Dagmar Zoschke zu TOP 13: Anerkennung der Taubblindheit als Behinderung eigener Art
Mit dem ihnen vorliegenden Antrag wollen wir für die amtliche Anerkennung einer Behinderung werben, die für Betroffene und ihre Umwelt eine besondere Herausforderung bedeutet. Diese Anerkennung soll im Rahmen der Gewährung eines speziellen Merkzeichens auf dem Schwerbehindertenausweis erfolgen und bedarf einer Verankerung im SGB IX. Deshalb wollen wir eine Bundesratsinitiative unterstützen.
Eine große Anzahl von Behinderungen wird von der Mehrheit der Menschen nicht wahrgenommen. Nur wenn ein Mensch auf die Hilfe anderer angewiesen ist, wird der Zustand unübersehbar.
Taubblindheit ist nicht einfach die Summe von Blindheit und Gehörlosigkeit. Sie ist eine spezifische Behinderung, die mit besonderen Benachteiligungen einhergeht und besondere Aufwendungen und Hilfen zur Teilhabe an der Gesellschaft erfordert. Dies wird auch in einer Erklärung des Europäischen Parlaments vom 12. April 2004 zu den Rechten von Hör- und Sehbehinderten – Taubblinden- festgehalten.
Als taubblind werden Menschen bezeichnet, die eine doppelte Sinnesschädigung haben. Dabei sind die Einschränkungen von Hör- und Sehvermögen so stark, dass das Fehlen des eines Sinnes nicht durch andere kompensiert, sondern nur mit Hilfe Dritter ausgeglichen werden kann.
Treffender als mit folgendem Satz, kann es nicht beschrieben werden: Ein gehörloser Mensch sieht ein vorbeifahrendes Auto, ein blinder Mensch hört es, ein taubblinder Mensch nimmt es nicht wahr.
Die wohl bekannteste Taubblinde ist Hellen Keller. Sie hat es in einem unglaublichen Lebenskampf geschafft, die Schwelle zur akzeptierten Mitbürgerin zu überschreiten.
Vieles an ihr und ihrem Lebensweg ist faszinierend. Im Alter von 18 Monaten verliert sie ihr Hör- und Sehvermögen, jahrelang lebt sie ohne wirklichen Kontakt zur Außenwelt. Siebenjährig erlernt sie mit Hilfe einer Lehrerin und Freundin das Fingeralphabet, lernt zu sprechen, studierte, mit 20 Jahren versteht sie mehrere Sprachen, schrieb Bücher, hielt Vorträge, bereiste die Welt, setzte sich überall für die Emanzipation Unterdrückter ein und wurde zum Vorbild für Behinderte in aller Welt.
Sie wollte den selbsternannten Nichtbehinderten, ihre Welt für ihre Mitmenschen, die im „Land des Dunkel“ leben, verständnisvoller machen. Sie beschrieb in einem ihrer Werke, ihre Einschränkungen so: „Ob blind oder sehend: wir unterscheiden uns von einander nicht durch unsere Sinne, sondern durch den Gebrauch, den wir von ihnen machen, durch
die Einbildungskraft und den Mut, womit wir Weisheit jenseits unserer Sinne suchen.“
Helen Keller war in ihrer Zeit und- vielleicht ist sie es auch heute noch- eine Ausnahmeerscheinung, aber gleichzeitig ein Beispiel dafür, was möglich ist.
Auch heute noch ist Taubblindheit nicht als eigenständige Behinderung in Verwaltungsverfahren anerkannt, nach wie vor fehlen deshalb bedarfsgerechte Leistungsverzeichnisse, kommen die betroffenen Menschen nicht problemlos an mögliche Hilfen. Festzustellen bleibt: Taubblindheit ist nicht einfach die Summe von Blindheit und Gehörlosigkeit.
Gehörlose, blinde, geistig oder körperlich behinderte Menschen sind bereits in den Hilfesystemen oder per Merkzeichen durch den Staat erfasst. Die Zahl taubblinder Menschen kann in keinem Bundesland auch nur annähernd genannt werden. .
Man weiß nicht genau, wie viele es sind und wo oder wie sie leben. Man weiß nur dass es Wenige sind. Die Folge dieses Nichtwissens ist, dass viele betroffene Menschen ohne Beratung, ohne Hilfsmittel und ohne Schulungsmöglichkeiten im Umgang mit der eigenen Behinderung leben oder als Angehörige damit umgehen müssen. Ohne Hilfen – und dies haben wir hier bereits mehrmals erörtert- ist ein selbstbestimmtes Leben und Teilhabe aber nicht möglich.
Der Minister für Arbeit und Soziales, Norbert Bischoff, hat in seinem Redebeitrag zum 6. Behindertenpolitischen Forum zum Thema INKLUSION vor wenigen Tagen von der Akzeptanz der Vielfalt der Menschen gesprochen, die uns allen neue Chancen des Miteinanders eröffnen, wenn wir miteinander kommunizieren.
Aber was ist, wenn Kommunikation ohne Hilfsmittel unmöglich ist?
