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Nicole Anger zu TOP 22: Verantwortung für ein gelingendes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen ernst- und wahrnehmen - Heimrichtlinie der Kinder- und Jugendhilfe endlich novellieren

Sehr geehrte Damen und Herren,

erinnern Sie sich noch an das Jahr 1994? Erinnern Sie sich, wie ihr Alltag damals aussah? Wenn ich an meinen zurückdenke, fällt mir folgendes ein: 

  • ich ging noch zur Schule, 
  • ich hatte kein Handy, keinen Computer oder Laptop, 
  • Google half mir nicht beim Lernen, 
  • der ÖPNV brachte mich an die allermeisten Orte, zu denen ich wollte, 
  • die UN-Kinderrechtskonvention war seit 4 Jahren in Kraft, aber ich kannte sie damals nicht, niemand sprach mit uns wirklich darüber

Seit 1994 hat sich inzwischen einiges verändert und ist anders geworden. Vergleichen wir unseren Alltag von heute mit dem von 1994, merken wir ziemlich schnell die Unterschiede. Die Rahmenbedingungen des Aufwachsens haben sich und werden sich weiter verändern. Denken wir da nur an Medien, den breiten Inklusionsbegriff und unsere Erkenntnisse zu Geschlechtsidentitäten. Das gesamte Miteinander unterliegt einer stetigen Veränderung und bedarf unserer Gestaltung.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der jede Person ganz selbstverständlich dazugehört bzw. dazugehören soll. Jede Person hat das Recht auf Teilhabe an unserer Gesellschaft. Dazu braucht es Rahmenbedingungen für ein gelingendes Aufwachsen. Diese werden für Kinder, Jugendliche, junge Menschen, die in der stationären Jugendhilfe ihr Zuhause haben, in der entsprechenden sog. Heimrichtlinie definiert. Nun ist diese Heimrichtlinie aber aus dem Jahr 1994 - die älteste Heimrichtlinie bundesweit. Die Kinder, die damals in der Jugendhilfe lebten, sind jetzt erwachsen. Das Aufwachsen stellt sich immer neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Die Heimrichtlinie, die fast 30 Jahre alt ist, tut das nicht.

Kinder und Jugendliche, die in der Kinder- und Jugendhilfe groß werden, haben aus unterschiedlichen Gründen spezielle Herausforderungen in ihrem Aufwachsen zu bewältigen. Die Jugendhilfe muss ihnen dafür alle Unterstützungsleistungen gewähren. Dabei sind die Fachkräfte und die Einrichtungen mit den verschiedenen Angeboten eine der wesentlichen Stützen. Sie geben Hilfestellungen, begleiten und betreuen und stärken die jungen Menschen im Finden ihres persönlichen Weges. Die Hilfen zur Erziehung haben eine ganz besondere Verantwortung. Ihre Verantwortung ist es, eine lebensweltorientierte Erziehungshilfe zu gewährleisten. Diese setzt am Alltag der jungen Menschen an und unterstützt und befähigt sie zur Bewältigung dessen.

Aber wie kann das gelingen, wenn die Arbeit der Träger auf einer Richtlinie des zuständigen Ministeriums basiert, welche aus dem letzten Jahrtausend ist. Ich gebe zu, es ist überspitzt formuliert, aber es fühlt sich für viele so an. 

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

die „Richtlinie - so der vollständige Titel - für Hilfen zur Erziehung, Eingliederungshilfen für behinderte Kinder und Jugendliche, Hilfen für junge Volljährige und den Schutz von Kindern und Jugendlichen in Familienpflege und in Einrichtungen entsprechend dem Kinder- und Jugendhilfegesetz“ datiert vom 30.05.1994 ist mittlerweile fernab der lebensweltlichen Bedingungen, in denen Kinder und Jugendliche heute aufwachsen. Schon allein der Titel der Richtlinie macht dies deutlich. Aber auch das Fehlen relevanter Alltagsbezüge wie Medien und Medienkompetenz, Kinderrechte, Beschwerderechte zeigen, wie dringend hier Handlungsbedarf besteht. Lassen Sie mich einmal auf einige wenige ausgewählte Punkte eingehen:

Stichwort: Defizitorientierung

Seit Langem ist dieser Ansatz in der Jugendhilfe abgewählt. Jeder junge Menschen hat Kompetenzen, hat Stärken. Diese gilt es zu verstärken und zu nutzen. Niemand möchte dauerhafte Stigmatisierung erfahren, weil nur die Defizite im Fokus stehen. Dazu ist es auch erforderlich, die pädagogische Handlungsebene zu reflektieren und Jugendhilfe auch als einen Aushandlungsprozess anzusehen. Womit wir gleich übergehen zum

