Nicole Anger zu TOP 5: Betroffene nicht allein lassen – Long-COVID und Post- COVID-Informations- und Behandlungsangebote im Land schaffen!
Sehr geehrte Damen und Herren,
stellen Sie sich vor, die Straßenbahn fährt an der Haltestelle ein und es trennt Sie nur ein paar schnellere Schritte, doch Sie müssen resignierend stehen bleiben, schaffen es nicht, schnell hinzulaufen, die Bahn fährt ab. Ihnen bleibt die Luft weg. Der kürzeste Weg fühlt sich an wie ein Marathon. Man kann sich kaum auf den Beinen halten, denn alles um einen herum dreht sich. Der Weg zurück nach Hause - ein fast unmöglicher Kraftakt.
Oder: Mal eben zu Hause nach dem Staubsauger greifen und schnell durchsaugen oder die Spülmaschine ausräumen - nahezu unmöglich. Danach braucht es mindestens zwei Stunden Erholung. Dann doch besser das neue Buch lesen. Aber irgendwie kommen die Wörter nicht richtig im Kopf an, und nach kurzer Zeit setzt auch bei dieser vermeintlich ruhigen Tätigkeit die Erschöpfung ein. Dazu kommen noch Ausfallmomente im Alltag - man bewegt sich im Alltag, als würde das Gehirn komplett unklar sein, fast schon wie Nebel, beschreiben es die Betroffenen von Post-Covid…
Sehr geehrte Damen und Herren,
das sind nur wenige Situationen von vielen zahlreichen, die Betroffene infolge einer Infektion mit COVID-19 unter Long-COVID oder auch Post-COVID leiden. Die sie jeden Tag erleben müssen. Alltägliche Dinge, die für die Betroffenen eine riesige Hürde darstellen.
Stellen Sie sich vor, Sie leiden unter dauerhaften Erschöpfungszuständen, Kraftlosigkeit, fehlender Konzentration. Jede noch so leichte Tätigkeit wird zu einer Herausforderung. Aber auch Erkrankungen an Herz und Lunge sind Folge der Coronainfektion. Ich habe mit Betroffenen gesprochen. Sie alle haben mir dies so oder ähnlich geschildert. Sie alle schafften auch Gespräche nur mit viel Anstrengung und auch nur gut für etwa eine halbe Stunde. Ich bin sehr dankbar für diese Gespräche, die Ehrlichkeit, die mir die Menschen entgegenbrachten. Sie alle fühlen sich aber weitestgehend allein gelassen. Sie vermissen eine echte Unterstützung, ihnen fehlen eindeutige Informationen für Ansprechpartner:innen zu Long- und Post-Covid im Land.
Und jetzt stellen Sie sich vor, sie sind kraftlos, können sich maximal eine halbe Stunde konzentrieren und dann sollen Sie sich allein auf die Suche nach Informationen, auf die Suche nach Hilfe und Unterstützung machen? In der Situation der Erschöpfung, die nicht nachlässt, sollen sie selbst rausfinden, wie Sie gegen diese Symptome ankämpfen können, wer ihnen dabei hilft. Vor der Erkrankung mit Covid waren die Suche nach Ansprechpartner:innen, die Kontaktaufnahme, Anträge auszufüllen unproblematisch - heute ist das aber eine Mammutaufgabe, die ohne Hilfe und Unterstützung kaum zu leisten ist. Und das Schlimmste: Sie finden nicht einmal Informationen in Sachsen-Anhalt, an wen Sie sich wirklich wenden können, wer Ihnen hilft.
Sehr geehrte Damen und Herren,
und lassen Sie mich an dieser Stelle betonen: Long- und Post-Covid ist nichts, was nur Menschen mit schweren Verläufen bekommen können. Auch bei milden Verläufen, auch symptomfreie Corona-Infektionen, Menschen jeden Alters, mit und ohne Vorerkrankungen. Und etwa 1% der Kinder sind betroffen. Dann, wenn die ursprüngliche Infektion vorbei ist, wenn man meinen könnte, genesen zu sein, dann scheint das Virus erst zum großen Schlag auszuholen: Long- und Post-Covid. Von Long-Covid spricht man bei Symptomen über 28 Tage hinaus bis zu 12 Wochen nach der Infektion, Post-Covid alles darüber hinaus.
