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TOP 02 a): Umgang mit Jugendkriminalität und Jugendstrafrecht

Das heute zu diskutierende Thema ist ohne Zweifel derart vielschichtig, dass es beinah unmöglich ist, dies im Rahmen einer einzigen Debatte erschöpfend zu erörtern. Nichtsdestotrotz können wir uns als Landesparlament der seit etwa vier Wochen anhaltenden und bundesweit geführten Diskussion über das Problem der Jugendkriminalität und dem Umgang damit nicht entziehen. Wir sollten es auch nicht. Gesellschaftlich relevante Debatten gehören ins Parlament. Denn schließlich sind wir es auch, die mögliche Konsequenzen aus diesen zu ziehen haben.

Ich möchte mit einem wichtigen Aspekt beginnen: es sind die Opfer von Gewalt. Auf SPIEGEL-Online war gestern dazu ein sehr umfangreicher und für jede Leserin und jeden Leser aufwühlender Bericht zu finden, in dem einige Opfer von zum Teil brutalsten Übergriffen zu Wort kamen. Er schließt mit dem Satz: „Sie suchen nach Erklärungen für die Tat - und finden keine, die ihnen hilft.“

Ich erachte es als unsere Pflicht, uns der Opferperspektive zu stellen. Und es ist ebenso notwendig, dass wir gemeinsam deutlich machen, dass den Opfern und ihren Familien unser Mitgefühl und unsere Anteilnahme gelten. Und es ist genauso unabdingbar, diese Menschen mit ihrem Schicksal nicht allein zu lassen, sondern ihnen Unterstützung und Beratung zur Verfügung zu stellen. Und die Opfer haben ein Recht darauf, einen handlungsfähigen Rechtsstaat an ihrer Seite zu wissen.

Wenn wir allerdings in eine politische Debatte darüber eintreten, ob und, wenn ja, in welchem Umfang wir es mit einem gesellschaftlichen Problem zu tun haben und wie wir als Entscheidungsträger darauf zu reagieren gedenken, müssen wir von uns allen abverlangen – so schwierig das ist – einen Schritt zurückzutreten. Nur dies ermöglicht einen abwägenden Diskussionsprozess und gesellschaftlich tragfähige Entscheidungen.

Wer der Versuchung erliegt oder gar aufgrund bewusster Entscheidung zu dem Schluss kommt, aus dem Schicksal der Opfer um des kurzfristigen politischen Erfolges willen Honig zu saugen, handelt verantwortungslos.

In der Süddeutschen Zeitung war am 9. Januar 2008 zu lesen: „Schon die Debatte, wie sie jetzt geführt wird, ist gewalttätig genug. Sie sät Wind. Sie eskaliert in einer Weise, die ihrerseits Angst machen kann - weil sie nicht einfach wahlkämpferisch über die Stränge schlägt, sondern aufwieglerisch wirkt: Man muss nur einmal die einschlägigen Hetz- und Hassseiten im Internet anschauen; sie lesen sich wie Aufrufe zum Pogrom gegen junge Muslime und gegen angebliche politische Weicheier, die sich rabiaten Straftaten-Bekämpfungsmethoden verweigern. Die Jugendgewalt-Debatte ist eine Kampagne der Anti-Aufklärung geworden, an deren Ende die Prügelstrafe wartet.“

Ich hätte mir gewünscht, nein ich habe es eigentlich erwartet, dass die christliche Volkspartei CDU dem Treiben des hessischen Landesverbandes mit dem Ministerpräsidenten Koch an der Spitze Einhalt gebietet.

Leider war das Gegenteil der Fall. Mit ihrem Präsidiumsbeschluss vom 5. Januar hat die Bundes-CDU Roland Koch das klare Signal gegeben: Weitermachen! Der Landesvorsitzende der CDU Sachsen-Anhalt Thomas Webel hat dies noch einmal ausdrücklich bekräftigt.

