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TOP 01 b): Sonderpädagogische Förderung in Sachsen-Anhalt

Es geht einmal mehr um den neuralgischsten Punkt im deutschen Bildungssystem, um den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen. Genau genommen geht es um die Frage der Bildungschancen für Schülerinnen und Schüler mit so genannten Behinderungen oder vermeintlichen Behinderungen, denn das markiert die dramatischste Stelle dieser Frage nach Bildungschancengleichheit.

Die Große Anfrage war dazu gedacht, zunächst den Stand der Dinge zu klären. Wo liegen die Probleme? Sie lassen sich in drei Befunden zusammenfassen:

Erstens. Wir haben in Sachsen-Anhalt einen stetig, aber langsam wachsenden Anteil von Schülern, bei denen ein so genannter sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert wird.

Zweitens: Der überwiegende Teil davon sind im wahrsten Sinne des Wortes sozial behinderte Schülerinnen und Schüler, die eben nicht im klassischen Sinne, also durch eine organische Schädigung ‑ wenn man eine solche klassische Vorstellung von Behinderung hat ‑ beeinträchtigt sind. Das sind Kinder, die durch das soziale und das familiäre Umfeld völlig unzureichend gefördert worden sind, und es sind Kinder, die auch durch die institutionalisierten Bildungsangebote, sprich Kindertagesstätte und Schule, nicht so gefördert wurden, dass diese Benachteiligungen kompensiert werden konnten.

Drittens: Es sind überwiegend Jungen. 60 % der Lernbehinderten sind Jungen. Fast 63 % der geistig Behinderten sind Jungen, und fast 75 % der Schüler der sonstigen Förderschulen sind Jungen. Das allein wäre eine Extradebatte wert.

Wir haben deshalb gefragt: Wie geht Schule mit dem wachsenden Bedarf an sonderpädagogischer Förderung um? Welche Bildungschancen haben Schüler mit solchen Lernproblemen und Behinderungen?

Das zentrale Problem lautet: Die allgemeine Schule pflegt eine Philosophie des Abgebens - so im Übrigen auch das Kultusministerium in der Antwort auf die Große Anfrage.

Das ist in einem gegliederten Schulsystem auch legitim, denn es ist gerade dazu gedacht. Es ist vielerorts das alte Verständnis von Schulpädagogik, das einfach nicht mit Heterogenität und Vielfalt umgehen kann und will, um Schule produktiv zu gestalten. Es ist das alte Verständnis von Schulpädagogik, das davon ausgeht, es bedürfe einer stark normierten Schülerschaft, um Schülerinnen und Schüler optimal fördern zu können.

Nach wie vor erhalten nur 5,5 % der SchülerInnen mit so genannten Behinderungen die Chance, gemeinsam mit ihren Altersgefährtinnen und -gefährten an der so genannten Regelschule weiterzulernen und sich dort mit ihnen zu messen, von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern Anregungen zu bekommen, voneinander, miteinander zu lernen. Sachsen-Anhalt liegt damit bundesweit auf dem letzten Platz, und zwar mit großem Abstand. Dabei befindet sich das Land Sachsen-Anhalt schon auf der Erfolgsspur, wie die Zahlen belegen: Die Quote lag vor einigen Jahren noch bei 1 bis 2 %.

Das zentrale Problem besteht also nicht nur darin, dass für den weitaus größten Teil der Schülerinnen und Schüler, denen sonderpädagogischer Förderbedarf bescheinigt wird, zusätzliche Ressourcen erforderlich sind. Damit ist der Umstand verbunden, ein global herabgestuftes Bildungsangebot zugewiesen zu bekommen. Sie werden damit auf ein Bildungsgleis gesetzt, von dem sie nicht ohne Weiteres herunterkommen. Das ist keine Unterstellung, sondern Tatsache. Zur Frage der Durchlässigkeit komme ich später.