Stichwort: Partizipation

Junge Menschen sind an allen sie betreffenden Entscheidung entsprechend zu beteiligen. Mitbestimmung im Alltag ist unerlässlich. Damit wird die Persönlichkeitsentwicklung unterstützt und sie können ihre Rechte verwirklichen. Sie erfahren früh demokratische Beteiligung. Gehört zu werden, ernst genommen zu werden, sind zwei wichtige Aspekte der Entwicklung. In einer Familie wird doch auch diskutiert, die Kinder und Jugendlichen werden einbezogen und es werden Kompromisse gefunden - zum Beispiel bei der Auswahl von einem Ausflug oder der Farbe der eigenen Zimmerwand. So läuft es zumindest bei uns zu Hause und in vielen Familien, die ich kenne. Und ich hoffe, Sie alle binden ihre Kinder ähnlich ein.

Lassen Sie uns endlich Kinder- und Jugendräte in allen stationären Einrichtungen einführen. Und auch den schon mehrfach angekündigten Landesheimrat einsetzen. Den Landesheimrat braucht es schon in Hinsicht auf die Selbstvertretungen nach §4a SGB VIII. Junge Menschen aus der Jugendhilfe müssen zu ihren Anliegen mitreden, mitplanen dürfen. Auch zur Weiterentwicklung dieser Heimrichtlinie müssen sie eingebunden werden. Ihr Lebensumfeld gilt es zu gestalten. Also tun wir das auch mit ihnen!

Und wenn dies nicht gelingt, braucht es verbriefte Beschwerderechte. Das nächste Stichwort.

Wir wissen alle, wie schwer es ist, mit Kritik, vor allem mit negativer Kritik umzugehen. Dennoch ist es unerlässlich, dass diese Raum bekommt. So muss es auch in der Richtlinie zu finden sein. Junge Menschen haben ein Recht darauf, sich zu beschweren. Wir müssen Kinder und Jugendliche einbinden und ihnen eine Stimme geben!

Ein Beschwerdemanagement ist in erster Linie ein Schutzinstrument und hat gleichzeitig den Vorteil, Demokratie zu fördern, denn „auch Demokratie will gelernt sein“. In der stationären Hilfe für Kinder und Jugendliche ist das nicht verbrieft, es gibt keine Beschwerdestrukturen - außer die Träger tun dies durch eigenen Antrieb. Und das ist schon ein Großteil von ihnen. Daher lassen Sie uns das endlich verbindlich regeln. Es braucht die formalen Strukturen zur Beschwerde (schon allein wegen der Betriebserlaubnis der Einrichtung), genauso wie die gelebte Kultur.

Stichwort: Medien

Ich habe es eingangs erwähnt, Mediennutzung und Medienkompetenz haben sich in den letzten Jahren massiv weiterentwickelt. Vielleicht nicht beides gleichermaßen gut. Aber schauen wir uns doch einmal hier im Parlament um - Handys, Laptops, Tablets und auch die ein oder andere Smartwatch sind hier vorzufinden. Ein Bild, das sich auch außerhalb des Hauses zeigt. 

Mobile Endgeräte sind mittlerweile nicht mehr aus unserer Gesellschaft wegzudenken. Es gibt im Bereich der Medien viel, das es 1994 noch nicht gab. Genauso geht es der Kinder- und Jugendhilfe. Kinder und Jugendliche wachsen mit den Medien auf. In einigen Schulen werden Tablets zur Verfügung gestellt, während der pandemiebedingten Schulschließungen musste online gelernt werden, und bei Hausaufgaben sind diverse Punkte online zu recherchieren. Und genau deswegen, aber nicht nur, muss ein gesunder Umgang mit den Medien erlernt werden - von Kindern und Jugendlichen aber auch von Fachkräften. Medienkompetenz muss gestärkt werden. Um die Mediennutzung eben nicht zu verteufeln, sondern zwischen selbstbestimmter Nutzung und dem Schutz vor Gefahren im Internet ausgewogen abzuwägen, muss dies in der Kinder- und Jugendhilfe verbindlich Niederschlag finden.