Wer die „Wiesbadener Erklärung“ der CDU-Spitze liest, wird dort auch Wörter wie Integration, Jugendarbeit, Schulen oder Arbeitslosigkeit finden. Erstaunlicherweise spielen diese in der öffentlichen Kommunikation der CDU keinerlei Rolle, sie werden von Herrn Webel sogar vom Tisch gewischt mit der Bemerkung, einige Sozialpolitiker seiner Partei würden das zwar anders sehen, die Mehrheit des Landesverbandes stünde aber hinter den Forderungen Roland Kochs. Spätestens hier wird doch deutlich: Es geht der CDU bei der momentan laufenden Kampagne nicht um die Lösung des Problems, sondern einzig und allein um Stimmungsmache.

Nicht unerwähnt bleiben darf, auf wessen Kosten diese Kampagne geführt wird. Es sind die Migrantinnen und Migranten. Ich will Ihnen nicht ersparen, was Roland Koch unter dem Titel „Lieber 3 Tage Gefängnis als lebenslänglich kriminell!“ Anfang Januar in der BILD-Zeitung u.a. als seine Thesen zur Jugendkriminalität vorgestellt hat:

„Wir sind offen für andere Kulturen, keine Frage. Und nehmen diejenigen, die zu uns kommen, mit offenen Armen auf. Aber deren Integration in unsere Gesellschaft kann keine Einbahnstraße sein, deshalb muss es klare Regeln für das Zusammenleben in unserem Land geben. In Wohnvierteln mit hohem Zuwandereranteil muss es klare „Spielregeln“ geben, deren Beachtung für das Miteinander zwingend einzuhalten sind und deren Nichtbeachtung selbstverständlich Konsequenzen haben muss. Unsere Sitten und Gebräuche können und sollen nicht „mir nichts, dir nichts“ über Bord geworfen werden. Respekt und Toleranz müssen beide Seiten vorleben. Deshalb nur als Beispiel: Die Sprache im Miteinander muss Deutsch sein, das Schlachten in der Wohnküche oder in unserem Land ungewohnte Vorstellungen zur Müllentsorgung gehören nicht zu unserer Hausordnung.“

Wenn der Zentralrat der Juden in Deutschland davon spricht, dies sei Wahlkampf auf NPD-Niveau, dann ist dem nichts hinzuzufügen. Außer einem: Ich erwarte von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU, eine unmissverständliche Distanzierung von diesen ausländerfeindlichen Parolen ihres Parteifreundes.

Was Roland Koch hier tut, ist nicht mehr und nicht weniger als eine bewusste Infragestellung der Grundsätze unserer offenen und demokratischen Gesellschaft.

Ließe es meine Redezeit zu, würde ich gern etwas ausführlicher auf die Rolle einiger Medien, hauptsächlich Deutschlands größter Boulevardzeitung eingehen. Ich will es bei einem Beispiel belassen:

Am 4. Januar ist in der BILD auf Seite zwei eine jedes rassistische Klischee bedienende Abhandlung darüber zu finden, dass die Mutter des schwarzen US-Präsidentschaftskandidaten Obama nicht mit Messer und Gabel essen könne, während gleichzeitig auf der Titelseite die Kampagne fortgesetzt wird unter der Überschrift „Wahrheit über kriminelle Ausländer: Sie beeindruckt nur eines: Die Haft!“

Dies – und eine Reihe anderer Beispiele – überschreitet meines Erachtens bei weitem dass, was in unserer Gesellschaft toleriert werden kann und darf. Es grenzt an Volksverhetzung. Und ich halte es für angebracht, darüber nachzudenken, inwiefern Repräsentanten der demokratischen Parteien diesem Blatt noch zur Verfügung stehen. Ich werde als Vorsitzender meiner Partei die Zusammenarbeit mit dieser Tageszeitung einstellen, bis eine unmissverständliche Umkehr in dieser Frage bei den Verantwortlichen von BILD erkennbar ist.