Bislang werden taubblinden Menschen zwei Merkzeichen zugewiesen: „GI“ für gehörlos und „BI“ für blind. Ob das tatsächlich geschieht, ist allerdings vom Grad der jeweiligen Schädigung abhängig und es kann sein, dass z. B. die Hörschädigung zwar da ist, aber für ein Merkzeichen Gl nicht ausreicht. Trotzdem kann damit die Blindheit oder Sehschädigung nicht ausgeglichen werden. Die Behinderung beider Hauptsinne führt zu einem erheblichen spezifischen Bedarf an Hilfen und ist eben nicht in der Summe von GI und BI zusammenzufassen.
Wie jede andere Behinderung benötigen Taubblinde spezifische Leistungen, keine „pauschale Anerkennung von der Stange“, sondern „Maßanzüge“ für ihre Behinderung. Das Fehlen des spezifischen Merkzeichens und daran gebundener klarer Ansprüche erschwert die ohnehin hindernisreiche Lebenssituation taubblinder Menschen.
Ein paar Beispiele zur Illustration der Probleme:
Als gehörloser Mensch erhält der Taubblinde anstandslos eine Lichtklingel - die hilft ihm aber nicht, er benötigt eine Vibrationsklingel. Ist doch einleuchtend, aber nicht Realität.
Ein taubblinder Mensch benötigt ein Lesesystem mit Braillezeile. Da ein blinder Mensch unterwegs problemlos über die Lautsprache kommunizieren kann und ein gehörloser Mensch keine optischen Hilfsmittel benötigt, ist es schwierig eine solche Braillezeile zu bekommen. Einfacher ist es, ein Lesesystem mit Sprachausgabe zu erhalten, was dem Taubblinden wiederum wenig nutzt. Hinzu kommt, dass ein taubblinder Mensch sowohl zu Hause wie auch unterwegs Kommunikationshilfe benötigt, um mit vollsinnigen Menschen in Kontakt zu treten. Neben dem stationären Lesegerät benötigt der taubblinde Mensch also auch noch ein mobiles Lesegerät oder je nach Grad der Sehbehinderung eine mobile Braillezeile.
Die Gruppe taubblinder Menschen ist klein, zugegebenermaßen sehr klein, aber dies sollte uns nicht davon abhalten, Erleichterungen für ihre konkrete Lebensqualität politisch zu organisieren.
Wir sind gemäß UN-Menschenrechtskonvention verpflichtet: „..wirksame und geeignete Maßnahmen zu treffen …, um Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzen, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende körperliche, geistige, soziale und
berufliche Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren.“
Neben dem Fehlen bzw. der schweren Zugänglichkeit zu konkreten Hilfsmitteln gibt es keinen klaren Anspruch taubblinder Menschen auf Assistenz. Ohne Assistenz ist aber weder Teilhabe an der Gesellschaft noch ein relativ selbstbestimmtes Leben möglich: Einkaufen, Arzt- oder Behördenbesuche, Teilnahme an gesellschaftlichen Ereignissen oder das einfache Überqueren einer Straße lassen sich ohne Assistenz nicht bewerkstelligen. An die Einführung eines eigenständigen Merkzeichens für Taubblinde muss deshalb auch der Anspruch auf Assistenz gekoppelt sein.
Die meisten Anträge von taubblinden Menschen auf bestimmte Hilfsmittel werden zunächst aus Unkenntnis der spezifischen Situation taubblinder Menschen abgelehnt. Hier geben viele dann bereits auf. Antragstellung und das Durchfechten der spezifischen Ansprüche sind ohne Beratung kaum zu schaffen, Beratungsstellen gibt es zu wenige, die Anreise zu den wenigen kommt erschwerend hinzu.
Für ein eigenes, spezifisches Merkzeichen spricht überdies auch die Möglichkeit, die Anzahl taubblinder Menschen somit zu erfassen und bereits zu einem frühen Zeitpunkt Beratung und Hilfe zu ermöglichen und zu organisieren, die genau dort ansetzt, wo sie gebraucht wird.
Wir wollen also, dass die Landesregierung sich auf Bundesebene dafür einsetzt, dass Taubblindheit als Behinderung eigener Art anerkannt und damit verbunden die Aufnahme des besonderen Merkzeichen „TBI“ in den Schwerbehindertenausweis ermöglicht wird.
Eine Behinderung, die nicht formal anerkannt ist, existiert für amtliche Entscheidungen meist nicht. Damit wird das strukturelle Problem für Taubblinde deutlich. Ändern wir hier nichts, wird die Diskriminierung weiter erhalten bleiben und zu neuen Fehlentscheidungen führen.
Bitte unterstützen Sie die bundesweite Initiative der Betroffenen und stimmen Sie unserem Antrag zu. Wir beantragen Direktabstimmung, weil wir meinen, dass im Rahmen der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention der Worte nun genug gewechselt sind und nun mal Taten folgen müssen. Die Bundesratsinitiative zur Einführung dieses Merkzeichens wäre eine solche Tat.