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Wulf Gallert zu TOP 2: Regierungserklärung des Staats- und Kulturministers Herrn Robra zum Thema "Für Sachsen-Anhalt: Europa wählen!"

Anrede

Eine Regierungserklärung unter diesem etwas indifferenten Titel seitens der Landesregierung nur wenige Wochen vor den Europawahlen lässt eine Menge Spielraum für mögliche Motive und Zielrichtungen.

Man kann sich diesem Thema deshalb von zwei Richtungen annähern. Man kann über Verwaltungsvereinbarungen zwischen dem Land Sachsen-Anhalt und Brüssel reden, man kann sich Abflusslisten von Mitteln der EU in Sachsen-Anhalt angucken und über Entschuldigungen reden, warum diese so schlecht aussehen. Und man kann über Bürokratie und Missverständnisse reden und auch darüber, dass, wenn vor Ort etwas schief läuft, grundsätzlich dieses ferne und anonyme Brüssel schuld ist, egal ob in der Agrarförderung, der Energiepolitik oder beim Dieselauto.

Man kann allerdings auch hier in Sachsen-Anhalt darüber reden, dass wir eine Verständigung über die Grundsätze der Europapolitik in dieser Phase benötigen. Wenn denn der Begriff „Schicksalswahl“ für die nun anstehende Europawahl schon fast inflationär gebraucht wird, scheint es uns angeraten, diese Diskussion grundsätzlicher anzugehen, sie aus der Sphäre technischer Abwicklung und Verwaltung zu einer Grundsatzfrage und Grundwertedebatte zu machen.

Allerdings ist auch diese Option mit Risiko behaftet und verleitet nicht selten zu Allgemeinplätzen wie: dass wir ja alle irgendwie oder zumindest die meisten für irgendein Europa sind, dass wir irgendwie weiter zusammenwachsen müssen, dann aber auch irgendwie die nationale Souveränität erhalten wollen. Auch dies wäre aus unserer Sicht fehl am Platze, weil wir dann nicht an die strukturellen Probleme der EU gelangen, deren Wirkung uns nicht nur mit dem Brexit eindrucksvoll auf den Tisch gelegt wird, sondern weil wir dann auch nicht in der Lage sind, die Erosion der EU zu verstehen und aufzuhalten.

Die eigentliche zentrale Frage, die wir uns zu stellen haben, ist die nach den Zielrichtungen und der damit verbundenen Art und Weise der Weiterentwicklung der Integration in Europa. Allerdings wird diese Frage noch immer überlagert durch die Infragestellung des Integrationsprozesses und der rückwärtsgewandten Debatte, die durch ein Nationenverständnis aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts geprägt ist. Unabhängig davon, welche Interessen sich hinter einem solchen Bild von unabhängig nebeneinander agierenden Nationalstaaten in Europa verbergen, wird eine unumstößliche Tatsache jedoch mit dieser Perspektive ignoriert. Die Länder der EU sind längst zu einem gemeinsamen Wirtschaftsraum verschmolzen, der sich durch einen völlig freien Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr auszeichnet. Nicht nur dadurch bedingt wird diese EU in ihrer Gesamtheit für immer mehr Menschen Identifikation in dem Sinne, wie es vorher die einzelnen Nationalstaaten waren. Wir werden beim Brexit gerade Zeugen, wie unmöglich es ist, ohne brachiale Konsequenzen diese Verflechtungen wieder zu lösen.

Wenn aber die EU ein gemeinsamer Wirtschaftsraum ist, so besteht auf der politischen Seite ein eklatanter Nachholbedarf. Denn die gemeinsame politische Willensbildung, die dringend notwendig ist, um wirtschaftliche Interessen und ökonomische Entwicklungen zu kontrollieren und in eine der Gesamtgesellschaft entsprechende Richtung zu lenken, ist bisher nur in Ansätzen ausgeprägt.  Eine der zentralen Schwächen dieser EU ist, dass in einem gemeinsamen Wirtschafts-, im Teil sogar Währungsraum die einzelnen Mitgliedsstaaten noch immer wie konkurrierende Interessensvertreter agieren und mit dem Blick auf den vermeintlich kleinen Vorteil gemeinsame Chancen zerstören und die Konflikte zwischen Nationalstaaten und Regionen wieder zuspitzen.

