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Kerstin Eisenreich zu TOP 3: Aktuelle Debatte Fleischproduktion auf Kosten von Mensch und Tier

Sehr geehrte Damen und Herren,

Wir erleben gerade eine sehr aufschlussreiche Situation: Erst durch die vielen Corona-Erkrankungen von Arbeitnehmer*innen bei Tönnies und anderen Schlachtbetrieben von Großvieh, inzwischen aber auch bei Geflügelschlachtern wie Wiesenhof, haben die schon lange bekannten und auch immer wieder kritisierten Zustände in der Schlachtindustrie in das öffentliche Bewusstsein und wichtiger noch in die politische Debatten Eingang gefunden. Jahrelang wurden dagegen die Arbeits- und Lebensbedingungen vor allem der migrantischen Arbeitnehmer*innen hingenommen und zum Teil ignoriert.

Mit vielen Versprechungen werden Arbeitnehmer*innen vor allem aus Ost- und Südosteuropa angeworben, die ohne Sprachkenntnisse geschweige denn Beistand Verträge unterschreiben, die sie in ein unsägliches Abhängigkeitsverhältnis von ihren Arbeitgebern treiben. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten beklagt dies als „sklavenähnliche Beschäftigungsverhältnisse“. Solche sklavenähnlichen Arbeitsverhältnisse in unserer Zeit, in unserem Land sind unwürdig und unvertretbar.

Auch die Beratung migrantischer Arbeitskräfte hat bei der Anhörung zum Thema im Sozialausschuss darauf verwiesen, dass die Hilflosigkeit der ausländischen Arbeitskräfte massiv ausgenutzt wird. Denn abgesehen vom Inhalt des Vertrages haben sie keine Kenntnis von ihren Rechten. Sie wissen nicht, wie sie sich gegen miserable Arbeitsbedingungen wehren sollen. Sie haben nur einfach Angst um ihren Job, bis dahin, dass es sogar Fälle von Gewaltandrohungen gegen Arbeitnehmer*innen gab, die sich wehren wollten.

Die Werkverträge sind dabei das Grundproblem: Laut Angaben der Industrie sind heute bis zu 50 % der Arbeitsplätze im Kernbereich über Werkverträge vergeben. Die Gewerkschaft NGG spricht sogar von bis zu 80 %. Was beinhalten diese Werkverträge: die Beschäftigten erhalten zwar Mindestlohn, jedoch im Krankheitsfall keine Lohnfortzahlung. Der Anspruch auf Urlaub wird falsch berechnet. Dazu werden Arbeitsmaterial, Bereitstellung einer Unterkunft, Transport zum und vom Arbeitsort direkt vom Lohn abgezogen. Wer sich beschwert, fliegt quasi sofort.

Damit insbesondere die migrantischen Arbeitskräfte hier Unterstützung erfahren, muss das Projekt Beratung migrantischer Arbeitskräfte über das Auslaufen des Förderzeitraumes zum 30.06.2021 hinaus fortgesetzt werden muss. Hier finden die migrantischen Arbeitnehmer*innen, die ohnehin wenig Vertrauen in staatliche Ordnungsbehörden haben, sprachliche und fachliche Hilfe und haben inzwischen auch ein Vertrauensverhältnis ausgebaut.

Der Missbrauch in Form von Scheinwerkverträgen zur Ausgliederung von Kernarbeit muss auf Bundesebene gesetzlich unterbunden und dabei die Beweislast umgekehrt werden. Daran führt kein Weg vorbei. Viel zu lange wurde auf freiwillige Selbstverpflichtungen gesetzt, statt klare Regelungen für gute Arbeitsbedingungen zum Schutz der Arbeitnehmer*innen zu schaffen. Statt Tarifverträgen und betrieblicher Mitbestimmung durch Betriebsräte und Gewerkschaften haben sich die Unternehmen mit Subunternehmen und Werkverträgen aus der Verantwortung für die Beschäftigten gestohlen. Der blanke Hohn ist es, wenn dafür gebetsmühlenartig angeführt wird, dass solche Verträge halt branchenüblich seien und man ja als Branche wettbewerbsfähig bleiben müsse.

Dabei ist der ausländische Konkurrenzdruck eben nicht die Ursache für die unhaltbaren Zustände in der Branche. Im Gegenteil – das europäische Ausland leidet unter dem deutschen System, weil nirgendwo so billig geschlachtet wird wie hier. In Dänemark ist das anders: Stundenlöhne von 25 Euro, Schichten von maximal 7,5 Stunden zeichnen ein gänzlich anderes Bild als in Deutschland. Doch die Unternehmen hier werden das nicht freiwillig ändern. Deshalb brauchen wir strengere Regelungen für sichere Arbeitsverhältnisse mit festen Verträgen und einer tariflichen Entlohnung, von der die Beschäftigten gut leben können.