Und ja, es gibt Fälle, die leiden seit mehr als 1,5 Jahren an diesen Folgen. Und diese Menschen leiden unter diesen Symptomen, sie leiden unter Erschöpfung, aber auch darunter, dass sie sich allein und alleingelassen fühlen. Und sie leiden zusätzlich, dass sie keine Informationen finden, von Ärztin zu Arzt laufen müssen, keine schnellen Rehamaßnahmen erhalten, die spezialisiert sind. Auch Selbsthilfegruppen gehören dazu – ein Ort, wo Betroffene gegenseitig ihre Erfahrungen austauschen können und so einander wichtige Stütze sind. Denn sie wissen, sie sind nicht allein. Und ganz wichtig: Alle Betroffenen wollen mit ihren Symptomen wie Müdigkeit und Erschöpfung ernst genommen werden.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Expert:innen reden hier von dem sogenannten Chronischen Fatigue Syndrom, abgekürzt auch ME/CFS. Dieses ist noch relativ unbekannt, weil dazu auch erst seit wenigen Jahren international geforscht wird. Wir haben deutschlandweit eine einzige Spezialambulanz dafür: die Charité in Berlin. Jetzt können Sie meinen, ist ja nicht weit weg. Vorsicht: Dort können nur Patient:innen aus Berlin und Brandenburg vorstellig werden. Behandelt werden diese dort aber nicht. Alle anderen Erkrankten sind auf sich allein gestellt. Es hängt quasi vom Zufall ab, ob der oder die behandelnde Ärzt:in sich mit dem Krankheitsbild auskennt. Genau dieses Problem haben an Covid-19 erkrankte Menschen, die chronische Spätfolgen erleiden. Das kann dazu führen, dass sie entweder gar nicht oder falsch behandelt werden, mit möglicherweise noch schwerwiegenderen Folgen. Bei vielen Mediziner:innen ist aber auch über die vergangenen Zeit ein Bewusstsein für die Langzeitfolgen von Covid-19 entstanden. Das hilft aber nur dann, wenn eben auch die Behandlungen spezifisch erfolgen können. Den Aussagen der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin zufolge, wird der Anteil derer, bei denen solche Situationen im Alltag präsent sind, auf ca. 10-15% der Infizierten geschätzt. Für Sachsen-Anhalt heißt das: etwa 35.000-53.000 aktuell betroffene Personen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
sollten Sie jetzt proklamieren wollen, dass bisher keine Langzeitstudien und repräsentative, valide Studienergebnisse vorliegen, möchte ich Sie nur darauf hinweisen - diesen Wert sollten wir als Politik sehr ernst nehmen. Er wird bereits jetzt von vielen Expert:innen benannt. Wir reden hier über eine nicht unerhebliche Anzahl an Menschen. Ich begründe Ihnen jetzt auch einmal gern, weshalb das so dringend notwendig ist:
Das deutsche Pandemiemanagement - sowohl im Bund als auch im Land - ist geprägt von einem Dauerzustand des Reagierens. Entscheidungen kommen oft zu spät und werden den Menschen generell zu wenig erklärt. Sie werden festgelegt. Fehlkommunikation á la Card. Doch was wir jetzt an dieser Stelle machen müssen, um Vertrauen in der Bevölkerung wieder zurückzugewinnen, liegt auf der Hand: Wir brauchen eine klar ersichtliche Strategie. Eine Strategie, die langfristig ansetzt und insbesondere eben auch klärt, wie wir mit Folgeproblematiken von COVID-19 umgehen werden. Es braucht jetzt eine klare Kommunikation zu Long- und Post-Covid. Wir haben schon viele Betroffene und leide rist davon auszugehen, dass deren Anzahl noch steigen wird.
Genau das ist auch das Anliegen, das meine Fraktion und ich mit diesem Antrag verfolgen. Wir zeigen zum einen dringend benötigte Initiativen zum Handeln beim Themenfeld “Long- und Post-COVID” auf und zum anderen wollen wir Betroffenen klare Unterstützungsangebote ermöglichen, die für sie so wichtig sind. Und dies tun wir vor allem Basis der Gespräche, die ich mit Betroffenen geführt habe. Unser Antrag beinhaltet ihre Wünsche, ihre Bedarfe und ihre Forderungen, die unerlässlich sind, um den von Post-Covid-Betroffenen Unterstützung zu bieten.
Ganz konkret benenne ich das an dieser Stelle schon einmal: Wir brauchen in diesem Land ein konkretes Angebot für Kur- und Rehamaßnahmen! Und zwar eines, auf welches man nicht 6 Monate und mehr warten muss, wie es aktuell der Fall ist. Es ist doch klar, je länger man krank ist, desto mehr chronifiziert es sich. Und dem muss vorzeitig entgegengewirkt werden. Aber nicht nur das. Es geht hier auch darum, die Sensibilität bei den Mediziner:innen für diese Erkrankungen zu erhöhen und ihnen bei den Behandlungen bestmöglich zur Seite zu stehen, es geht um das Schaffen bestmöglicher Rahmenbedingung für alle.