Dieser zentrale Konflikt ist von einer Reihe von Politikern erkannt worden. Diesen aufzulösen hat sich zum Beispiel der französische Staatspräsident mit seinen wiederholt vorgelegten Vorschlägen vorgenommen. Die deutschen Reaktionen darauf waren bisher eine Mischung von Ignoranz, Arroganz und saarländischer Provinzialität. Und es überrascht überhaupt nicht, dass vor allem die konservative Seite lediglich ein mehr an gemeinsamer Flüchtlingsabwehr, militärischer Interventionsfähigkeit  und die Lockerung für Rüstungsexporte als positives Signal dem Papier von Macron entnehmen.

Damit kommen wir allerdings zur eigentlichen Frage der europapolitischen Debatte, nämlich nicht, ob wir eine vertiefende europäische Integration brauchen, sondern in welche Richtung diese gehen soll.

Lassen Sie mich dazu die gerade aktuelle Diskussion um die Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien anführen, einem Land, das im Jemen seit vielen Jahren einen brutalen Krieg gegen die Zivilbevölkerung führt und dazu neue Waffen benötigt. Um eben solche Rüstungsexporte geht es. Und man muss wirklich kein Fachmann oder Fachfrau für Außenpolitik sein, um die moralische Schändlichkeit solcher Waffenexporte zu erkennen und zu verurteilen. Die gleichen Leute, für die fast jeder Kriegsflüchtling nur eine verfehlte  Abschiebung darstellt, bewerten solche Rüstungsexporte völlig anders. Kritik an solchen Waffenexporten ist für die Bundeskanzlerin moralisieren. Andere beharren darauf, dass die Beteiligung an solchen Waffenexporten notwendig für den Technologiestandort Deutschland wäre. Und die Nächsten, und da wird es dann richtig perfide, beharren darauf, dass eine Verweigerung von Waffenexporten nach Saudi-Arabien durch Deutschland bei Gemeinschaftsprojekten ein Schlag gegen die europäische Integration wäre. Also, wer für die europäische Integration ist, muss deutsche Exportbeschränkungen über Bord werden und freudig Kampfflugzeuge nach Saudi-Arabien schicken, die dann im Jemen ihr Vernichtungswerk weiter tun können. Schließlich wollen die anderen europäischen Partner das ja auch so.

Vor einigen Jahren hätte man eine solche Argumentation noch ins Reich des politischen Kabaretts verortet. Heute ist sie Stand der politischen Debatten in konservativen Kreisen. Das, werte Kolleginnen und Kollegen, ist es, was die Debatte um ein gemeinsames Europa so vergiftet. Was interessiert uns noch die europäische Grundrechtecharta, wenn es um den Profit von Waffenexporten geht. Die Amerikaner und Russen machen es schließlich auch. Und wer das trotzdem nicht will, ist ein Gegner der europäischen Integration.

Nein, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir kämpfen für eine europäische Integration, aber wir kämpfen für eine EU des Friedens, der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit und des radikalen Ausstiegs aus Rüstungsexporten. Und genau das ist die Grundfrage in der internationalen Sicherheitspolitik. Und jede politische Kraft muss für sich beantworten, in welche Richtung sie die EU entwickelt. Unsere Position habe ich, glaube ich, dazu klargemacht.