In dieser Philosophie des Abgebens und des Normierens müssen sich Lehrkräfte jedoch legitimiert fühlen. Wir haben die Landesregierung nach ihrem Verständnis von Behinderung gefragt und nach ihrem Verständnis von sonderpädagogischem Förderbedarf. Die Landesregierung antwortet darauf: Wenn die Kinder deutlich länger Zeit brauchen, wenn sie weniger behalten und kaum in der Lage sind, Wissen anzuwenden, und wenn sie nicht in der Lage sind, im gleichen Schrittmaß mit Gleichaltrigen zu lernen.

Ich nahm nach den intensiven Debatten eigentlich an, dass die Zeiten, in denen die Bildungsadministration in solchen Kategorien des Gleichmaßes, des Gleichschrittes dachte, vorüber seien.

Einmal abgesehen davon zeigt es, wie relativ die Anschauung ist, wer als behindert und wer nicht als behindert gilt. Das ist nämlich abhängig von der Toleranzschwelle von LehrerInnen, von Schule, von sozialer Umgebung. Es ist abhängig von methodischer und didaktischer Kompetenz, also davon, wie es Lehrerinnern und Lehrer schaffen, mit Vielfalt umzugehen. Es ist abhängig von den organisatorischen Rahmenbedingungen, und es ist letztlich von der pädagogischen Grundhaltung von Lehrkräften abhängig - ob sie Kinder mit erheblichen Lernproblemen unterrichten wollen oder eben nicht.

Selbstverständlich sind Lernschwierigkeiten keine Pappkameraden. Aber Behinderung ist auch keine feststehende Diagnose, ein statisches Merkmal, das man wie einen Zettel an einem Kind vorfindet nach dem Motto: „Einmal behindert, immer behindert“. Es gibt auch nicht ein ohne Weiteres messbares Merkmal, wo eine Behinderung anfängt und wo sie aufhört. Bei der Diagnose „Behinderung“ gibt es einen großen Ermessensspielraum derjenigen, die sie feststellen oder auch nicht. Das ist in etwa wie bei Schullaufbahnempfehlungen am Ende der 4. Klasse, allerdings, mit sehr viel weitreichenderen und dramatischeren Folgen.

Die schulischen Diagnosen „Lernbehinderung“ und „geistige Behinderung“ sind deshalb so hochproblematisch, weil dafür nicht nur zusätzliche Ressourcen aufgewendet werden müssen, sondern damit in vielen Fällen verbunden ist, ein global herabgestuftes Bildungsangebot zugewiesen zu bekommen. Auf einen Satz gebracht: Auf diese Weise mündet soziale und materielle Armut in Bildungsarmut und umgekehrt.

Das ist ein Zirkelschluss, den wir durchbrechen müssen.

Was konnten die Förderzentren erreichen, die es seit dem Schuljahr 2004/2005 gibt, um diesen Trend des Abgebens zu stoppen? Ich will mit der Habenseite anfangen.

Die Arbeit der Förderzentren hat ohne Zweifel einen positiven Effekt hinsichtlich der schulischen Integration gehabt.

Erstens gibt es mehr Schülerinnen und Schüler, die weiterhin gemeinsam mit ihren Altersgefährten an der Regelschule lernen dürfen. Erfreulicherweise ist auch bei den Neuanmeldungen der letzten Jahre der Anteil des gemeinsamen Unterrichts deutlich gestiegen.

Zweitens hat der steigende Anteil an gemeinsamem Unterricht auch einen nicht zu unterschätzenden Einfluss darauf, dass sich Lernkultur und Lernklima an der so genannten Regelschule verändern. Allein die Anwesenheit von SchülerInnen mit Lernschwierigkeiten unterschiedlicher Art ist eine Herausforderung an die Klasse und an didaktisch-methodisches Können. Ich denke, das ruft nach einer Veränderung des eigenen Handelns. Ich habe vielerorts bei Gesprächen in den Förderzentren auch erfahren, dass allein die Anwesenheit und die Teamarbeit zwischen Sonderpädagogen und allgemeinen Schulpädagogen zu einer kritische Reflexion über das führt, was Lehrkräfte an der Regelschule leisten können und wie man mit heterogenen Leistungsgruppen umgehen kann.