Jugendkriminalität ist keine neue Erscheinung. Sie beschäftigt Politik und Wissenschaft seit langer Zeit.

Blicken wir auf die Kriminalitätsstatistiken von Bund und Land für das Jahr 2006 wird deutlich, dass wir es insgesamt mit einem Rückgang der Zahlen zu tun haben. Für Sachsen-Anhalt wurde ein Minus bei Jungtatverdächtigen von 11,2 Prozent verzeichnet. Im Bund waren es knapp über 2 Prozent Rückgang. Bei nichtdeutschen Tatverdächtigen verzeichnete Sachsen-Anhalt im gleichen Zeitraum ein Minus von 19,5 Prozent, bundesweit sank die Zahl in den unterschiedlichen Altersgruppen zwischen 5,6 und 9,4 Prozent. (Diese Zahlen beziehen sich auf Tatverdächtige und lassen den Ausgang eines anschließenden Gerichtsverfahrens außer Acht.)

Gleichzeitig wird von Opferverbänden wie von Experten darauf verwiesen, dass bei einer insgesamt sinkenden Statistik die Hemmschwelle für grobe und gröbste Gewalt offensichtlich sinkt.

Dem Jugendstrafrecht liegt der Erziehungsgedanke zugrunde. Daran darf nicht gerüttelt werden. Im Gegenteil, er sollte ausgebaut werden. Darauf haben verschiedenste Fachleute angesichts der jüngsten Diskussionen immer wieder hingewiesen. Es ist ein gefährlicher Aberglaube, mit härteren Strafen dem Problem beikommen zu wollen.

Viel zu selten wird momentan die Frage gestellt, wie es dazu kommt, dass junge Menschen so genannte kriminelle Karrieren einschlagen – also die Frage nach dem warum, die Frage nach der Prävention.

Stellt man sich dieser Frage, wird nämlich sehr schnell deutlich, dass wir vor einem politischen und gesellschaftlichen Kraftakt stehen.

Zwei wichtige Faktoren will ich benennen: es sind die soziale Situation bzw. gesellschaftliche Integration und der Bildungsgrad. Hier sei zum einen betont, dass nun hinlänglich bekannt ist, dass beides gerade in Deutschland in einem engen Zusammenhang steht, und zum anderen, dass vor allem nichtdeutsche Kinder und Familien in zum Teil schwierigsten sozialen Verhältnissen leben und aufwachsen und sich besonders oft schlechtesten Bildungsperspektiven ausgesetzt sehen.

Wenn wir es weiter zulassen, dass die Gruppe der Menschen, die sich an oder unterhalb der Armutsgrenze bewegen und die sich – nicht zuletzt daraus resultierend – wachsender gesellschaftlicher Ausgrenzung erwehren müssen, ständig wächst, verlieren wir die Legitimation, gleichzeitig steigende Frustration und Gewaltbereitschaft zu beklagen. Hier ist dringende Umkehr geboten. Der gesellschaftlichen Ausgrenzung muss Integration entgegengesetzt werden.

Ich will Ihnen an dieser Stelle Kafka nicht vorenthalten. Er schrieb:

„Wir fünf haben früher einander auch nicht gekannt, und wenn man will, kennen wir einander auch jetzt nicht, aber was bei uns fünf möglich ist und geduldet wird, ist bei jedem sechsten nicht möglich und wird nicht geduldet. Außerdem sind wir fünf und wir wollen nicht sechs sein. […] Wie soll man aber das alles dem sechsten beibringen, lange Erklärungen würden schon fast eine Aufnahme in unsern Kreis bedeuten, wir erklären lieber nichts und nehmen ihn nicht auf.“ (Franz Kafka: Gemeinschaft)

In diesen Tagen ist wieder viel die Rede von Werten und Prinzipien. Lassen Sie uns zunächst über die unsrigen reden. Bewähren müssen sie sich nicht an Feiertagen, bewähren müssen sie sich im Konflikt, im Alltag.