Stichwort: Gesunde Ernährung

Zu einem Aufwachsen und vor allem zu einem gesunden Aufwachsen gehört auch eine gesunde Ernährung. Das Verpflegungsgeld ist schon seit Jahren nicht mehr ausreichend und führt dazu, dass es in manchen Verselbstständigungsgruppen ab Donnerstag Nudeln mit Ketchup gibt. Dies wird sich mit den aktuell steigenden Lebensmittelkosten weiter verschärfen. Ich weiß, was Sie jetzt sagen, für die Verhandlung der Verpflegungskosten sind die kommunalen Jugendämter zuständig. Richtig. Dann wissen Sie auch, dass die Kostensätze der Träger nur alle 2 Jahre verhandelt werden. Also wer Anfang dieses Jahres neu verhandelt hat, ist jetzt mit der wachsenden Inflationsrate ziemlich aufgeschmissen.

Allein deswegen brauchen Träger und junge Menschen Unterstützung durch das Land. Da können wir die Kommunen und Träger als Land nicht allein lassen.

Aber ihnen und ebenso den Trägern fehlt die argumentative Grundlage für eben diese Verhandlung. Insofern muss über die Heimrichtlinie festgelegt werden, was gesunde Ernährung heißt und umfasst. Dann muss vor Ort der Verpflegungssatz angepasst werden. Wir müssen alle stationären Einrichtungen und die Bewohner*innen gleichwertig behandeln. Es darf hier nicht darauf ankommen, wie gut die Einrichtung mit dem zuständigen Jugendamt verhandeln kann.

Stichwort: Pflegefamilien

Pflegefamilien sind wichtige Partnerinnen in der Jugendhilfe. Sie bieten vor allem jüngeren Kindern eine familiäre Atmosphäre. Leider haben wir zu wenige Pflegefamilien. Die neue Dauerverbleibsanordnung gibt Pflegefamilien mehr Sicherheiten. Eine Trennung zwischen Pflegekind und Pflegefamilie wird somit verringert. Darüber hinaus brauchen wir auch eine verstärkte Entlastung für Pflegeeltern. Beides - die Stärkung der Pflegefamilien wie auch ihre Unterstützung bzw. Entlastung - muss sich jedoch auch in der zu novellierenden Heimrichtlinie wiederfinden. 

Stichworte: Gender sowie nicht-binäre, transidente Kinder und Jugendliche

Die Heimrichtlinie geht noch immer von einem binären Geschlechterverhältnis aus und unterscheidet allein zwischen Jungen und Mädchen. Ich bin froh, dass der Großteil der Gesellschaft und auch die meisten hier Anwesenden sich von dem Denken und Agieren in einer Zwei-Geschlechter-Ordnung entfernt haben und die verschiedenen Identitäten akzeptieren. Sie denken sie mittlerweile im politischen Handeln mit. Junge Menschen müssen beim Erkennen der eigenen geschlechtlichen Identität unterstützt werden, denn biologisches Geschlecht ist nicht gleich Geschlechtsidentität und Geschlechterrolle! Da hilft selbst das Aufzwängen von veralteten Rollenverständnissen nichts, wie sich einige im Plenarsaal das gern wünschen. 

Wir müssen stationäre Einrichtungen der Jugendhilfe dabei unterstützen, junge Menschen jeden Geschlechts und Genders entsprechend zu fördern und Ausgrenzung eine klare Absage zu erteilen. Dazu müssen auch entsprechende Schutzräume geschaffen werden und das geht schon bei den kleinen Dingen los, die für viele von uns selbstverständlich sind: Zum Beispiel abschließbare Toiletten und Bäder, die im besten Falle individuell zum Zimmer gehören oder aber in Wohngruppen vom Gang aus erreichbar sind. Und die alle nutzen dürfen - ohne Hinweise an der Tür.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

dieser Antrag fragt nicht nach Luxus, sondern er fordert Grundbedürfnisse ein, er stellt die Basis der Daseinsvorsorge für junge Menschen in der stationären Jugendhilfe dar. Ihrem Zuhause. Bedarfe der heutigen Generation sind andere als die der Generation 1994 und Folgejahre. Kinder wachsen und neue Generationen verändern die Gesellschaft - somit hätte auch die Heimrichtlinie mitwachsen und sich verändern müssen. Nur ist sie es nicht! Deswegen brauchen wir jetzt eine große Neuerung!

Ich bitte um Zustimmung zu unserem Antrag und setze auf einen schnellen Prozessbeginn.

Vielen Dank!