75 Jahre Grundgesetz – gleiche Lebensverhältnisse in Ost und West fokussieren
Eva von Angern, Vorsitzende der Fraktion Die Linke, betont in der heutigen Diskussion im Landtag zu 75 Jahren Grundgesetz:
„Bereits die Überschrift der Aktuellen Debatte der von der rechts außen stehenden Fraktion im hohen Haus lässt gruseln. Es klingt wie ein Abgesang, wie eine Grabrede auf das Grundgesetz, auf Grund- und Freiheitsrechte und das verwundert niemanden, der dieser Partei aufmerksam zuhört und ihre Programmatik verfolgt. Natürlich wird diese Partei das vehement bestreiten. Der Fraktionsvorsitzende möglicherweise, wie vor kurzem im Landtagsrestaurant beteuern, dass er das Grundgesetz liebe.
Ihre Egozentrik ist erschreckend. Natürlich verteidigen sie ihren Fraktionskollegen Björn Höcke, der gerade erst vom Landgericht Halle verurteil wurde. Was Sie aber in Ihrer Begründung unterschlagen, dass Gegenstand der Berichterstattung im Deutschlandfunk eine Petition von Bürgerinnen war. Sie erwähnen natürlich auch den Angriff in Mannheim auf den Rechtsextremisten Stürzenberger. Aber, den Polizisten, der beim Angriff getötet wurde, den erwähnen sie nicht. Denn dieser war vor Ort, weil er die grundgesetzlich garantierte Meinungsfreiheit auch bei einer solchen Kundgebung absichern sollte. Es ist so erbärmlich. Sie sprechen wörtlich von „Hetzjagden“ und „drohender Lynchjustiz“ gegen politisch Rechte im Land. Das ist so eine elende Verdrehung der Tatsachen. Denn richtig ist doch leider: Über 200 Menschen sind seit 1989 in Deutschland ermordet worden. Von rechtsextrem und rassistisch motivierten Täter:innen.
Die Bedrohung für Mensch und Gesellschaft kommt von rechts. Da können sie hier brüllen, so viel sie wollen. Ihre Rechtsberatung braucht hier keiner. Wir verzichten gern auf Höckes erinnerungspolitische 180-Grad-Wende. Wir verzichten gern auf die Belehrung ihres EU-Abgeordneten Krah, der denkt, es müsse die moralische Qualität von Angehörigen der SS beweisen. Genau vor diesem menschenverachtenden Unsinn sollen die Abwehrrechte in der Verfassung schützen. Genau deshalb sollen die Grundrechte die Wahrung der Würde des Einzelnen garantieren, die Gleichberechtigung und die Freiheits- und die Bürgerrechte.
Nach dem letzten Sonntag kann niemand mehr zurückweisen, dass Ost und West sich wieder mehr voneinander entfernen. Das Grundgesetz ist vielfach ergänzt, verändert und aktualisiert worden. 1993 wurde das Asylrecht radikal eingeschränkt. Es war wenige Monate nach den rassistischen Pogromen von Rostock-Lichtenhagen das verheerende Signal an rechte Gewalttäter, sie können etwas durchsetzen. Gewalt zahlt sich aus. Diese Asylrechtsänderung hat zudem eine lebensfremde Erwartung geweckt, nämlich, Flucht und Migration ließen sich über gesetzliche Änderungen abstellen. Dieser Irrtum begleitet uns bis heute und verstellt die wichtige Diskussion über Steuermöglichkeiten von Migration, globaler Konfliktvermeidung und gelingende Integration. Diese Selbstermächtigung blieb den Sozialprotesten, die im Osten ihren Schwerpunkt oder Ausgangspunkt hatten, ansonsten verwehrt. Zehntausende demonstrierten Anfang der 90er gegen die Politik der Treuhand. Die Proteste veränderten nichts. Später, im Sommer 2004 nahmen die Proteste gegen die Hartz-Reformen bekanntermaßen hier in Magdeburg ihren Anfang. Auch diese großen Demonstrationen änderten nichts.
Jede und jeder kennt die Formulierung von Helmuth Kohl, mit der er „blühende Landschaften“ im Osten versprach. Bereits die Menschen beim Hungerstreik in Bischofferode wussten, dass diese Aussage nicht zu halten ist. Weniger bekannt ist, wie vorausschauend der Bundestag auf die Zerschlagung der wirtschaftlichen und sozialen Struktur im Osten reagierte. 1994 , wenige Jahre nach der Wiedervereinigung wurde aus „Einheitlichkeit“ der Lebensverhältnisse“ dann abgeschwächt nur noch das Ziel, die „Gleichwertigkeit“ der Lebensverhältnisse zu wahren. Aus Einheitlichkeit wird Gleichwertigkeit. Der Gesetzgeber gab damals schon auf, was er in politischen Reden dennoch dreißig Jahre lang stur weiter behauptete, nämlich „einheitliche“ Lebensverhältnisse in allen Bundesländern schaffen zu wollen.
Zum 30. Jubiläum der Wiedervereinigung hatte die Linke im Bundestag ein wissenschaftliches Gutachten über die Möglichkeit einer sogenannten Ost-Quote angefordert. Die Gutachter verwiesen auf das gute alte Grundgesetz. Artikel 36 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes regelt die föderale Verteilung des Personals, etwa in Bundesbehörden. Dort steht, Beamtinnen und Beamte aus allen Ländern seien in angemessenem Verhältnis zu verwenden. Aber fragen sie mal in den Bundesbehörden und der öffentlichen Verwaltung nach 17 bis 20 Prozent ostdeutscher Beamtinnen, erst recht in Führungsfunktionen. Diese Diskussion damals hat das Fehlen von Ostdeutschen in Spitzenfunktionen endlich zu einer öffentlichen Debatte gemacht. Die Bundesregierung sucht die Ostdeutschen immer noch vergeblich. Die Landesregierung macht nicht einmal dies. Über Förderprogramme, Quoten für unterrepräsentierte Gruppen, über Stipendien oder Verwaltungserlasse hören wir weder im Bund noch im Land etwas.
Das alles beschreibt eine Lücke zwischen den Idealen des Grundgesetzes auf der einen Seite und der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf der anderen. Diese Lücken und Erfahrungen haben Bundes- und Landesregierung zu lange klein geredet. Jetzt erleben wir das Erstarken einer politischen Kraft, dass diese Lücken mit Aggressivität, Wut und Gewalt füllt. Aber vor allem will die extreme Rechte und die AfD die Ideale des Grundgesetzes verändern. Die Werte und Schutzrechte des Grundgesetzes sollen nicht mehr für alle gelten. Aber dann verliert die liberale Demokratie ihren Wesenskern. Dies zu verhindern, ist unser aller Aufgabe.“
Magdeburg, 12. Juni 2024