Lassen Sie mich auf einen anderen Konflikt hinweisen, der die Richtung der europäischen Integration hinterfragt. Die Welt wird zurzeit Zeuge der bisher größten bekannten Naturkatastrophe im südöstlichen Afrika. Der Wirbelsturm Idai hat in Mosambik Tausende von Quadratkilometern unbewohnbar gemacht. Die 500.000 Einwohnerstadt Beira ist dem Erdboden gleichgemacht. Wir beobachten nicht nur in dieser Region im Zuge der Erderwärmung aufgrund der steigenden CO2-Konzentration in der Atmosphäre weltweit eine Zunahme solcher Katastrophen. Allerdings trifft es auch hier wieder diejenigen, die dafür die Ursache nicht gelegt haben. Im Länderranking der CO2-Produktion pro Kopf liegt Mosambik an Stelle 117. Die großen Verursacher sind die USA, China und Europa. Für einen realen Eingriff in die Klimaentwicklung bzw. der Verhinderung der weiteren Erderwärmung benötigen wir eine handlungsfähige EU. Und in diesem Zusammenhang gibt es durchaus vernünftige Ansätze. Das berühmte Stark III-Programm, mit dem Bund und Land eine Vielzahl von Schulen saniert haben, ist von seiner grundsätzlichen Anlage  lediglich ein Programm zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes. Übrigens ein Programm, das es nach der Auffassung der AfD ja überhaupt nicht geben sollte. Allerdings gilt auch festzuhalten, dass die Entwicklung der Herstellung und des Einsatzes von erneuerbaren Energien innerhalb der EU kein Konsens, sondern ein hart umkämpftes Spielfeld ist. Solange es die deutsche Bundeskanzlerin faktisch im Alleingang schafft, auf der europäischen Ebene einen Freibrief beim CO2-Ausstoß für die automobile Oberklasse durchzusetzen, läuft auf der Ebene der EU etwas falsch. Insofern sind die freitäglichen Demonstrationen von jungen Menschen, die im wahrsten Sinne um ihre Zukunft kämpfen, ein ganz wertvoller Beitrag zur Frage, in welche Richtung sich die europäische Integration entwickeln muss.

Lassen Sie mich bitte noch einmal zurückkommen auf die Vorschläge des französischen Staatspräsidenten, die aus unserer Perspektive durchaus auch positive Anregungen beinhalten. Macron beschreibt die EU in Ansätzen als ein Raum der sozialen Verantwortung gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern. Man mag vor dem Hintergrund dessen, dass er in Frankreich zurzeit genau das Gegenteil tut, an der Ernsthaftigkeit zweifeln. Aber unabhängig davon, lohnt es sich, mit dieser Forderung produktiv umzugehen. Es ist und bleibt unter dem Strich verdammt einfach. In einem Wirtschaftsraum, in dem es die Freizügigkeit von Waren, Kapital, Dienstleitungen und Menschen gibt, benötigen wir dringend soziale Standards und die gemeinsame Durchsetzung von Arbeitnehmerinteressen. Ansonsten bleibt die EU  ein Raum, in dem der Standortwettbewerb durch Sozialdumping entschieden wird. Gerade aber dieses Problem, das bei den Menschen am schnellsten ankommt, ist das Feld, auf dem die EU bisher strukturell versagt. Und das, werte Kolleginnen und Kollegen, ist die zentrale Ursache für das Anwachsen des Nationalismus und rassistischer Ressentiments in den Mitgliedsstaaten der EU. Letztlich wird sich in diesem Feld das Schicksal der europäischen Integration entscheiden. Entweder wird die EU sich zu einem Sozialstaat entwickeln, oder sie wird an der nationalen Standortkonkurrenz zerfallen. Gleichzeitig wird es den Sozialstaat in Zukunft nur europäisch oder gar nicht mehr geben, weil Insellösungen innerhalb der EU auf die Dauer keinen Bestand haben können. Übrigens sagen nicht wenige Ökonomen, dass der jetzige Abbau des Sozialstaates unter Macron in Frankreich und die daraus resultierenden Proteste der Gelbwesten ganz maßgeblich durch die Umsetzung der Agenda 2010 in Deutschland verursacht ist, weil Deutschland damit die Standortkonkurrenz innerhalb der EU massiv befeuert hat. Wenn aber die überwiegende Mehrheit den europäischen Integrationsprozess als Abbau von sozialen Sicherheiten wahrnehmen und als damit einhergehende Umverteilung von unten nach oben, wird man die Erosion der EU nicht aufhalten können.

Wir fordern einen anderen Weg. Wir fordern den Ausbau der EU zum Sozialstaat.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden demnächst auch wieder Zeit haben, uns über die Perspektive von Strukturfonds, der Erstellung von operationellen Programmen und Abflusslisten zu unterhalten. Jetzt allerdings geht es um die grundsätzliche Perspektive unseres Europas. Welche dies aus unserer Sicht sein sollte, dürfte für den Fall, dass Sie mir zugehört haben, klar geworden sein.