Und damit auch bei neuen Regelungen, diese nicht wieder unterlaufen und neue Schlupflöcher gesucht werden braucht es mehr Kontrollen der Arbeitsverhältnisse. Bisher braucht man sich als Unternehmen im Nahrungsmittelbereich da kaum Sorgen zu machen. Im Schnitt kommt nur alle 17 Jahre ein Kontrolleur ins Unternehmen. Das liegt vor allem daran, dass das Personal beim Landesamt für Verbraucherschutz, insbesondere im Bereich des Arbeitsschutzes drastisch reduziert wurde. Wir brauchen aber mehr Personal im Landesamt für Verbraucherschutz. Wenn man jeden Betrieb alle 10 Jahre prüfen wollte, bräuchte man 20 Beamte mehr. Im Übrigen haben wir uns bei den Haushaltsverhandlungen stets für mehr Personal eingesetzt und werden das auch künftig tun.

Wir fordern die Landesregierung auf, die Einhaltung der geltenden Schutzgesetze stärker zu kontrollieren und dazu vermehrt auch unangekündigte Arbeitsschutzkontrollen durchzuführen. Es ist doch skandalös, dass man sein Geschäftsmodell auf schlechten Arbeitsbedingungen gründet und damit enorme Gewinne macht.

Darüber hinaus müssen die Grundsätze guter Arbeit und Mitbestimmung im Betrieb Kriterien für die Wirtschaftsförderung sein. Die Wahl von Betriebsräten muss erleichtert werden.

Diese klaren Regelungen betreffen im Übrigen auch die Landwirtschaft. Und damit auch der Einzelhandel endlich seine Verantwortung wahrnimmt und nicht über Dumpingpreise die Arbeitsbedingungen in Landwirtschaft und den Unternehmen ruiniert, braucht es auch ein Lieferkettengesetz. Das bedeutet, wer Schäden an Mensch und Umwelt in seiner Lieferkette verursacht oder billigend in Kauf nimmt, haftet dafür. Das ist nach unserer Auffassung der bessere Weg, als die Forderung nach einem Mindestpreis für Fleisch oder einer Tierwohl-Abgabe. Beide rollen das Problem vom falschen Ende auf. Sie ändern nichts an den Arbeitsbedingungen und auch nicht an den Haltungsbedingungen der Tiere, weil es ja keine Garantie gibt, dass der höhere Umsatz vom Einzel- und Großhandel auch an die Produzenten weitergegeben wird.

Die Gesundheitssituation in den Schlachthöfen und deren Schließung führen zu einem weiteren Problem: Einerseits verlängern sich die ohnehin schon teilweise sehr langen Transportwege zu den Schlachthöfen, was dem Tierwohl zuwiderläuft. Andererseits werden tierhaltende Betriebe ihre Schlachttiere nicht mehr los. Das bringt diese wiederum in mehrfacher Hinsicht in Bedrängnis. Sie müssen immer mehr Tiere länger versorgen. Sie übersteigen die genehmigten Haltungskapazitäten und können dadurch Tierwohlvorgaben nicht einhalten. Und dann erfüllen sie die vereinbarten Schlachtgewichte nicht mehr. Hier wird deutlich, dass die Konzentration auf wenige große Schlachtbetriebe immense Risiken birgt. Auch deshalb sollten Erzeugung, Schlachtung und Vermarktung wieder mehr regional organisiert werden. Da wäre doch ein Förderprogramm sehr sinnvoll!

Nun höre ich schon die Einwände, dass diese Maßnahmen zu höheren Fleischpreisen führen und das wäre sozial nicht zu vertreten. Ja, es ist richtig und traurige Realität, dass sehr viele Bürger*innen jeden Cent mehrmals umdrehen und sich überlegen müssen, ob sie Fleisch im Angebot oder beim Fleischer kaufen, wo es um einiges teurer ist. Doch die Lösung ist eben nicht, dass extrem niedrige Preise beibehalten werden. Deutschland hat in Westeuropa den größten Niedriglohnsektor. Aus diesem Niedriglohn-System müssen wir raus. Wir brauchen Tarifbindung und eine höhere sanktionsfreie Mindestsicherung von 1200 Euro, damit sich die Menschen gut versorgen können.

Denn klar wird: Billigfleisch geht zu Lasten aller: angefangen beim Tier, über die Landwirte, die Arbeitskräfte in der Fleischindustrie bis zu den Verbrauchern. Dieses Geschäftsmodell hat abgewirtschaftet.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.