Das größte Problem bei diesem Sachverhalt ist, dass Long- und Post-COVID nach wie vor Ausschlussdiagnosen sind. Das heißt im Klartext, dass diese Erkrankung den Betroffenen erst nach Ausschluss aller übrigen Optionen attestiert werden kann. Dahinter stehen viele, teils anstrengende Untersuchungen. Aber vor allem sind sie dem Umstand geschuldet, dass es kein eindeutiges Diagnoseverfahren gibt. Das ist für Alle im Übrigen schlecht: In erster Linie für die Betroffenen, aber mindestens genauso für ratlose Mediziner:innen, die vor der Frage stehen: Was machen wir jetzt?
Sehr geehrte Damen und Herren,
und ich sage Ihnen noch etwas: Die vielen Betroffenen von Post-Covid - sie alle wollen nur eines: In ihr altes Leben zurück! Sie wollen ihren Alltag zurück, sie wollen mit ihren Kindern auf dem Spielplatz klettern, sie wollen spazieren gehen - außer montags - Sport machen, hinter der Bahn herlaufen, sie wollen wieder Arbeiten. Stattdessen aber haben sie ein Frustrationserlebnis nach dem anderen. Leistungsabfall, Arbeitsunfähigkeit, psychische Probleme bis hin zur Depression und Angsterkrankungen.
Besonders wichtig war meiner Fraktion und mir deshalb gerade auch die ergänzende unabhängige Teihabeberatung - kurz EUTB - in diesem Antrag mitzudenken. Sie sind nämlich oftmals die erste Anlaufstelle für die Betroffenen, wenn es um Hilfsangebote geht. Und Sie leisten wertvolles. Doch auch diese Stellen können dies nur bedingt leisten. Deswegen sollte es vordringliche Aufgabe des Landes sein, bei eben diesen Beratungsstrukturen aufzuwerten und auszubauen, eben weil mit Long- und Post-COVID ein neues Themenfeld hinzugekommen ist, zu dem Bedarfe vorhanden sind, die nur schwer mit den gegenwärtigen Strukturen abgedeckt werden können.
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Realität ist, dass Sachsen-Anhalt extrem schlecht auf die Endemie, die nach der Pandemie kommt, vorbereitet ist. Die Bereitschaft, das anzugehen, fehlt in meinen Augen! An Long- oder Post-COVID Leidende brauchen bei der Behandlung dringende Unterstützung. Wir brauchen spezialisierte Post-COVID-Ambulanzen im Land – das Klinikum Bergmannstost in Halle wird es allein nicht schaffen, die Bedarfe abzudecken, und auch zeitnahe Behandlungen für alle anzubieten. Der Weg über die Unfallkasse oder die Berufsgenossenschaft trägt nicht dazu bei, dass schnell Klarheit für die Betroffenen hergestellt wird. Denn je länger die Menschen nicht entsprechend dem Bedarf therapiert werden, desto geringer ihr Behandlungserfolg - die Gefahr des Ausbildens chronischer Erkrankungen steigt erheblich. Schauen Sie sich doch die Zahlen an potenziell Erkrankten an, die da auf uns zukommen könnten - und deren soziodemographische Zusammensetzung. Frauen sind häufiger von Long-COVID betroffen als Männer. Zwar spielt steigendes Alter eine Rolle, doch ist dies dann obsolet, wenn Patient:innen während ihrer COVID-19 Infektion intensivmedizinisch behandelt werden mussten. Dies gilt im Übrigen ganz besonders bei Kindern und Jugendlichen. Bringen wir jetzt noch das potenzielle Entstehen von ME/CFS mit ins Spiel, dann skizziert sich ein noch düsteres Bild: Ergebnisse einer Studie aus Wuhan deuten darauf hin, dass ca. 10-20% infolge einer COVID-19 Infektion diese zuvor benannten Krankheitsbilder entwickeln. Die Leiterin der Immundefektambulanz der Charité Carmen Scheibenbogen geht davon aus, dass 1% der Betroffenen ein Vollbild von ME/CFS entwickeln - das würde allein in Sachsen-Anhalt knapp 4.000 Menschen betreffen, für die wohlgemerkt KEIN spezielles Behandlungsangebot existiert, die faktisch allein gelassen werden.
Sehr geehrte Damen und Herren,
und ich sage ihnen ganz ehrlich: Lehnen sie diesen Antrag heute ab, dann sagen sie den Betroffenen de facto direkt: Ihr seid uns egal! Lassen Sie uns hier und heute beginnen, etwas für die von Post-Covid-Betroffenen zu tun. Geben Sie den Menschen die erforderliche Unterstützung, die sie sich wünschen. Ich werbe hier namens meiner Fraktion ausdrücklich um Zustimmung für unseren Antrag, denn um auch hier RKI-Chef Wieler mal wieder zu zitieren: Es ist 5 nach 12!
Vielen Dank!