Drittens arbeiten Förderzentren in allen Landkreisen mit Ausnahme des Landkreises Jerichower Land. Wir haben damit also nahezu flächendeckend Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner.

Viertens ist positiv hervorzuheben, dass die Landesregierung in steigendem Maße Ressourcen zur Verfügung stellt, um den gemeinsamen Unterricht zu begleiten.

Wo liegen nun die großen Probleme? Mit einem Satz gesagt: Das große Problem ist die extrem geringe Dimension, von der wir an dieser Stelle sprechen.

Wir sprechen von einem Anteil von 5 % der Schülerinnen und Schüler, die mittlerweile an der Regelschule weiterlernen können, weil sich dort etwas verändert hat. Wir sprechen von einer Steigerungsrate von etwa einem Prozentpunkt pro Jahr. Jeder kann sich ausrechnen, wann wir bei einer integrativen Schule angekommen sein werden.

Der Anteil der allgemeinen Schulen, der so genannten Regelschulen, die an der erfolgreichen Umsetzung des Projekts schulische Integration beteiligt sind, ist ausgesprochen gering. Wenn man sich einmal die Schulen ansieht, die in die Arbeit von Förderzentren eingebunden sind, dann stellt man fest, dass dieser Anteil durchschnittlich nur 16 % beträgt. Das ist viel zu wenig, um einen Paradigmenwechsel herbeiführen zu können.

Wenn man sich den Anteil der allgemeinen Schulen ansieht, die meinetwegen auch außerhalb des Förderzentrums gemeinsamen Unterricht anbieten, also sozusagen auf eigene Rechnung, dann stellt man fest, dass dieser Anteil bei den Grundschulen 43 % ‑ das ist eine akzeptable Größe ‑ und bei den Sekundarschulen 26 % beträgt.

In einer Pressemitteilung im Sommer hat der Minister gesagt, 45 % der Schulen seien am gemeinsamen Unterricht beteiligt. Damals habe ich gedacht, das ist durchaus eine erfolgreiche Hausnummer, und in meinem Obrigkeitsglauben habe ich gedacht, er wird schon Recht haben. So steht es auch in der Antwort auf die Große Anfrage: 2006/2007 40 %. Das ist durchaus ein akzeptabler Anteil.

Wir haben Sie unbeabsichtigt zweimal das Gleiche gefragt. Auch Kollegin Fiedler hat in einer Kleinen Anfrage nach den beteiligten Schulformen gefragt. Die Frage war gleich, nur die Antwort war unterschiedlich. Bei Kollegin Fiedler waren es im Jahr 2006/2007 48 Sekundarschulen und in der Antwort auf die Große Anfrage waren es im gleichen Jahr schon 70 Schulen. Es sind also 22 dazugekommen, wo auch immer diese herkamen. Immerhin sorgt dieser kleine Unterschied dafür, dass der prozentuale Anteil auf das Doppelte wächst. Vielleicht lag es auch daran, dass das eine Kleine Anfrage und das andere eine Große Anfrage war.

Alles in allem lässt sich Folgendes feststellen: Partner für schulische Integration sind vor allem die Grundschulen. Das kann eine Kritikerin des gegliederten Schulsystems, wie ich eine bin, nicht weiter verwundern.

Die schulische Integration ‑ das ist ein Problem ‑ reduziert sich allerdings gerade im Bereich der Sekundarschule sehr oft auf den organisatorischen Einzelfall statt auf den pädagogischen Paradigmenwechsel.

Zu einem letzten Problem, zur Frage der Durchlässigkeit zwischen den Bildungsgängen. Das Kriterium der Durchlässigkeit ist immerhin eine der zentralen Legitimationen des gegliederten Bildungssystems. Ich will Folgendes in Erinnerung rufen: Der Bildungsgang der Schule für Lernbehinderte ‑ das betrifft den Löwenanteil der Schülerinnen und Schüler ‑ ist verbunden mit diesen global herabgestuften Lern- und Lehrplänen, und zwar in Umfang, in Tiefe und in Komplexität.

