Klärung der Hilfen, sondern die Kinder verbleiben dort über Wochen, Plätze sind belegt, weitere Inobhutnahmen kaum möglich.
Die Kommunen sind mehr und mehr überfordert, das sehen wir ja gerade in Magdeburg. Unter dem Deckmantel des § 42 SGB VIII – Inobhutnahme - wird hier eine Einrichtung geplant, die in ihrer Konzeption eher dem Charakter des § 1631b BGB entspricht, also einer geschlossenen Unterbringung. Warum? Weil die Stadt keine anderen Ideen hat, wie sie mit besonders herausforderndem Verhalten von Kindern und Jugendlichen umgehen soll. Weil sie sich allein gelassen fühlt.
Wir sehen es an drastischen Maßnahmen wie geplanten geschlossenen Unterbringungen, die nichts anderes als ein Zeichen von Ratlosigkeit sind. Hier wird versucht, Herausforderungen mit Repression zu begegnen, weil das System keine andere Antwort hat. Doch Kinder, die in schwierigen Lebenslagen verharren, sind kein Problem, das man „wegsperren“ kann – sie sind ein Alarmsignal. Sie zeigen uns, wo die Jugendhilfe Reformen braucht. Dies sind keine abstrakten Situationsbeschreibungen. Das sind konkrete Signale eines Systems, das vor dem Kollaps steht. Und das Problem sind nicht die Kinder und Jugendlichen und ihre Familien. Es sind dringende Herausforderungen, die die Lebensrealität von jungen Menschen und ihren Familien bestimmen.
Um diese Aufgaben zu erfüllen, braucht die Kinder- und Jugendhilfe mehr als gute Absichten und engagierte Mitarbeiter:innen. Aufgabe von Jugendhilfe ist es, jedwede Unterstützungsleistung den jungen Menschen und ihren Familien zukommen zu lassen, die es für ein gutes Aufwachsen braucht. Doch dies gelingt nur, wenn das System selbst stark genug ist. Die Beziehungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen muss im Vordergrund jedes pädagogischen und jugendamtlichen Handelns stehen.
Daher ist es dringend notwendig, über das Kinder- und Jugendhilfesystem im Land zu reden, zu analysieren, wo es wirkt, wo eben auch nicht und wo es besser wirken kann und muss. Dabei gilt es aktuelle Entwicklung zu beachten, und ebenso neue pädagogische Konzepte zu entwickeln. Und all das muss jetzt passieren. Und zwar gemeinsam mit den Kommunen und den Trägern. Es braucht eine gemeinsame Kraftanstrengung von Land, Kommunen und Trägern, um ein zukunftsfähiges und inklusives Jugendhilfesystem zu schaffen. Deshalb fordern meine Fraktion und ich, dass im ersten Halbjahr 2025 ein Jugendhilfegipfel einberufen wird. Gemeinsam müssen wir Konzepte entwickeln, die den Bedürfnissen der Kinder und ihrer Familien gerecht werden.“
Magdeburg, 21. November 2024