Wir haben die Landesregierung nach der Durchlässigkeit gefragt. Sie antwortete: „In den Schuljahrgängen 3 und 4 der Förderschule für Lernbehinderte werden in den Fächern Deutsch und Mathematik Inhalte behandelt, die mit denen vergleichbar sind, die in der Grundschule am Ende der Klasse 3 behandelt werden. Deshalb ist für Schülerinnen und Schüler, deren sonderpädagogischer Förderbedarf aufgehoben wird, der Besuch des 4. Schuljahrganges der Grundschule möglich.“

Wie soll jemand, der an der Lernbehindertenschule, in der beispielsweise die Malfolgen erst in der Klasse 4 behandelt werden, in einen Bildungsgang wechseln, in dem dieses Thema bereits am Ende der 3. Klasse behandelt wurde?

Es geht nur durch Überholen ohne Einzuholen ‑ das war schon einmal nicht unbedingt von Erfolg gekrönt ‑, und das von jemandem, dem erhebliche Lernprobleme bescheinigt werden.

Wie sehen die realen Zahlen aus? Voraussetzung für den Wechsel in den höheren Bildungsgang ist die Aufhebung des sonderpädagogischen Förderbedarfs. Wir haben die Landesregierung deshalb gefragt, wie viel mal dieser sonderpädagogische Förderbedarf aufgehoben worden ist. Die Antwort der Landesregierung lautete: Darüber liegen der Landesregierung keine statistischen Angaben vor.

Ich finde das einen sehr merkwürdigen Vorgang. Über das zentrale Kriterium des Erfolgs ‑ das ist der Auftrag der Förderschulen, schulische Reintegration zu fördern ‑ wird keine Statistik geführt. Ich muss hierzu fragen: Woher nehmen Sie dann die Überzeugung, dass die Bildungsgänge untereinander kompatibel und durchlässig wären?

Sie sind weder kompatibel noch durchlässig. Ganze 30 Schülerinnen konnten im vergangenen Schuljahr den Bildungsgang wechseln; das ist ein Anteil von 0 %. An dieser Stelle muss man die Frage nach der Integrationsleistung der Förderschulen schon einmal stellen dürfen.

Das alles führt zu der Frage, ob das Konzept der Förderschulen bzw. das bisherige Handlungskonzept ausreicht, um in wirklich ernst zu nehmendem Maße nach vorn zu kommen. Die Landesregierung sagt nein. Deshalb wird auch an einem neuen Konzept gearbeitet, das man bereits in Bruchstücken erkennen kann.

Notwendig wird es sein, alle Regelschulen in die Kooperationsnetzwerke für schulische Integration einzubinden. Der gemeinsame Unterricht für Schülerinnen und Schüler mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf muss zum Regelfall werden.

Der Ausschluss von diesem gemeinsamen Unterricht bedarf der besonderen Begründung. Das ist ein Stück weit die Umkehr der Beweislast. Wir müssen auch Fehlanreize beseitigen.

Das Budget für den gemeinsamen Unterricht muss für die Lehrkräfte vor Ort flexibler handhabbar sein. Wenn in einer Klasse Schülerinnen und Schülern nach unterschiedlichen Rahmenrichtlinien und zieldifferent unterrichtet werden müssen und dafür nur anderthalb Stunden sonderpädagogische Begleitung vorgesehen sind, dann ist das bei Weitem nicht angemessen.

Es bedarf eines Paradigmenwechsels in unseren Schulen. Der Umgang mit heterogenen Leistungs- und Lerngruppen wird hierzu der Schlüssel sein, und zwar über die derzeit gegliederte Schulform hinaus: Lernen durch partnerschaftliches Lernen, Lernen durch gegenseitiges Erklären, szenisches Lernen usw. usf.

Der Möglichkeiten und der methodischen Konzepte gibt es viele. Man muss es nur wollen.